Früherziehung

Lange vor erziehungswissenschaftlichen, soziologischen, psychologischen oder anthropologischen Reflexionen über Kinder, Kindheit und Kindsein hat absichtsvolles Einwirken auf Heranwachsende in Form von Erziehung stattgefunden. Der Mensch als physiologische Frühgeburt, als sekundärer Nesthocker, als ein sozial verwiesenes und daher erziehungsbedürftiges Wesen ist von Anfang an existenziell von Pflege, Versorgung, Betreuung und sozialer Inklusion abhängig. Insb. in Form von erzieherischen Einwirkungen war es in vormodernen und modernen Sozietäten überlebensnotwendig, die nachfolgende Generation auf den aktuellen Stand soziokulturell integrativer Fähigkeiten, Fertigkeiten sowie geltender Werte und Normen zu bringen. Diese anthropologische Annahme einer quasi naturgesetzlichen intergenerationalen Wert- und Traditionsweitergabe in Form eines Generationenvertrages steht vor dem Hintergrund einer pluralistischen, individualisierten und spätmodernen Konstruktion von Gesellschaft und Individualität zunehmend zur Disposition. Metaerzählungen aus Philosophie, Religion, Mythos und Tradition, die tragende, gemeinsame und verbindliche Sinnstrukturen in relativ geschlossenen Kulturkreisen schaffen können und wodurch Werte, Verhaltensweisen, Inhalte und Formen von Erziehung sowie Vorstellungen von Kindheit und Kindsein eindeutig bestimmbar sind, verlieren deutlich an Orientierungsfunktion. Das ausgerufene „Ende der Erziehung“ (Giesecke 1985) und der seit der 1968er Kulturrevolution initiierte Wandel vom Befehls- zum Verhandlungshaushalt sowie die zunehmende Intimisierung des Erziehungsstils im Sinn des Übergangs von einer autoritär-hierarchischen Erziehung zu einer gleichberechtigten Beziehung ließ auch die institutionalisierte F. nicht unverändert. Doch erst die wenig schmeichelhaften Ergebnisse der ersten PISA-Studie im Jahr 2001 führten zu einem gewaltigen Reformprozess und infolge dessen zu einer grundlegenden Neuvermessung der bisherigen frühpädagogischen Antworten, warum Kinder wie und wofür zu erziehen seien und welchen Beitrag die institutionalisierte F. dazu leisten soll.

1. Begriffliche Verortung

Der Begriff F. stellt neben den Fundamentalkategorien der Betreuung, Förderung und Bildung eine tragende Dimensionen innerhalb der erziehungswissenschaftlichen Teildisziplin der Pädagogik der frühen Kindheit bzw. der Frühpädagogik dar; gleichzeitig kennzeichnet er auch ein wesentliches Aufgabenfeld in der frühpädagogischen Praxis, wobei hier zwischen

a) öffentlichen Hilfen zur innerfamilialen Erziehung und Betreuung (etwa materielle oder strukturelle Unterstützung) und

b) familienexternen Formaten der Betreuung, Bildung und Erziehung (etwa Krippen und Kindertagesstätten) differenziert werden kann.

Frühpädagogische Fragestellungen thematisieren ab dem Zeitpunkt werdender Elternschaft Belange der familialen Erziehung ebenso wie alle Formen institutioneller und semiformeller Erziehung, Betreuung, Prävention, Förderung und Bildung von Kindern bis maximal zum Ende des 13. Lebensjahres und beziehen „sich auf die Arbeit von pädagogischen Fachkräften in den Arbeitsfeldern Kindertageseinrichtungen und Grundschule und in Einrichtungen, die die Arbeit dieser Institutionen organisieren, begleiten, fördern, erforschen“ (Balluseck 2008: 15). Die Frühpädagogik befasst sich demnach

a) mit der kindheitspädagogischen Theoriebildung, der Programmatik sowie der Forschung,

b) mit der Qualifizierung und Professionalisierung von frühpädagogischen Fachpersonal sowie mit der Bildung von Eltern und Betreuungspersonen,

c) mit der Strukturierung und entwicklungsförderlichen Gestaltung der sozialen, kulturellen und ökologischen Umwelt des Kindes,

d) mit den gesellschaftlichen und soziokulturellen Rahmenbedingungen von Kindheit und schließlich

e) mit den ökonomischen, bildungs- und sozialpolitischen Voraussetzungen frühpädagogischer Betreuung, Erziehung und Bildung.

