Fortschritt

F. (progessus; progrès; progress; progresso) bezeichnet die in einer Folge von natürlichen, kulturellen oder politischen Ereignissen nachträglich erkannte, für die Gegenwart angenommene oder für die Zukunft erhoffte Entwicklung von Zuständen zum Besseren hin.

In dieser Bedeutung kommt der Begriff bereits bei den antiken Stoikern (Chrysipp, Frag. 530, SVF 3, 143.) sowie bei Cicero, Lukrez und Seneca (Nat. Quaest. Lib. VII, 25 und 30 ff.) vor, wobei er freilich auch den Sittenverfall, den Fortgang im Laster, bezeichnen kann. Renaissance und Humanismus, die sich selbst schon als Manifestationen eines F.s in der Geschichte (Geschichte, Geschichtsphilosophie) verstehen, bereiten den Topos auf seine neuzeitliche Verwendung vor. Hier ist es die sich ins Unabsehbare steigernde Dynamik des menschlichen Wissens und Könnens, die den F. zum zentralen Moment der Selbstauszeichnung des modernen Menschen werden lassen.

Das hat Kritiker zu der Annahme geführt, der „F.s-Glaube“ sei eine Erfindung der Moderne. Erst hier werde sie als selbstverständlich vorausgesetzt, sei tatsächlich aber verhängnisvoll und müsse durch entschiedene Abkehr überwunden werden. Das Problem dieser Abwehr liegt aber nicht nur darin, dass die F.s-Erwartung schon lange vor der Moderne verbreitet war; vielmehr bleibt die Vorstellung einer möglichen Überwindung des F.s-Denkens selbst noch mit der Erwartung eines F.s durch Erkenntnis und bessere Einsicht verbunden. Das gilt auch für den Fall der Annahme, man könne den angeblich dem F. verpflichteten „linearen“ Geschichtsbegriff durch die ältere Vorstellung von einem „zyklischen“ Zeitablauf ersetzen. Tatsächlich aber lassen sich die linearen Konzeptionen sowohl mit den mythischen wie auch mit den physikalischen Weltvorstellungen vereinen.

1. Die Unvermeidlichkeit der Progression

Unabhängig von zyklischen Modellen des Zeitverlaufs in Äonen oder Epochen, hat es der Mensch in seinem durch eigenes Tun zu bewältigenden Leben mit folgerichtigen Handlungsschritten zu tun. Sie müssen von ihrem Anfang über verschiedene Zwischenstationen bis zu einem vorgestellten Ende durchlaufen werden, wenn sie zum Ziel kommen sollen. Das lineare Modell des menschlichen Tuns tritt umso stärker hervor, je mehr Mittel zum Einsatz kommen; es erfordert umso größere Beachtung, je mehr Menschen kooperativ beteiligt sind; und es bekommt vermutlich einen eigenen Rang, sobald der in Absprachen in Anspruch genommene Handlungsraum über die Lebenszeit des Einzelnen hinausreicht. So können in das Vorankommen beim Aufbau staatlicher Ordnungen oder in der Realisierung großer Bauvorhaben der Bewässerung oder die Feinde abwehrenden Mauern die Lebenszeit vieler Generationen eingebunden sein, ohne dass bereits alles Leben und jegliches Dasein nach dem Modell eines linearen F.s verstanden werden muss. Hier bieten sich der Kreislauf der Gestirne, die Wiederkehr der Jahreszeiten oder der Weltalter als eine die F.e im Handeln umgreifende Ordnung an. So muss der Zyklus von Werden und Vergehen der Welt nicht im Widerspruch zu einer aufsteigenden Entwicklung eines Geschlechts oder eines Volkes stehen.

In der alttestamentlichen Schöpfungsgeschichte wird der Zyklus im Ablauf der Wochen- und Ruhetage in Anspruch genommen und scheint sich im Garten Eden im Kreislauf des Lebens zu wiederholen. Mit der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies, mit dem Gebot, sich die Erde untertan zu machen sowie mit den unterschiedlich bewerteten Arbeitsleistungen von Kain und Abel ist hingegen ein linear gedachter Prozess in Gang gesetzt. Im Text der „Genesis“ wird das durch die langen Geschlechterfolgen angezeigt; er findet in der Schilderung der Geschichte Noahs mit dem planvollen Bau der Arche seine Fortsetzung und geht spätestens mit der abrahamitischen Verheißung in die linearen Geschichtsschreibung des jüdischen Volkes (Judentum) über. Zyklische Naturauffassung und lineares F.s-Modell des menschlichen Handelns sind hier im Wirken Gottes wie auch in seinem Anspruch an den Menschen verbunden. Der Prediger im Buch „Kohelet“ sieht die Weisheit des Menschen darin, dass er sich in der wiederkehrenden Vergänglichkeit von allem seine eigenen, dem anspruchsvollen Willen Gottes entspr.en Lebensziele setzt.

