Failed state

1. Definition

F. s. bezeichnet einen Staat, der insofern „gescheitert“ ist, als er nicht oder nicht mehr dazu in der Lage ist, wesentliche Staatsfunktionen auszuüben. Zu diesen grundlegenden Funktionen zählen insb. das staatliche Gewaltmonopol und die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung; diese sind wiederum Voraussetzungen für die Wahrnehmung zahlreicher weiterer Staatsfunktionen wie der verbindlichen Durchsetzung allg.er Normen sowie des Unterhalts von Infrastruktur und allg.er Daseinsvorsorge. Die Vorstufe eines f. s. wird als failing state, der dorthin führende Prozess als state failure oder Staatszerfall bezeichnet.

Die Bezeichnung f. s. bezieht sich ausschließlich auf die faktische Leistungsfähigkeit des betreffenden Staates und ist unabhängig von seinem völker- oder verfassungsrechtlichen Status. Ein Staat, der von keinem oder nur wenigen anderen Staaten als ein solcher anerkannt wird, aber zur effektiven Wahrnehmung von Staatsfunktionen in der Lage ist, ist nicht als f. s. zu qualifizieren. State failure wird i. d. R. als ein im Inneren ablaufender Prozess verstanden und nicht im Sinne einer von außen herbeigeführten Staatszerstörung, etwa durch militärische Eroberung durch einen anderen Staat. Ein zirkuläres Verhältnis besteht zwischen Bürgerkriegen und Staatszerfall, bei dem das Vorhandensein einer Variable die andere befördert. F. s.s gelten als permissives Umfeld für Terrorismus, Piraterie und andere Formen der organisierten Kriminalität, häufig mit nachteiligen Auswirkungen auf andere Länder. Staatszerfall ist auch insofern über das jeweils betroffene Land hinaus problematisch, da jede regionale und internationale Ordnung auf funktionierende staatliche Strukturen als Fundament angewiesen sind – jedenfalls solange, als keine den heutigen Rahmenbedingungen angemessenen Alternativen zur Staatlichkeit erkennbar sind.

2. Entwicklung

F. s.s und state failure gehören zu den vergleichsweise jungen Gegenständen der internationalen Politik, des internationalen Rechts und der Politikwissenschaft. Das Thema ist sehr viel stärker von außen- und entwicklungspolitischen Praktikern, Stiftungen und Think Tanks als von universitärer Forschung geprägt. Der Begriff wird seit den frühen 1990er Jahren verwendet. Das Phänomen gescheiterter Staaten ist aber keineswegs neu, wie etwa in einem der ersten Texte behauptet, die den Ausdruck f. s. verwendeten (Helman/Ratner 1992/93: 3). Im späten 19. Jh. hätten z. B. China oder das Osmanische Reich mit einiger Berechtigung als failing states bezeichnet werden können. Doch auch wenn f. s.s durch die Entwicklungsforschung zuvor schon ansatzweise sozialwissenschaftlich erfasst worden waren, wurden sie als solche erst nach dem Ende des Kalten Krieges in größerem Umfang problematisiert. Die seit den 1990er Jahren gestiegene Aufmerksamkeit hängt eng mit dem ebenfalls gewachsenen Bewusstsein für eine durch den Globalisierungsprozess „geschrumpfte“ und stärker interdependente Welt zusammen. Die Auswirkungen von Staatszerfall rückten sowohl in der medialen Vermittlung als auch in ihren konkreten Effekten stärker an die wohlhabenden Länder der sog.en OECD-Welt heran, etwa in Gestalt der Flucht (Flucht und Vertreibung) von Menschen aus solchen Ländern, in denen staatliche Strukturen zusammengebrochen waren.