Im Unterschied zu Begriffen, Konzepten und Zugängen wie bspw. Vorschulerziehung, Frühförderung, Familienerziehung oder Elementarpädagogik, die jeweils nur Ausschnitte frühpädagogischer Einflussnahmen fokussieren, ist der Begriff Frühpädagogik wesentlich umfassender und akzentuiert das gesamte Spektrum institutionalisierter frühpädagogischer Aufgaben.

2. Historische Genese, Struktur und Organisation der Früherziehung

Obschon bereits Johann Amos Comenius mit dem „Informatorium der Mutterschul“ 1636 als erster eine differenzierte Abhandlung zur Anthropologie und Didaktik der F. vorlegte oder Johann Heinrich Pestalozzi mit seinem Entwurf der „sittlichen Elementarbildung“ 1799 die F. sozialpädagogisch verortete und als eine öffentlich zu verantwortende Angelegenheit einforderte, nahmen frühpädagogische Reflexion, Theoriebildung und gesellschaftliche Institutionalisierung erst im Zuge der Etablierung des bürgerlichen Familienmodells in der zweiten Hälfte des 18. Jh. ihren Anfang. Bes. um den sozialen Verwerfungen der Industrialisierung entgegenzuwirken, entstanden vor ungefähr 200 Jahren erste Formen der institutionalisierten F. etwa als Kinderkrippen, christliche Asyle, Warte-, Industrie- oder Strickschulen. Diese wurden vorwiegend sozial-caritativ, christlich-weltanschaulich und medizinisch-hygienisch begründet und dienten der Versorgung von deprivierten Kindern zumeist aus dem bildungsfernen und verarmten Arbeitermilieu. Parallel dazu entstanden Kleinkinderschulen für Kinder aus bürgerlichem Milieu, die ähnlich wie der 1840 von Friedrich Wilhelm August Fröbel konzipierte Kindergarten, als familienergänzende und -unterstützende, bildungsorientierte Einrichtungen geplant waren. Die im anbrechenden 20. Jh., dem „Jahrhundert des Kindes“ (Key 1905), prominent von F. W. A. Fröbel, Maria Montessori oder Rudolf Steiner vorgelegten reformpädagogischen Konzepte stellen die F. als „Teil umfassender, weltanschaulich-philosophisch begründeter Erziehungstheorien“ (Tietze 2011: 436) erstmals auf ein fachlich solides Fundament. Im Zuge der ersten Bildungsreform (Bildungspolitik) zu Beginn der 1960er Jahre hat dann auch das System der F. eine breite gesellschaftspolitische, bildungssoziologische und pädagogische Aufmerksamkeit erhalten und geriet in die Kritik der Reformer: Der in der Frühpädagogik bis dahin dominante, vererbungs- und reifungstheoretisch stark belastete Begabungsbegriff wurde aufgrund neuerer entwicklungspsychologischer Erkenntnisse durch den wesentlich plastischeren Lernbegriff abgelöst. Aus sozialisationstheoretischer Sicht wurde kritisiert, dass aufgrund ungleicher familialer Ressourcenausstattungen ohne eine Reform der F. bereits in frühester Kindheit die Voraussetzung für die Reproduktion von Chancenungleichheit institutionalisiert würde. Trotz hoher bildungstheoretischer Veränderungsbereitschaft und konzeptioneller Innovationsdynamik vollzog sich der Reformprozess auf bildungspolitischer Ebene wesentlich