So ist es auch im Denken der griechischen und römischen Antike. Doch hier tritt mit der zunehmenden Dominanz des Wissens ein Wandel ein. Wissen ist mit Aktivitäten des Menschen verbunden, die sowohl individuell wie auch kollektiv mit bewussten Anfängen, mit weiterer reichenden Einsichten und bestätigten Resultaten verknüpft sein können. Weitet es sich aus und bezieht es das Wissen vom Ablauf der Natur mit ein, fällt es zunehmend schwer, den Lauf der Dinge von der Progression der erkannten und benannten Ereignisse auszunehmen.

2. Wissen als Medium des Fortschritts

Das sich gesellschaftlich ausweitende Wissen lässt sich als die sachlich nächstliegende und geschichtlich vorrangige Grundvoraussetzung der F.s-Erwartung ansehen: Wissen ist ein Zustand, der ein Nicht-Wissen ablöst, aber aus eigenem Anspruch auf Erweiterung und Verbesserung des Wissens angelegt ist. Es bewährt und verändert sich in seinem Gebrauch, wächst in seinen Beständen und gewinnt weitere Träger hinzu. Auch seine Widerlegung erfolgt in der Form von Wissen. Mit dem ausdrücklichen Interesse an einer lehrhaften Verbreitung von Einsichten, Erkenntnissen und Theorien dringt die Denkfigur des F.s vor. Dafür gibt es Anhaltspunkte bereits bei Platon (Platon, Theaitetos 146 b) und Aristoteles (Soph. Elench. I, 34).

Mit der zunehmenden Institutionalisierung des Wissens in Disziplinen und Schulen wächst das Bewusstsein vom Zusammenhang von Wissen und methodischem Vorgehen. Das erklärt das bewusste Vordringen der Idee des F.s auch über den Abbruch antiker Wissenstraditionen hinaus, insb. dort, wo überlieferte Theoriebestände neu aufgenommen werden. Das ist mit der Wiederentdeckung der Schriften des Aristoteles bei Albertus Magnus und Thomas von Aquin (STh I-II, 97,1) der Fall. Erleichtert wird das durch die von Augustinus vorgetragene Konzeption eines säkular-linearen Zeitverlaufs nicht nur von der Schöpfung bis zum Opfertod Jesu, sondern auch für die weltliche Zeit danach. Eine Dynamisierung dieser Weltzeit erfolgt im 13. Jh. n. Chr. mit der Erwartung, die aus neuer Naturerfahrung gewonnenen Erkenntnisse könnten die säkulare Reichweite des Wissens auch in die Zukunft ausdehnen. So ist es bei Roger Bacon, der die aktive Rolle des Experimentierens mit Blick auf zukunftsträchtige Schlussfolgerung betont.

In Renaissance und Humanismus wird das auf die Wissenschaft konzentrierte Bewusstsein zur kulturell bestimmenden Kraft. Die breite Erschließung des künstlerischen, literarischen und philosophischen Erbes der Antike stimuliert die Idee einer durch eigene Aktivitäten geförderten Entwicklung des menschlichen Lebens. Sie manifestiert sich zunächst in den säkularen Leistungen der Ökonomie und der Kunst. Denkt man die Erfindung des Buchdrucks und die kurz darauf aktiv betriebene Entdeckung und Vermessung des Erdballs hinzu, versteht man auch das sich rasch ausbreitende Verlangen nach grundlegenden technischen, kulturellen und politischen Neuerungen. Die bereits Ende des 15. Jh. präsentierte Idee Giovanni Pico della Mirandolas einer alle Religions- und Schulstreitigkeiten überwindenden Konferenz in Rom, die von Erasmus genährte Hoffnung, der Torheit der Menschen, der Kriegslust der Fürsten und dem Unwissen der Menge könne Einhalt geboten werden, schließlich das mit der Reformation einhergehende Verlangen nach einem existenziellen Neubeginn des Lebens im Zeichen allg.er Bildung und neugeschaffener Institutionen, sind vom Bewusstsein eines Fortschreitens zum Besseren imprägniert.

