Europäischer Integrationsprozess

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  1. I. Historische Entwicklung
  2. II. Immer engerer Zusammenschluss der europäischen Völker

I. Historische Entwicklung

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1. Definition

Der Begriff der „Europäischen Integration“ ist in den Geschichtswissenschaften umstritten. Je nach methodischem Zugriff wird differenziert zwischen politischer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Europäischer Integration. Auch wenn unbestritten ist, dass alle vier Integrationsarten eng miteinander zusammenhängen, gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, welche Bedeutung ihnen im Gesamtprozess zukommen.

Unter politischer Integration versteht man in der Geschichtswissenschaft die Gründung einer internationalen Organisation; die zentralen Akteure sind hierbei Regierungen. Wirtschaftliche Integration meint die Entstehung von Märkten über politische Grenzen hinweg; die Akteure sind hier also v. a. Anbieter von und Nachfrager nach Gütern, Dienstleistungen, Arbeit und Kapital. Die gesellschaftliche Integration konzentriert sich auf transnationale Kontakte von zivilgesellschaftlichen Akteuren (Kirchen, Sportvereinen, Schulen, etc.; Zivilgesellschaft) über politische Grenzen hinweg. Unter kultureller Integration wird dagegen die in der medialen Öffentlichkeit ausgetragene Debatte um den Begriff „Europa“ gefasst.

2. Der Prozess der Europäischen Integration

Während man in den Sozialwissenschaften davon ausgeht, dass der Prozess der Europäischen Integration nach 1945 begann, betont die Geschichtswissenschaft inzwischen die Kontinuitätslinien vom frühen 19. Jh. bis in die Gegenwart. Das 19. Jh. und die Zwischenkriegszeit werden aus dieser Perspektive zunehmend nicht mehr als reine „Vorgeschichte“ der Europäischen Integration interpretiert, sondern als eigenständige Phase des Integrationsprozesses gesehen, die sich gleichwohl in wichtigen Aspekten von der Zeit nach 1945 unterschied. Insgesamt ergeben sich bis in die Gegenwart fünf verschiedene Phasen der Europäischen Integration. Die erste Phase begann mit dem Wiener Kongress von 1815 und war in politischer Hinsicht gekennzeichnet durch eine im Vergleich zum 18. Jh. verstärkte Institutionalisierung auf internationaler Ebene. Der Wiener Kongress schuf ein neues Völkerrecht, das als „Ius Publicum Europaeum“ bezeichnet wurde. Es markiert den Übergang vom fürstenstaatlichen Bellizismus des 18. Jh. zu einer modernen Friedenskultur, die in ihrem Kern bis 1914 erhalten blieb und auf zwei Grundlagen basierte: Erstens auf der Solidarität der – seit 1818 im Prinzip gleichberechtigten – fünf Großmächte, die sich darauf verständigten, im Rahmen eines „Direktoriums“ europäische Fragen gemeinsam zu regeln. Hieraus entstand – zweitens – die gemeinsame Verpflichtung zur Friedenserhaltung, was bedeutete, dass ein Krieg zwischen den Großmächten verhindert werden sollte. Zudem etablierte der Wiener Kongress mit der „Zentralkommission für die Rheinschifffahrt“ die erste internationale Organisation im modernen Sinne mit dem Ziel, die Freiheit der Schifffahrt auf dem Rhein durch internationales Recht und gemeinsame Standards zu garantieren. Auf der Basis dieser Grundidee wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jh. eine Vielzahl von internationalen Organisationen gegründet.