zurückhaltender und ebbte ohne große Veränderungen Mitte der 1970er Jahre ab. Zwar werden seit dem konstitutiven Strukturplan für das Bildungswesen des Deutschen Bildungsrates 1970 Tagestätten für Kinder – zumindest formell – als Teil des Bildungswesens verstanden, doch sind sie der Kinder- und Jugendhilfe zugeordnet. Dieser Bereich ist vorwiegend durch entwicklungsförderliche, kompensatorische und soziale Zielsetzungen charakterisiert, die sich durch Betreuung, Förderung und Erziehung realisieren, sich jedoch nicht im Bereich Bildung bewegen. Und Kinderkrippen, verstanden als Notfall-Tageseinrichtungen für Kinder bis zu drei Jahren, waren weder Thema der Reformdiskussion der 1960er Jahre noch bildungspolitischer Gegenstand des Deutschen Bildungsrates. Krippen als zentrale Einrichtungen im System öffentlich organisierter F. wurden auch nicht dem Bildungssektor zugerechnet, sondern galten seit jeher offiziell als Notangebot der Jugendhilfe für Kinder. Insb. durch den stark ausgeprägten Maternalismus, wonach die Mütter aufgrund ihrer biologischen Verfasstheit für die Erziehung der Kinder zuständig seien, sowie dem durch Psychoanalyse und damals eng verstandener Bindungstheorie untermauerten Monotropieprinzip, wonach nur durch die Betreuung der leiblichen Mutter eine förderliche Entwicklung der Kinder in den ersten Jahren gewährleistet sei, wurde in Politik, Gesellschaft und Öffentlichkeit die Vorstellung von der Schädlichkeit außerfamiliärer frühpädagogischer Betreuung vertreten. Während in der DDR bereits in den 1950er Jahren ein beinahe flächendeckendes Netz zur Betreuung von Kindern auch unter drei Jahren etabliert war, entwickelte sich das öffentlich finanzierte System der F. in der BRD und später im wiedervereinten Deutschland nur allmählich. Erst seit 1996 hat jedes Kind ab dem dritten Lebensjahr ein Recht auf einen Kindergartenplatz. Das TAG (1.1.2005), das KICK (1.10.2005) sowie das KiFöG (16.12.2008) schufen den rechtlichen Rahmen für einen umfassenden qualitativen sowie quantitativen Aus- und Umbau der institutionellen Kinderbetreuung, der sich hauptsächlich auf die Trias Krippe, Kindergarten und Hort bezieht. Während das TAG die Kommunen zur Bereitstellung bedarfsgerechter Plätze für Kinder von 0–14 Jahren in Tageseinrichtungen oder der gleichgestellten Tagespflege verpflichtet, eröffnet das KiFöG ab dem 1.8.2013 allen Kindern unter drei Jahren das Recht auf einen Krippenplatz. Zudem transformiert der Ausbau der Ganztagsbetreuung an Grundschulen die Horte zu einem ausdifferenzierten Spektrum flankierender, außerunterrichtlicher Arrangements. Neben dem Erziehungs-, Betreuungs- und seit 2003 auch dem Bildungsauftrag erweitert das KICK (Kinder- u. Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz) das Aufgabenspektrum um den Präventionsauftrag zum Schutz bei Kindeswohlgefährdung (Kindeswohl). Die Gründe für diese familien-, bildungs- und sozialpolitischen Reformen sind vielfältig: Sie sollen