3. Wissenschaft im Zeichen des Fortschritts

Mit den gegen Ende des 16. Jh. vollzogenen gesellschaftlichen Veränderungen hat sich insb. das Bewusstsein von der Rolle der Wissenschaft verändert. So innovativ die Debatten durch Jean Bodin, Justus Lipsius und Michel de Montaigne im Staatsrecht, in der Ethik und in der Fortführung der humanistischen Ziele auch sind: Unter dem Eindruck der künstlerischen und technischen Erfolge in den von Italien nach Mitteleuropa vordringenden Werkstätten, verlagert sich die Aufmerksamkeit auf die erfahrungsorientierte Erkenntnis der Natur. Noch bevor von ihr ein säkularer Optimismus ausgeht, der als historisch einzigartig bezeichnet werden kann, löst sie bei einem noch ganz an Aristoteles orientierten Denker wie Giordano Bruno, ein tief empfundenes Verlangen nach geistiger Erneuerung aus, die es den Menschen ermöglicht, die „Erdichtungen“ der Vergangenheit endlich hinter sich zu lassen, um in die „Hallen der Wahrheit“ (Bruno 1969: 72) einzutreten.

Nur ein Menschenalter später ist es Francis Bacon vorbehalten, als wirkungsmächtigem Anwalt der modernen F.s-Idee Aufmerksamkeit und Anhänger zu finden. Noch Immanuel Kant macht aus F. Bacons Vorwort zu seiner Instauratio magna das Motto seiner „Kritik der reinen Vernunft“: Der Wissenschaft gehe es nicht um „Schulrichtung und Lehrmeinung“, sie schaffe vielmehr die „Grundlagen“ der „menschlichen Wohlfahrt und Würde“ (Kant 1983, Bd. 2: 7). F. Bacon betont, dass erst die „mechanischen Erfindungen“ von Schießpulver, Kompass und Buchdruck die Veränderungen ermöglicht haben, die „großen F.“ (magnum progressus) erlauben. Der liegt für ihn auch darin, dass sie der angemaßten Autorität von Staat und Kirche die Grundlagen entziehen. Dadurch machen sie Platz für die „Wohltaten“, die der „ganzen Menschheit“ (universum genus humanum) zugutekommen (Bacon 1897: 128).

Den Zusammenhang zwischen Mensch und Natur sieht F. Bacon solange als gesichert an, als der Mensch seine Wissenschaft auf eine der Natur folgende Praxis gründet und davon ablässt, nur seinen Geist zu bewundern. Damit ist eine Alternative angedeutet, die in den nachfolgenden Jahrzehnten im Hintergrund der Querelle des Anciens et des Modernes wirksam ist: Mit Blick auf den Geist haben die Denker der Antike, so sagen die einen, die Voraussetzungen für den F. der Menschheit geschaffen; doch in der Erkenntnis und zunehmenden Beherrschung der Natur, so meinen die anderen, muss man den Modernen die Meisterschaft zuerkennen. Diese im 17. Jh. zahllose Autoren beschäftigende Kontroverse wirkt bis heute nach, obgleich man sie durch die Auszeichnung der aktiven Rolle der Kritik, vornehmlich durch Pierre Bayles erstmals 1696 erschienenes „Dictionnaire historique et critique“, als sachlich beigelegt ansehen kann: Die geistige Kraft der Kritik bezieht alles ein: den Umgang mit der Natur, die damit ermöglichten F.e und schließlich die Bewertung des Erreichten. Darin kann sie nur überzeugen, solange sie selbstkritisch verfährt. Indem die Kritik als „Probirstein“ (Kant 1983, Bd. 2: 104) der Wahrheit fungiert, ist sie eine selbst auf F. gegründete Instanz der Prüfung der F.e im Einzelnen.