Anfang der 1990er Jahre begann der damals nicht durch den Antagonismus von Washington und Moskau blockierte Sicherheitsrat der UNO sich verstärkt mit Bürgerkriegen als einem Problem für die internationale Sicherheit zu befassen. Waren UN-Friedensmissionen bei inneren Konflikten während des Kalten Krieges noch seltene Ausnahmen gewesen, so wurde die Beilegung solcher Konflikte nun zu einer der zentralen Aufgaben der UNO (die sie freilich bei fehlendem Willen der maßgeblichen Staaten nur bedingt erfüllen konnte). Im Juni 1992 legte der damalige UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali seinen Bericht „An Agenda for Peace“ (1992) vor: Darin ist zwar noch nicht ausdrücklich von f. s.s die Rede, doch der Sache nach wird state failure als ein friedensgefährdendes Problem behandelt, dem eine „präventive Diplomatie“ (Boutros-Ghali 1992) vorbeugen sollte. Jugoslawien, Somalia und Ruanda waren in den 1990er Jahre die wohl am stärksten wahrgenommenen Fälle, in denen Staatszerfall zu katastrophalen Folgen für die jeweilige Bevölkerung führte. Trotz gegenteiliger Absichtserklärungen fanden weder die UNO noch die Staatengemeinschaft probate Mittel gegen diese schädlichen Auswirkungen.

Während gescheiterte Staaten in den 1990er Jahren noch v. a. unter humanitären und entwicklungspolitischen Gesichtspunkten thematisiert wurden, folgte den Terrorakten des 11.9.2001 insb. in den USA eine sicherheitspolitische Wende. Da die Angriffe in New York und Washington von einer nicht-staatlichen Gruppe ausgeführt wurden, die zumindest teilweise vom destabilisierten Afghanistan aus operierte, rückten f. s.s als Operationsgebiet und Rückzugsraum für Terrorgruppen in den Fokus der Außen- und Sicherheitspolitik der USA.

Ein Novum stellte die Beschäftigung mit f. s.s insofern dar, als traditionell nur militärisch starke Staaten mit revisionistischen oder revolutionären Absichten als gefährlich für die eigene Sicherheit gegolten hatten, nicht aber die Schwäche von scheiternden Staaten. Die Nationale Sicherheitsstrategie der USA aus dem Jahr 2002 („Bush-Doktrin“) hielt zum Problem fest: „America is now threatened less by conquering states than we are by failing ones“ (Bush 2002: 1). Auch die im Folgejahr veröffentlichte Europäische Sicherheitsstrategie erklärte das Scheitern von Staaten zu einer Hauptbedrohung: „Schlechte Staatsführung, d. h. Korruption, Machtmissbrauch, schwache Institutionen und mangelnde Rechenschaftspflicht sowie zivile Konflikte zersetzen Staaten von innen heraus. […] Das Scheitern eines Staates […] ist ein alarmierendes Phänomen, das die globale Politikgestaltung untergräbt und die regionale Instabilität vergrößert“ (Europäischer Rat 2003: 4).

Die Beschäftigung mit f. s.s hat ihren vorläufigen Höhepunkt möglicherweise in den 2000er Jahren überschritten. Mit der sich in der Mitte der 2010er Jahre abzeichnenden Wiederkehr von Konfliktkonstellationen zwischen Groß- und Regionalmächten sowie der gewachsenen Skepsis, Probleme des Staatszerfalls von außen lösen zu können, scheint in westlichen Staaten das Interesse am Thema eher zurückzugehen, ohne dass das Problem weniger virulent geworden wäre.

3. Definitionen und konzeptionelle Fragen

Es gibt keine allg. akzeptierte Definition dessen, was einen f. s. ausmacht, oder an welchen Kriterien sich das Scheitern eines Staates bemessen ließe. Konsens scheint nur dahingehend zu bestehen, dass es sich beim „Scheitern“ eines Staates nicht um eine binäre Entweder-oder-Codierung, sondern um eine relative Größe auf einem Kontinuum handelt. Dieses Kontinuum reicht vom umfassend „funktionierenden“ Staat bis hin zum kollabierten, der zwar noch auf dem Papier besteht, aber ohne handlungsfähige Organe und ohne physischen Schutz für seine Bürger ist.

