Existenzphilosophie

Die E. ist eine Richtung der Philosophie, in deren Zentrum die Seinsweise des individuellen, einmaligen Menschen steht. Statt nach einem allgemeinen „Wesen“ des Menschen zu fragen, bezieht sich die E. auf den Einzelnen, der in einer konkreten, historischen und sozialen Welt unvertretbar sein je eigenes Leben zu führen hat. Seine „Existenz“ interpretiert sie ausgehend von Kontingenzerfahrungen etwa bei Leid, Scheitern und Tod. Ihre ethischen Untersuchungen setzen nicht bei abstrakten Normen, sondern Phänomenen wie Verantwortung und Engagement an.

Die E. entsteht Mitte des 19. Jh. mit Søren Kierkegaards Begriff individueller menschlicher Existenz. Sie ist beeinflusst durch die Lebensphilosophie (Friedrich Nietzsche, Henri Bergson, Wilhelm Dilthey) sowie durch die Phänomenologie Edmund Husserls. Nach dem Ersten Weltkrieg gelten als wichtigste Vertreter in Deutschland Karl Jaspers und Martin Heidegger, dessen als Fundamentalontologie intendierte Daseinsanalyse im Rahmen der E. rezipiert wurde. Christliche E.n finden sich bei Peter Wust und Gabriel Marcel. Synonym mit E. oder primär bezogen auf die französische E. ist auch die Bezeichnung Existenzialismus üblich geworden. Jean-Paul Sartre grenzt seine Konzeption, die in intensiver Auseinandersetzung mit dem Denken E. Husserls und M. Heideggers entstanden ist, als atheistischen Existenzialismus von einer christlichen E. ab. Zur französischen E., die in den 1940er Jahren eine Blütezeit hat, werden weiter Albert Camus und Simone de Beauvoir sowie z. T. Maurice Merleau-Ponty gerechnet.

Der Begriff der Existenz bedeutet im Kontext dieser Ansätze eine Absetzung gegen die metaphysische Tradition, welche Existenz im Sinne der bloßen Tatsache, dass etwas ist, versteht und von der ontologisch entscheidenden Essenz (Wesen, Ousia, Substanz) als der Bestimmung, was etwas ist, unterscheidet. M. Heideggers auf diesem Hintergrund paradoxe Aussage „Das ‚Wesen‘ des Daseins liegt in seiner Existenz.“ (Heidegger 1993: 42) bringt die Aufgabe zum Ausdruck, eine neuartige ontologische Interpretation des menschlichen Daseins zu entwickeln.

Die Frage der menschlichen Existenz hat zuerst S. Kierkegaard in seiner Kritik am Wesensdenken Georg Wilhelm Friedrich Hegels aufgeworfen. Einer abstrakten Erfassung der Subjektivität in G. W. F. Hegels Geschichts- und Systemphilosophie (Geschichte, Geschichtsphilosophie) mit dem Anspruch auf Wissen des Ganzen stellt S. Kierkegaard die in ethisch-religiöser Hinsicht relevante Existenz des individuellen Selbst entgegen. Das menschliche Selbst interpretiert er formal als „ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält“ (Kierkegaard 1954: 8). Nicht eine wissenschaftlich-objektive Einstellung sieht er aber als entscheidend für das Verhalten des Menschen zu sich selbst an, sondern „subjektiv zu werden, d. h. in Wahrheit Subjekt zu werden“ und „das zu sein, was man dadurch ist, dass man es geworden ist“ (Kierkegaard 1957: 120). Die Bekümmerung um den faktischen und geschichtlichen Vollzug des je eigenen Lebens, das prozesshaft-zeitlich und fragmentarisch gedacht wird, bestimmt die Existenz. Existenz meint insb. auch eine paradoxe bzw. rational nicht gänzlich erfassbare Faktizität der Subjektivität (Subjekt).

Wie das christliche Denken Kierkegaards wenden sich die für die E. prägenden Ansätze der Lebensphilosophie gegen Objektivierungstendenzen, etwa im Positivismus und Historismus, aber auch gegen die idealistische Philosophie (Idealismus) und die rationalistische Erkenntnistheorie. Sie stellen dem bewusstseinsphilosophischen Paradigma seit René Descartes das Leben gegenüber und lehnen insb. ein Primat des Theoretischen ab. Insgesamt nehmen die um den Begriff der Existenz konzentrierten Bemühungen zum Subjektproblem eine konkrete, handelnd-tätige Subjektivität zum Ausgangspunkt, die immer schon in der Welt bzw. in Situationen ist. Hier setzen Analysen zu konstitutiven Aspekten wie zur Leiblichkeit, zur Zeitlichkeit (Zeit) und Geschichtlichkeit sowie zum Mitsein mit anderen an.