Die Zahl der Gelehrten, die F. Bacon mit dem Programm seiner „Instauratio“ in seinen Bann zieht, reicht von René Descartes über Blaise Pascal bis hin zu den großen Aufklärern des 18. Jh. Selbst Baruch de Spinoza und Gottfried Wilhelm Leibniz können sich seinem Einfluss nicht entziehen. G. W. Leibniz warnt zwar vor dem Missverständnis einer Mechanik des F.s und hält die Erwartung eines „Sieges über die Natur“ für eine maßlose Überschätzung des Menschen, dem ein Begriff von der unendlichen Überlegenheit Gottes fehlt; doch er räumt der um Erkenntnis bemühten menschlichen Gattung die Möglichkeit zu einem „kontinuierlichen Prozess des Fortschritts“ ein (Leibniz 2013: 21). Auf diesen Prozess hatte B. de Spinoza 1670 seinen „Tractatus theologico-politicus“ gegründet, mit der doppelten Erwartung einer von Vorurteilen befreiten Interpretation der Bibel und einer politische F.e ermöglichenden freiheitlichen Praxis.

4. Die politische Dimension des Fortschritts

Dass sich auf die F.e des Wissens und des technischen Könnens auch konkrete institutionelle Erwartungen gründen lassen, belegen die politischen Schriften John Lockes, wenn er aus den Erfahrungen der englischen Geschichte die strikte Teilung der Gewalten, die Rechtssicherheit und eine Garantie der persönlichen Freiheit ableitet. In seinen „Two Treatises of Government“ von 1690 grenzt er sich im ersten Teil von einem noch der biblischen Überlieferung verpflichteten Anwalt der gottgegebenen Rechte des Königs ab, um sich im zweiten Teil der Darstellung der politischen Prinzipien zuzuwenden, die für seine Zeit sowie für die durch sie eröffnete Zukunft gelten. Den „falschen Grundsätzen“ der älteren Lehren stellt J. Locke die „wahren“, weil wirklich begründeten Ziele der Politik entgegen. So wird schon in der Darstellungsform der F. illustriert, den Politik zu nehmen hat, wenn sie in der Zukunft bestehen will.

In Charles de Montesquieus „L’Esprit des Lois“ scheint zunächst alles auf die Tradition ältester Staatslehren gegründet. Aber die Emphase, mit der die Bindung der Politik an die Bedingungen der Natur beschworen wird, dient auch dem Interesse an den neuzeitlichen Naturwissenschaften. Mit seinem Plädoyer für die Gewaltenteilung verschärft der Autor die Argumente J. Lockes und verstärkt die Forderung nach Veränderungen, die den fortgeschritten Einsichten nachkommen.

Während J. Locke und C. de Montesquieu primär an innerstaatlichen Reformen interessiert sind, zielt das in der ganzen Anlage auf F. setzende „Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe“ des Abbé de Saint Pierre auf einen grundsätzlichen Wandel im Verhältnis der Staaten untereinander. In der Hoffnung auf eine dauerhafte Beilegung der Kriege zwischen den christlichen Fürsten Europas schlägt der Verfasser eine auf das Natur- und Völkerrecht gegründete, weit über die alte Reichsverfassung hinausgehende Friedensordnung vor. Sie herzustellen, hätte einen unerhörten politischen F. bedeutet. Doch dem stand die alte monarchische Ordnung entgegen. Und so geriet das 1712 vorgeschlagene „Projekt“ schnell in Vergessenheit.

Als Jean-Jacques Rousseau den Plan des Abbé de Saint Pierre fast 50 Jahre später einem breiteren Publikum bekannt macht, hat sich die öffentliche Bewertung des Absolutismus bereits gewandelt. Und als I. Kant 1795 seinen „Entwurf zum ewigen Frieden“ publiziert, hatten die englischen Kronkolonien mit der Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika ihre Unabhängigkeit erlangt und in Frankreich war die Monarchie einer Republik gewichen. Das wird mit guten Gründen als F. erfahren, dem sich sowohl die Anhänger J.-J. Rousseaus wie auch I. Kants politischer Philosophie verpflichtet sehen. Die geschichtlich erlebte und positiv beurteilte gesellschaftliche Bewegung verstärkt den Nachdruck, mit dem der F. in der Politik, nunmehr auf alle Lebensbereiche übertragen wird. Der für das 18. Jh. allg. verbreitete Terminus für diese Form des F.s-Denkens ist „Aufklärung“. J.-J. Rousseaus erste Preisschrift von 1750 erregt Aufsehen, weil sich der Autor dem F.s-Optimismus des siècle des lumières entgegenstellt. Nach Art antiker Autoren deutet er seine Gegenwart als Zeitalter des kulturellen Zerfalls und propagiert die „Rückkehr zur Natur“. Doch die Forderung, die im Fall einer gelingenden Rückkehr ebenfalls in einen durch die Kritik erzielten F. einmünden müsste, gibt J.-J. Rousseau in seinen ökonomischen, politischen und pädagogischen Schriften auf. Mit seiner dennoch verschärften Kritik an der vom Klerus gestützten höfischen Gesellschaft wird er zum Anwalt einer entschiedenen Abkehr vom Ancien Régime und damit posthum zum Wortführer der Französischen Revolution.