a) den Abbau von sozialer Ungleichheit sowohl zwischen Milieus als auch zwischen den Geschlechtern realisieren, sie sollen

b) die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglichen, sie sollen

c) Integration und Inklusion sichern, sie sollen

d) das „Humankapital“ vorwiegend durch die Förderung von anschlussfähigen sprachlichen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Kompetenzen erhöhen sowie

e) zum Aufbau eines neuen Geschlechtsbewusstseins verhelfen.

Kritisch muss hier jedoch angemerkt werden, dass weder in der Reform der 1950er Jahre noch in der aktuellen Reform die bereits 1919 von dem polnischen Kinderarzt und Pädagogen Janusz Korczak eingeforderten und 1989 von der UNO ratifizierten Kinderrechtskonventionen als maßgebliche Argumentationsgrundlage für den sozial-, bildungs- und familienpolitisch motivierten Ausbau des Systems der F. dienten.

3. Anthropologischer Bezugsrahmen

Trotz dieser langen Tradition in der Frühpädagogik hat es eine unreflektierte, biografisch eingefärbte bzw. normativ verengte Interpretation von guter Kindheit verhindert, dass eine wissenschaftlich-objektive Auseinandersetzung mit dem Verständnis von Kindheit und den daraus folgenden rechtlichen, institutionellen und pädagogischen Implikationen geführt wurde. In der Kritik steht eine mängelorientierte, erwachsenenzentrierte Konstruktion von Kindheit, die Kindheit als nicht wesentlich mehr als ein entwicklungspsychologisches Durchgangsstadium versteht und Kinder als ontologisch zeitlose, apolitische, passive und in einer von der Erwachsenenwelt getrennten Schonraumidylle lebende Wesen versteht. Insofern steht auch das bisherige, von der pädagogischen Anthropologie erzeugte Kinderbild radikal zur Disposition. Dass das Kind erziehungsbedürftig ist und ohne erzieherische Zuwendung, die über die Grundversorgung hinausgeht, v. a. in den ersten Lebensjahren enormen Schaden nimmt, dies zeigen schon früh die Studien zur Hospitalismusforschung aus den 1950er Jahren des Psychoanalytikers René Spitz, Pionier der entwicklungspsychologischen Säuglingsforschung. Weitaus weniger Konsens indes ist bei der kulturanthropologischen Bestimmung des Warum, Wie und Wofür der kindlichen Erziehung festzustellen, denn hier ist die Frage nach dem jeweils aktuellen Menschen- und Kinderbild aufgeworfen. Menschenbilder sind soziohistorische Konstruktionen und enthalten Aussagen darüber, was der Mensch, seine Bestimmung und sein Wert ist. In Menschenbildern gerinnen Vorstellungen von gut, wahr, schön, richtig, normal etc.; sie dienen als Orientierungsmarken und strukturieren das alltägliche Handeln und Verhalten im Sinne einer sozialisierend-impliziten Pädagogik und legitimieren die Art, Weise und Richtung der erzieherischen Einwirkung im Sinne einer intentional-expliziten Pädagogik. Insofern ist die Diskussion um das Menschen- und Kinderbild in einem aufgeklärten pädagogischen Diskurs zwingend. Lange Zeit dominierte das Bild vom Kind als Mängelwesen den herrschenden Diskurs, und die (wissenschaftliche) Auseinandersetzung mit dem Phänomen Kindheit basierte auf einer unhinterfragten ontologischen Vorstellung vom Wesen des Kindes. Dieser Erklärung zufolge, die von einer ubiquitär-zeitlosen Natur des Kindes ausging, wurde Kindheit als biologisches Durchgangsstadium, als Stadium des Werdens aber Noch-Nicht-Seins gedeutet. Das Kind als physiologische Frühgeburt ist unselbständig, unvollkommen, unentwickelt, unwissend, unverantwortlich, erziehungsbedürftig – eben typisch kindlich. Diese anthropologisch begründete Vorstellung von der „natürlichen“ Minderwertigkeit von Kindern, die eine Parallelität von evolutionsbiologischen und soziokulturellen Entwicklungen unterstellt, steht dabei im hochgradigen Gegensatz zu den positiven Eigenschaften, die Erwachsenen zugeschrieben werden. Die hieraus entstehende Überzeugung, Kinder und Erwachsene verfügten über verschiedene Wesensarten, dient dann auch zur Rechtfertigung unterschiedlicher Ansprüche von Kindern und Erwachsenen bzw. leistet einer Ideologie Vorschub, die in immer wieder neuen Kontexten „natürliche“ Herrschaftsansprüche über andere sowie autoritäre Erziehungspraktiken legitimiert. Im Zuge spätmoderner Erosionstendenzen weicht dieses naturalistisch begründete Defizitmodell von Kindheit zunehmend einem anthropologisch begründeten Aktivitätsmodell, in dem die Handlungen, Fähigkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder betont werden und der Aspekt der Selbstbildung von Anfang an zentrale Beachtung erfährt. Im Unterschied zu Immanuel Kants Diktum, wonach der Mensch nur durch Erziehung zum Menschen werden kann, impliziert dieses möglichkeitsorientierte Menschenbild, dass das Kind nicht erst zum Menschen erzogen, sondern von Anfang an als Mensch in seinem je eigenen Bildungsprozess unterstützt werden muss. Vor dem Hintergrund, dass das Kind nicht mehr nur als homo educandus als erziehungsbedürftig und als homo educabilis als erziehungsfähig bestimmt wird, sondern von Anfang an auch als homo discens, als homo ludens, als homo docens usw. verstanden wird, das aktiv-konstruierend, reziprok interagierend, politisch eingebunden und sich multidimensional bildend entwickelt, zeitigt dieser grundlegende Paradigmenwechsel vom Defizit- hin zum Aktivitätsmodell seit den 1990er Jahren eine ernste Krise v. a. der F.