Dass die Existenz nach S. Kierkegaard für wissenschaftlich-systematische Zugriffe unzugänglich ist, prägt auch die Methode der späteren E. K. Jaspers betont vor lehrbaren Resultaten den appellierenden Charakter der Existenzerhellung. Romane und Dramen des französischen Existenzialismus sind Beispiel dafür, wie künstlerische Texte zur Vergegenwärtigung existentieller Erfahrung dienen können. Eine systematische Perspektive etablieren v. a. M. Heidegger und J.-P. Sartre, die ihre Analysen der Existenz in den Rahmen neuer, phänomenologischer Ontologien stellen. Die E. geht dabei zurück auf Phänomene der alltäglichen Erfahrung wie auch außergewöhnliche Erlebnisse, welche die Existenz in ihrer grundlegenden endlichen Verfassung zeigen: Grenzsituationen (K. Jaspers) wie Leiden, Schuld und Kampf, Erfahrungen der Absurdität und Kontingenz oder Stimmungen wie Langeweile, Verzweiflung und Angst.

Eine prominente Rolle in der E. spielt die Angst, durch die sich Freiheit erschließt. Als Stimmung, die nicht auf spezielle Gegenstände bezogen ist, vereinzelt sie das Selbst und wirft es auf das grundsätzliche In-der-Welt-sein zurück. Angst als „Schwindel der Freiheit“ (Kierkegaard 1952: 60) macht die eigenen Möglichkeiten und die unbestimmte Zukunft bewusst. Die Ethik der E. geht zunächst vom subjektiven Gesichtspunkt der Authentizität und Selbstwahl aus. Dem gelten in der E. verschiedene Analysen grundlegender Modi oder Haltungen des eigentlichen und uneigentlichen (M. Heidegger) bzw. des aufrichtigen und unredlichen (mauvaise foi) Existierens (J.-P. Sartre). Aus der Freiheit ergibt sich in der E. die Aufforderung zum Engagement (G. Marcel), zu einer Haltung der Entschlossenheit (M. Heidegger) und zum Übernehmen von Verantwortung (J.-P. Sartre). Eine Perspektive auf die Achtung der Freiheit der anderen, ohne die eine authentische Verwirklichung der eigenen Freiheit nicht möglich ist, findet sich v. a. bei K. Jaspers und im französischen Existenzialismus.

Die E. setzt sich mit Absurdität als grundsätzlicher Erfahrung von Widersinnigkeit und Sinnlosigkeit auseinander. S. Kierkegaard zufolge stößt der Mensch bei der paradoxen Vorstellung des christlichen Gottmenschen an die Grenzen seiner Vernunft (Vernunft – Verstand). Der für ein gelingendes Selbstsein entscheidende Glaube ist nur durch einen Sprung möglich. Die Grenzsituationen bei K. Jaspers sind existenzielle Widersprüche, die ein Transzendieren (Transzendenz) des Menschen auf ein ihn umgreifendes, auch durch Gottesvorstellungen nicht objektivierbares Sein auslösen. Die positiven Religionen (Religion) gelten nach K. Jaspers nicht absolut, in ihnen können sich dennoch Chiffren manifestieren, die die Existenz auf eine unverfügbare Transzendenz als ihren Grund verweisen. Ohne Transzendenzbezug wird der Mensch bei S. Kierkegaard und K. Jaspers als zerrissen angesehen. Der sog.en atheistischen E. A. Camus’, J.-P. Sartres und S. de Beauvoirs geht es nicht um Beweise der Nichtexistenz Gottes, sondern um eine Auseinandersetzung mit der Existenz des modernen Menschen, für die eine abnehmende Bedeutung von Religion charakteristisch ist. Absurdität erscheint v. a. als Kontingenz und bildet den Ausgangspunkt des Existierens, das ohne die Entwürfe des „Menschen, dazu verurteilt, frei zu sein“ (Sartre 2016: 639), selbst sinnlos ist. Er allein muss die Kontingenzen des Lebens bewältigen und strebt nach Sinn, auch wenn zu seinen Projekten immer wieder Scheitern gehört. Absurdität bedeutet dabei nicht, dass der Mensch grundsätzlich unglücklich ist, wie A. Camus mit dem Mythos des Sisyphos veranschaulicht.

Literatur