In wirtschaftlicher Hinsicht war die erste Phase der Europäischen Integration charakterisiert durch eine zunehmende transnationale Verflechtung. Bes. die Märkte für Güter (ab den 1860er Jahren) und Kapital waren in hohem Maße transnational verflochten, in geringerem Ausmaß auch die Arbeitsmärkte. Die öffentlichen Europa-Diskurse in dieser ersten Phase wurden durch vier Elemente geprägt: Zum einen spielte das – noch stark von napoleonischen Vorstellungen geprägte – Konzept einer europäischen Universalmonarchie eine Rolle, zweitens die Idee eines abstrakten Gleichgewichts der Mächte, verdichtet im Bild der europäischen Familie. Drittens waren idealistische völkerbündische Vorstellungen von Bedeutung und schließlich als eine schwächere Variante dieses Konzeptes auch Vorschläge für einen europäischen Staatenbund.

Die zweite Phase der Europäischen Integration begann mit dem Ersten Weltkrieg im August 1914 und endete mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa im Mai 1945. Sie war in politischer Hinsicht ambivalent. Einerseits wurden die vielen im 19. Jh. gegründeten internationalen Organisationen mit Kriegsbeginn 1914 inaktiv und stellten ihre Arbeit ein, auch wenn sie nicht formal aufgelöst wurden; gleiches gilt für den Zweiten Weltkrieg. Zwischen 1918 und 1939 nahmen sie ihre Tätigkeit i. d. R. wieder auf, wenn auch in einem anderen, von nationalen Interessen dominierten internationalen Umfeld. Andererseits entstand mit dem Völkerbund eine neue internationale Organisation mit dem Anspruch, die 1914 zusammengebrochene Ordnung zu ersetzen. Auch wenn er globalen Anspruch erhob, war der Völkerbund im Kern eine europäische Institution, in deren Rahmen einige der bereits vor 1914 existierenden Organisationen aufgingen. Auch wenn er letztlich an der radikalen Revisionspolitik Italiens und des Deutschen Reiches scheiterte, nahm der Völkerbund doch Kerngedanken dessen vorweg, was nach 1945 charakteristisch für die politische Integration Europas werden sollte. In wirtschaftlicher Hinsicht war die zweite Phase durch Protektionismus geprägt. Alle Versuche, die wirtschaftliche Integration der Vorkriegszeit wieder zu beleben, scheiterten spätestens mit der Weltwirtschaftskrise ab 1929. In kultureller Hinsicht wurde „Europa“ zwischen 1914 und 1945 als Kontinent in der Krise wahrgenommen. Dies äußerte sich im Topos vom „Untergang des Abendlandes“, das gleichermaßen bedroht sei durch die bolschewistische Revolution in Russland und den vermeintlich ungezügelten Kapitalismus der USA. Insb. in den Widerstandsbewegungen gegen den Nationalsozialismus entstand zwischen 1940 und 1945 eine Vielzahl an Konzeptionen für die europäische politische Einigung, die die konkreten Schritte nach 1945 prägen sollten. Insofern waren Integration und Desintegration in der Epoche der Weltkriege ein Katalysator für die dritte Phase der Europäischen Integration.