Für I. Kant, der bereits die Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika begrüßt und die Revolution in Paris gegen die Kritik seiner Zeitgenossen verteidigt, seien beide Großereignisse eminente F.e des Rechts. Überdies wertet er die Vorgänge in Paris als „Geschichtszeichen“ (Kant 1983, Bd. 6: 357) für einen moralischen F., weil sie im „Gemüte“ (Kant 1983, Bd. 6: 358) der Betrachter eine unverlierbare moralische Anteilnahme und folglich einen F. in der Humanisierung auslösen. So gibt es bei I. Kant nicht nur den zivilisatorischen F. in den Rechtsverhältnissen, dem ein kultivierender F. im aufgeklärten Umgang der Menschen mit sich und ihresgleichen folgen sollte: I. Kant ist bereit, sogar im nicht-empirischen moralischen Selbstverhältnis eine Steigerung für möglich zu halten, deren Folgen sich auch in einer Gefühl und Vernunft (Vernunft – Verstand) verbindenden Ausübung der Religion zeigen können. Im strikten Sinn aber kann es nur einen technischen, pragmatischen, zivilisatorischen und kulturellen F. geben. Im Zeichen des Menschen- und Weltbürgerrechts sollte er in die Schaffung eines Weltfriedens münden, der durch einen Bund föderaler Staaten vorbereitet wird, in dem sich republikanisch verfasste Gemeinwesen ohne jeden Vorbehalt und ohne Rückgriff auf einen für alle verbindlichen religiösen Glauben, auf einen friedlichen Umgang verständigen. Ein solcher Endzustand lässt sich nur durch friedliche, die Sphäre des Rechts ausschöpfende und erweiternde Evolution erreichen.

Dabei bleibt I. Kant ältesten Traditionen des F.s-Denkens verpflichtet, indem er natürliche und kulturelle Entwicklungsprozesse keiner kategorialen Trennung unterwirft. Zwar muss sich der Mensch aus eigener Kraft aus den Naturbedingungen, aus denen er stammt und denen er dauerhaft verbunden bleibt, herausarbeiten; aber schon der Weg dahin ist durch einen Entwicklungsprozess in der Natur gekennzeichnet. Schon in seiner frühen Kosmologie von 1755 hatte I. Kant die „Revolution“ (Kant 1983, Bd. 1: 303) der Sternenbewegungen mit der linearen Entfaltung des Lebens auf der Erde und der Entstehung der menschlichen Vernunft zu verbinden gewusst.