Verschiedene Stellen haben sich um eine systematische Herangehensweise an das Problem der f. s.s und um deren Klassifizierung bemüht. Viel beachtet wird der seit 2005 jährlich von der in Washington ansässigen privaten Stiftung Fund for Peace erstellte und in der Zeitschrift FP veröffentlichte „Fragile States Index“ (FSI), der bis 2013 den Titel „Failed States Index“ trug. Dieser Index stuft 178 Staaten der Erde anhand einer in zwölf Kategorien vergebenen Punktezahl nach ihrer Stabilität ein. Ein ideal funktionierender Staat käme auf eine Punktezahl von 0, ein vollständig gescheiterter auf 120. Die Kategorien umfassen neben der Existenz gewaltsamer Konflikte und der Effektivität des Regierungshandelns u. a. auch die demographische Entwicklung, Einkommensverteilung, Gesundheitsversorgung sowie den Stand der Bürger- und Menschenrechte in einem Land. In dem für das Jahr 2016 publizierten FSI hat Finnland die niedrigste Punktezahl und ist damit am weitesten von der Einstufung als „fragiler Staat“ entfernt. In die Kategorie mit der höchsten Punktzahl (very high alert) fielen Somalia, Südsudan, die Zentralafrikanische Republik, Jemen, Sudan, Syrien, Tschad und die Demokratische Republik Kongo, gefolgt von Afghanistan, Haiti und Irak in der zweithöchsten Kategorie (high alert). Deutschland nimmt unter den 178 Ländern den Rang 165 ein und ist der zweitbesten Kategorie der „nachhaltigen“ Länder zugeordnet. Die USA, Frankreich und Großbritannien werden zur drittbesten Kategorie der „sehr stabilen“ Länder gezählt. Mittlere Werte auf der Punkteskale werden z. B. für Brasilien, China oder Indonesien vergeben.

Der unter Leitung von Steward Patrick und Susan Rice für die Brookings Institution im Jahr 2008 entworfene „Index of State Weakness in the Developing World“ grenzt sich methodisch und inhaltlich vom FSI ab. S. Patrick und S. Rice untersuchen 141 Entwicklungs- und Schwellenländer (zu denen auch die osteuropäischen Staaten gerechnet werden) anhand von 20 Kategorien. Die Autoren nehmen für sich in Anspruch, vom FSI unterbewertete Faktoren von state weakness wie mangelnde Gesundheitsversorgung oder Defizite im Bildungssystem besser in ihre Analyse zu integrieren. Dieser Index ist allerdings seit 2008 nicht noch einmal erstellt worden und kann insofern nicht mehr als aktuell gelten.

4. Kritik

Begriff und Paradigma des f. s. sind vielfach kritisiert worden. Kritik richtete sich u. a. auf die inhaltliche Unbestimmtheit, den inflationären Gebrauch sowie die Neigung, sehr unterschiedliche Staats- und Regierungsformen unter den Ausdruck f. s. zu subsummieren, sofern sie von einer implizit oder explizit vorausgesetzten Norm abweichen. Kritisiert wird, dass die vielen nach 1990 aus der Politikberatung hervorgegangenen Studien das Thema ahistorisch, teleologisch und unreflektiert-normativ angehen, indem sie einen „natürlichen Fortschritt“ hin zu liberalen und demokratischen Strukturen voraussetzen. Zudem würde die Verantwortung für das Scheitern von Staaten einseitig den betroffenen Länder zugewiesen, ohne nach der Mitverantwortung der Staaten des „globalen Nordens“ zu fragen – sei es als frühere Kolonialmächte (Kolonialismus), sei es als Nachfrager von problematischen Gütern, die in Räumen schwacher und korrupter Staatlichkeit gehandelt werden. Schließlich wird argumentiert, das Konzept sei zu allg. gefasst und verwische wichtige Unterschiede, als dass davon sinnvolle Handlungsempfehlungen für die entwicklungspolitische Praxis (Entwicklungspolitik) abgeleitet werden könnten: „imprecise concepts make for poor scholarship and bad policy“ (Call 2008: 1505). Dennoch fände diese Übersetzung in praktische Maßnahmen statt, die undifferenziert und stereotyp auf die „Stärkung“ (Call 2008:1497) von staatlichen Organen abzielten.

Grundlegende Kritik, die sich für die Preisgabe des Begriffs bzw. für seine Beschränkung auf den empirisch seltenen Fall vollständig kollabierter Staaten ausgesprochen hat, ist dennoch eine Minderheitenposition geblieben. Auch Autoren, die sich der analytischen Schwächen des Begriffs bewusst sind, plädieren für seine Beibehaltung, da er ein real beobachtbares Phänomen griffig beschreibe. Um bestehende konzeptionelle Defizite zu beheben, ist u. a. vorgeschlagen worden, bei der Analyse von Staatszerfall genauer danach zu differenzieren, ob das Fehlen effektiven Regierens eher an den fehlenden Kapazitäten des Landes oder eher am fehlenden Willen seiner Regenten liegt.