Diese begann 1945 und endete um 1970. Die Europäische Integration war geprägt durch drei grundsätzliche Konflikte: Charakteristisch war zum einen die durch den Ost-West-Konflikt bedingte Zweiteilung Europas. In beiden Teilen des Kontinents entstanden internationale Organisationen, die in scharfer politischer, wirtschaftlicher und ideologischer Opposition zueinander standen, gleichwohl in technisch-ökonomischer Hinsicht oft kooperierten. Zweitens war die Notwendigkeit einer Europäischen Integration in Westeuropa unbestritten, allerdings war man uneins darüber, ob der Schwerpunkt auf der wirtschaftlichen oder der politischen Integration liegen sollte. Schließlich war in Westeuropa auch die institutionelle Struktur der europäischen Institutionen umstritten. In diesem Zusammenhang ging es um die Frage, ob die Nationalstaaten Teile ihrer Souveränität übertragen sollten (Supranationalität), oder ob es Aufgabe der europäischen Einrichtungen sei, die nationale Politik zu koordinieren (Intergouvernementalismus). Diese Fragen blieben bis 1969 offen. Es war typisch, dass verschiedene europäische Organisationen parallel oder in Konkurrenz zueinander existierten, und keineswegs klar, welche von diesen sich durchsetzen würde. Aus diesem Grunde hat man von der experimentellen Phase der Europäischen Integration gesprochen. Erst mit dem Haager Gipfel der Staats- und Regierungschefs vom Dezember 1969 setzten sich die EG als dominierende Organisation durch. In wirtschaftlicher Hinsicht wurde diese Phase geprägt durch das lang anhaltende wirtschaftliche Wachstum in Westeuropa, begünstigt durch die schrittweise Liberalisierung des Handels in Westeuropa, zunächst im Rahmen der EWG (seit 1958) und der EFTA (seit 1960). In diesem Rahmen erreichten die europäischen Gütermärkte zu Beginn der 1970er Jahre ein Verflechtungsniveau, das in etwa dem unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg entsprach. Doch war das keine einheitliche Entwicklung. Vielmehr entstand, ökonomisch gesehen, ein westeuropäischer Kernraum, der das südliche England, die Benelux-Staaten, Frankreich, die BRD, die Schweiz und das nördliche Italien umfasste. Hier war die wirtschaftliche Verflechtung bes. hoch, während sie v. a. in der südlichen Peripherie, in Griechenland, dem südlichen Italien und der iberischen Halbinsel, deutlich schwächer war. In kultureller Hinsicht setzte sich der in den 1920er Jahren entstandene Abendland-Diskurs (Abendland) zunächst fort. Er wurde aber seit den späten 1950er Jahren von einem anderen Diskurs schrittweise abgelöst, der „Europa“ als Bestandteil einer nordatlantischen Wertegemeinschaft um die Ideale von wirtschaftlicher Freiheit und Demokratie verstand.

Zu Beginn der 1970er Jahre begann schließlich jene Phase der Europäischen Integration die bis heute andauert. Seit dem Haager Gipfel dominierte die EG, die 1993 zur EU wurde. Ihre steigende Bedeutung und Attraktivität zeigte sich einerseits in der rasch steigenden Zahl der Mitgliedstaaten (1970: 6; 2015: 28). Zudem übertrugen die Mitgliedstaaten der EU weitere zentrale Elemente ihrer nationalen Zuständigkeit, v. a. die Agrarpolitik, die Außenhandelspolitik, die Wettbewerbspolitik und die Geldpolitik. Insgesamt entstand so ein hochkomplexes Mehrebenensystem (Mehr-Ebenen-Regieren), das die politischen Prozesse und Strukturen in den Mitgliedstaaten nachhaltig veränderte („Europäisierung“). In wirtschaftlicher Hinsicht war die Europäische Integration in dieser Phase geprägt durch die schrittweise Liberalisierung der Märkte für Dienstleistungen, Kapital und Arbeit in den 1980er und 1990er Jahren. Dies führte zu einer bes. hohen Verflechtung v. a. der Kapitalmärkte. Gleichzeitig bemühte sich die Gemeinschaft im Rahmen der Regional- und Strukturpolitik um die Förderung von strukturschwachen Gebieten in der europäischen Peripherie. Die kulturelle Entwicklung war ambivalent: So entwickelte sich die EU zwar zu einer Wertegemeinschaft, die geprägt wurde durch den Respekt vor den Menschenrechten, der Demokratie und der Ablehnung von Rassismus und Antisemitismus, zugl. wurden die EG/EU seit den 1970er Jahren aber immer auch als krisenhaft wahrgenommen. Diese Krisenwahrnehmung hatte eine doppelte Dimension: Sie bezog sich einerseits darauf, dass seit den 1970er Jahren klar wurde, dass sich die Gemeinschaften nicht schnell zu einer politischen Föderation nach schweizerischem oder US-amerikanischem Vorbild entwickeln würden, wie viele Föderalisten noch in den 1950er und 1960er Jahren gehofft hatten. Andererseits wurde die EU mit dem Vorwurf eines Demokratiedefizits konfrontiert.