5. Fortschritt als säkularisierter Glauben

Der als Anwalt des F.es auftretende Imperator Napoleon hat eine bis weit in das 20. Jh. reichende nationalistische Regression ausgelöst. Das hat dazu geführt, I. Kants nüchtern kalkulierte Friedensschrift als bloßen „Traum“ abzutun. Umso stärker wurde die ohnehin mit dem Wissenserwerb verbundene F.s-Erwartung zum Generalmotiv alles wissenschaftlichen, technischen und politischen Denkens. Bei dem Aufklärer Étienne de Condillac und den wenig später direkt mit den revolutionären Impulsen verbundenen Theoretikern wie Thomas Paine, dem Marquis de Condorcet, und Auguste Comte ist ihr auf die positiven Erträge bezogenes Wissenschaftsverständnis nicht nur mit der Gewissheit einer progressiven Verbesserung der Lebensverhältnisse verknüpft. Es werden auch Geschichtsmodelle entworfen, die einen sich über Jahrtausende erstreckenden F. unterstellen. Er soll sich in der Abfolge von drei Stadien vollziehen, die von einem „religiösen“ Zeitalter ausgehen und von einer „metaphysischen“ Epoche abgelöst werden, um schließlich in die ganz auf „positives Wissen“ gegründete Gegenwart zu führen. Zwar kann das „Drei Stadien-Gesetz“ T. Paines und A. Comtes als in allen Annahmen widerlegt angesehen werden, denn Religion, spekulative Philosophie und positive Wissenschaft treten bis in die Gegenwart gleichzeitig auf. Doch die basale Überzeugung von einem sich spätestens mit dem 19. Jh. vollziehenden Übergang in eine bloß auf empirische Erkenntnis gestützte, säkulare Weltanschauung hat sich bis ins 21. Jh. gehalten. Sie wird, als ein allein auf die Wissenschaft, die Technik und den wachsenden Komfort gestützter Glauben an die Optimierung der Lebensverhältnisse auch deshalb bereitwillig angenommen, weil die Erwartung besteht, man könne damit den für sinnlos gehaltenen Streitfragen des religiösen Glaubens entkommen. Diese Annahme mag aus der regionalen Sicht einiger westeuropäischer Staaten berechtigt erscheinen; im globalen Rahmen aber lässt sie sich nicht bestätigen. Die Hoffnung auf einen schwindenden Glauben im Zeitalter der Positivität ist somit selbst nicht mehr als ein Glauben an einen durch Glaubensverluste charakterisierten F.

Noch der Ablauf der jüngeren Geschichte belegt das Gegenteil. Denn zu den überlieferten und sich ständig vervielfältigenden Formen des religiösen Glaubens sind die angeblich auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhenden nationalistischen, rassistischen und kommunistischen Ideologien hinzugekommen. Sie versuchen ihre Überzeugungskraft nicht zuletzt dadurch zu verstärken, dass sie sich auf fortgeschrittene wissenschaftliche Einsichten berufen und modernste Technologien in Anspruch nehmen.

Eine ganz andere Art der modernen Ausweitung des F.s-Gedankens findet sich in Georg Wilhelm Friedrich Hegels Implantation des F.s in die Logik des Geistes, die sich in der Form einer aus sich selbst erzeugten Dialektik, bereits die Entfaltung der Natur und schließlich auch die Entwicklung des Menschen im Gang der Weltgeschichte vorantreibt. Dem bleibt Charles Darwin nahe, wenn er die von G. W. Leibniz noch ganz auf den Entwicklungsgang einzelner Lebewesen vom Keim bis zum reifen Individuum bezogene und erst von I. Kant als eine den gewaltsamen politischen Revolutionen entgegengestellte politisch-kulturelle Alternative verstandene Evolution als eine durch empirische Beobachtung freigelegte Entwicklungsdynamik allen Lebens beschreibt. Die Evolution der Arten ist zwar nicht durch vorgegebene Handlungsziele bestimmt, bleibt aber dem Modell des F.s im Wissen dadurch verbunden, dass der Diversifikation der Lebewesen ein, wenn auch unbewusster, Prozess des Erfahrungsgewinns unterstellt wird, der zur besseren Anpassung an die jeweilige Umgebung sowie zur Überlegenheit gegenüber anderen Individuen und Arten führt. Der F. in der Evolution des Lebens kann nur in einer mechanischen Auslese der jeweils besser angepassten Lebewesen bestehen. Im Ganzen wird er heute als Komplexitätsgewinn beschrieben.

Diese Deutung wird im 20. Jh. auch zum Verständnis sozialer Prozesse herangezogen. F. erscheint dann als Zunahme der Selbstreferenz sozialer Systeme (Systemtheorie), was Soziologen veranlasst, nicht nur auf die Parallelen zur biologischen Evolutionstheorie, sondern auch zur Systemlogik G. W. F. Hegels zu verweisen.

Friedrich Nietzsche, der als Kulturkritiker (Kulturkritik) eher auf das organologische Model kultureller Renaissancen setzt, und, anders als etwa Karl Marx und Friedrich Engels, nicht zu den emphatischen Vertretern eines allg.en Menschheits-F.s gehört, bleibt ihm in seiner, trotz aller Vorbehalte festgehaltenen, Anhänglichkeit an das wissenschaftliche Wissen skeptisch verbunden. Umso stärker tritt das F.s-Motiv in seiner These vom „Tod Gottes“, im Prospekt des „Übermenschen“ und dann, in exemplarischer Konzentration auf die Lebensführung des Einzelnen, im Motiv der Selbst-Überwindung hervor. Zugl. hängt er dem Gedanken einer „ewigen Wiederkehr des Gleichen“ nach und ist insofern ein weiteres Beispiel für die bereits in der Antike artikulierte Überzeugung von der Kompatibilität zyklischer Weltkonzeptionen mit linearen Zukunftserwartungen. Das hat es F.s-Kritikern ermöglicht, sich auf F. Nietzsche zu berufen, während er v. a. den „Schaffenden“, wie er es nennt, also den auf ihre eigene Produktivität setzenden Künstlernaturen neue Zuversicht gegeben hat.