Durch die zunehmende Verschiebung von der Fremd- zur Selbstgestaltung, von der Erziehung hin zur eigensinnigen (Selbst-)Bildung ist, wie dies Ursula Stenger einschätzt, „Erziehung als Thema, insbesondere in der Frühpädagogik, aus den Diskursen nahezu verschwunden. Die Frage nach Bildung und Lernen dominiert die letzten Jahre, um nicht zu sagen die letzten Jahrzehnte“ (Stenger 2015: 39). Denn, übersteigt eine an Globalisierung, Heterogenität, Multikulturalismus und Diversität orientierte Pädagogik die westlich geprägte Konstruktion von gelingenden Lebensverläufen, dann steht sie einer erstaunlichen Varianz und Pluralität von Optionen gegenüber. Unhintergehbar wird deutlich, dass unter diesen Annahmen keine F. mehr zu denken ist, die sich auf ein einziges, in sich geschlossenes, positives Kinder- und Menschenbild zurückführen oder sich daraus ableiten lässt. Im Übrigen haben die historischen Grenzerfahrungen des 20. Jh. solche normativen Ableitungen endgültig diskreditiert und kompromittiert: „geschlossene Menschenbilder sind a priori antipädagogisch“ (Liebau 2012: 30). Zu fragen ist demnach nicht mehr so sehr, was die kindliche Natur ausmacht und das präskriptive Ziel von Erziehung darstellt, sondern vielmehr ist zu klären, welche Bildungs- und Entwicklungsbereiche unbedingt beachtet und für Eltern wie Kinder pädagogisch arrangiert werden müssen. Ausgehend von den grundlegenden kindlichen Entwicklungsdimensionen Erziehung, Bildung, Spiel, Lernen, Lehren und Sozialisation stellt dieses, von der pädagogischen Anthropologie ausdifferenzierte Spektrum an Desiderata das System der F. in Theorie, Forschung und Praxis sowie die darin involvierten Kinder vor gewaltige Herausforderungen.

4. Zusammenfassung und Ausblick

In ihrer gut 200jährigen Geschichte hat das System der öffentlich organisierten F. im letzten Jahrzehnt einen fulminanten Um- und Ausbau in einem bisher unerreichten Ausmaß erfahren. Auf der inhaltlichen Seite lässt sich bei den einstigen Nothilfe-, Bewahr- und Erziehungsanstalten mit ihrem Pflege-, Betreuungs- und Erziehungsauftrag eine Umformung hin zu Institutionen feststellen, in denen nun von Anfang an die ganzheitliche Bildung im Zentrum steht. Diese Fokussierung wirft u. a. die Frage auf, ob der Begriff der F. in Zukunft hierfür noch zutreffend und tragend ist. Die zunehmende Akzentuierung des Bildungsauftrages ist dabei, wie dargestellt, vorwiegend durch einen Wandel des anthropologischen Kinderbildes weg vom passiven Defizit- hin zu einem Aktivitätsmodell entstanden. Aufs Ganze gesehen hat der Bereich der F. – nach Jahrzenten der bildungspolitischen wie wissenschaftlichen Dethematisierung – erst seit dem Einsetzen der PISA-induzierten Reformwelle ab 2003 eine rasante Entwicklung in Theorie, Forschung und Praxis genommen: Die Zahl der frühpädagogischen Studiengänge an Hochschulen ist in wenigen Jahren von vier auf über 70 im Jahr 2015 hoch geschnellt, die erziehungswissenschaftliche Teildisziplin Frühpädagogik kann mittlerweile eigene theoretische, empirische und didaktische Zugänge zum Phänomen Kindheit vorweisen. Sie leistet durch die bis dato geringe Akademisierungsquote in der Ausbildung kindheitspädagogischer Fachkräfte in der Höhe von ca. 6 % in 2015 einen wichtigen Beitrag zum Wissenstransfer sowie zum Ausbau multiprofessioneller Teams in den frühpädagogischen Institutionen neuen Formats. Auch lassen sich erste Erfolge der familien- und arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen zur Steigerung der Frauenerwerbsquote, zum Abbau des Maternalismus sowie zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Arbeit und Familie durch den quantitativen Ausbau der Betreuungsplätze feststellen: Während 2006 lediglich ca. 5 % der ein- und 17 % der zweijährigen Kinder in einer außerfamiliären Betreuung waren, sind es 2013 bereits 23 % bzw. 46 % in Westdeutschland, in Ostdeutschland sogar 62 % bzw. 83 %. Die Bildungsbeteiligung der Drei- bis unter Sechsjährigen in Tageseinrichtungen und Tagespflege liegt nun bei über 95 %. Zudem wurde die Zahl der Fachkräfte, ohne dabei durch die Beschäftigung Nicht- oder unzureichend Qualifizierter eine Deprofessionalisierung im Feld der F. zu erzeugen, von 2006 bis 2013 um 40 % auf 440 232 Beschäftigte erhöht. Auf der anderen Seite jedoch lassen sich derzeit auch noch schlaglichtartig Optimierungsbereiche aufzeigen, denen in Zukunft vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte: Bei der Bildungsaspiration und -beteiligung lässt sich feststellen, dass sich die Erwartungen an eine gleiche Inanspruchnahme der Angebote ebenso wenig erfüllt hat wie die Erwartungen daran, dass der Ausbau des Systems fehlende Lern- und Bildungsgelegenheiten in der Familie und somit die herkunftsbedingte Reproduktion sozialer Ungleichheit ausgleichen könnte. Die „Illusion der Chancengleichheit“ (Bourdieu/Passeron 1971) vermochte auch die derzeitige Reform bisher nicht aufzulösen. Zudem, soll der enorme quantitative Ausbau des Systems der F. auch den qualitativen Ansprüchen, zuvorderst also den erhofften Bildungserfolgen der Kinder entsprechen, so verweist die Datenlage der frühpädagogischen Qualitätsforschung auf einen nicht zu überschätzenden Handlungsbedarf. Die repräsentative „Nationale Untersuchung zur Betreuung, Bildung und Erziehung im Kindesalter“ (Tietze u. a. 2013) attestiert dem bundesdeutschen System der Frühpädagogik eine allenfalls mittelmäßige Qualität, nur etwa 10 % der Institutionen liegen auf einem guten Niveau; in dem 15jährigen Vergleichszeitraum blieb die pädagogische Prozessqualität dabei unverändert. Diese ernüchternden Ergebnisse verweisen darauf, dass der Prozess des Ausbaus der F. noch lange nicht als abgeschlossen betrachtet werden darf und dass noch erhebliche sozialpolitische, wissenschaftliche und v. a. ökonomische Anstrengungen unternommen werden müssen, um die ethische Grundlage der frühpädagogischen Reform zu garantieren, nämlich für alle Kinder optimale Bildungsmöglichkeiten zu schaffen. Dabei wird die Einschätzung um gute Bildungsqualität und gelungene Bildungsreform in der F., dies ist unbenommen, zwangsläufig eine empirisch gestützte sein. Fraglich ist aber schon jetzt, wer über Erfolg und Qualität der bisherigen Reformanstrengungen entscheiden wird: die betroffenen Kinder oder die Bildungsökonomie?