6. Historische Verunsicherung und begriffliche Klärung

Die Erschütterung durch die Ereignisse des Ersten Weltkriegs hat dem allg. verbreiteten F.s-Optimismus ein Ende gesetzt. Die nachfolgenden Erfahrungen mit dem Zusammenbruch der gewohnten politischen Ordnung, mit den Verbrechen totalitärer Herrschaft (Totalitarismus), dem Zweiten Weltkrieg, der atomaren Bedrohung und schließlich im Dauerzustand der weltweiten ökologischen Krise, haben die das 18. und 19. Jh. dominierende Zuversicht nicht mehr aufkommen lassen. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno kamen zu der naheliegenden Diagnose, im F. liege die „Tendenz zur Selbstvernichtung“ (Horkheimer/Adorno 1970: 7). Das Urteil machte Schule und wird nicht selten als Gleichung verstanden, so als führe der F. notwendig auf das Ende der Menschheit zu. Gleichwohl gab und gibt es nach wie vor Anwälte der F.s-Idee; einige von ihnen sehen sich, wie Karl Jaspers und Karl Raimund Popper, gerade angesichts der politischen Verwerfungen zu einem entschlossenen Vertrauen in die Kräfte der Vernunft veranlasst. Gleichwohl ist die F.s-Kritik zu einem dominieren Thema in der Literatur des 20. Jh. geworden.

Darin liegt selbst schon ein Gewinn an historischer Einsicht. Denn in der Geschichte der Menschheit hat es nie Anlass gegeben, auf eine Automatik fortschreitender Verbesserung zu setzen. Auf sieben gute Jahre sind schon im AT sieben magere Jahre gefolgt; die Blüte Athens hat den Niedergang der Stadt erst zu einem tragischen Geschehen werden lassen; Renaissance und Humanismus sind ursächlich für den Dreißigjährigen Krieg. Selbst einhellig begrüßte Errungenschaften der Technik, wie etwa die des Buchdrucks, hatten auch eine Verrohung der öffentlichen Sitten zur Folge. Das wiederholt sich derzeit im globalen Maßstab mit der Digitalisierung der Kommunikation, die insb. auch das bedroht, was sie an Vorzügen bietet.

Neu sind die Zweifel, ob der Mensch überhaupt dem F. gewachsen ist, den er selbst in Gang gesetzt hat. Neu sind auch die Empfehlungen, auf eigene Ansprüche verzichten und den Menschen dem Selbstlauf der von ihm in Gang gesetzten technischen Innovationen zu überlassen. Doch es ist weder zu erwarten noch wäre es zu begrüßen, dass sich der Mensch dem Lauf der Dinge einfach überlässt. Aber Zurückhaltung und Bescheidenheit im Anspruch auf seinen eigenen Beitrag zur Gestaltung seiner Welt sind angebracht, erst recht, wenn der Mensch erkennt, dass er in seiner eigenen Logik des Lernens und des Wissens auf einen F. angelegt ist, der sich keineswegs auch erfüllen muss.

Zu den wichtigsten Beiträgen zur F.s-Diskussion im 20. Jh. gehört die Erinnerung an die Kreisprozesse der Natur, aus denen, zwischen Geburt und Tod, auch das menschliche Leben besteht. Hier kommt Karl Löwiths „Kritik der Geschichtsphilosophie“ (1983) bes. Bedeutung zu. Doch man wird darin schon deshalb keine verbindliche Alternative zum F.s-Bewusstsein des Menschen ausmachen können, weil die immanente Progressivität des Wissens selbst erst im individuellen Auf und Ab des zyklisch organisierten Lebens entsteht. Aber ein guter Grund, das menschliche Dasein vornehmlich unter der Voraussetzung erhoffter F.e zu bewerten, liegt darin doch.