3. Motive und Antriebskräfte der Europäischen Integration

Der Prozess der Europäischen Integration wurde von verschiedenen von Motiven und Antriebskräften vorangetrieben, die ebenfalls dem politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Sektor entstammen.

3.1 Politische Motive

Unter den politischen Motiven kann man unterscheiden:

a) Die Deutsche Frage: Seit dem Wiener Kongress ist die Frage, wie das Zentrum Europas, die deutschen Staaten, politisch gestaltet werden sollen, prägend für die Geschichte des Kontinents. Das Kernproblem war, dass mit Deutschland in der Mitte Europas ein wirtschaftliches und politisches Potential existierte, das allen anderen europäischen Nationalstaaten überlegen war und ist, jedoch nicht stark genug, um von den europäischen Nachbarn als natürliche Führungsmacht akzeptiert zu werden. Der Historiker Ludwig Dehio hat diese Situation mit Blick auf das Deutsche Reich von 1871 treffend als „halbe Hegemonie“ (Dehio 1955: 123) bezeichnet. Auf dem Wiener Kongress wurde 1815 mit dem Deutschen Bund erstmals ein politisches System errichtet, das aus europäischer und deutscher Sicht eine befriedigende Antwort auf dieses Problem gab. Es brach durch die preußische Expansion und die Reichsgründung in der zweiten Hälfte des 19. Jh. zusammen. 1918 musste erneut eine Antwort auf die Deutsche Frage gefunden werden. Der Vertrag von Versailles jedoch war eine untaugliche Lösung, weil die Siegermächte das Deutsche Reich nicht als gleichberechtigt akzeptierten und diskriminierten. Die Friedensordnung von Versailles wurde von den deutschen Regierungen abgelehnt und scheiterte nicht zuletzt deswegen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Deutsche Frage durch die gleichberechtigte Einbindung des nun westdeutschen Teilstaates in supranationale Organisationen gelöst. Dies erklärt, warum die Europäische Integration insb. in jenen Sektoren vorangetrieben wurde (Kohle und Stahl, später Währungspolitik), in denen die BRD gegenüber den Nachbarstaaten bes. stark war. Aus deutscher Sicht entsprach diesem Motiv der Wunsch nach Selbsteinbindung, weil dies auch den deutschen außenpolitischen Handlungsspielraum ausweitete. Umgekehrt nahm dieser immer dann ab, wenn Deutschland die Europäische Integration blockierte oder verzögerte. An dieser Konstellation hat sich bis in die Gegenwart hinein nichts geändert.

b) Das zweite politische Motiv für die Europäische Integration war die europäische Selbstbehauptung in der Welt. Noch im 19. Jh. war Europa in der Selbstwahrnehmung das Zentrum der Welt gewesen. Durch die Weltkriege wurde dieses Selbstbild in seinen Fundamenten erschüttert, und in der Zwischenkriegszeit entstand erstmals in den Europa-Entwürfen von Richard Coudenhove-Kalergi die Idee eines Europas der „Dritten Kraft“ zwischen den USA und Russland. Dieser Gedanke blieb unter den Strukturen des Ost-West-Konfliktes auch nach 1945 dominant. Bis heute ist das Motiv der Selbstbehauptung Europas greifbar, weil keiner der europäischen Staaten das politische und wirtschaftliche Potential hat, sich gegenüber den Großmächten der Welt zu behaupten. Aus diesem Grund übertrugen die europäischen Nationalstaaten wichtige wirtschaftliche und politische Kompetenzen an die EU, die alleine in der Lage erscheint, ihre Interessen in der Welt zu vertreten.

c) Ein weiteres wichtiges Motiv für die Europäische Integration im 19. und 20. Jh. war die Errichtung einer stabilen Staatenordnung zur Sicherung des Friedens. Das Völkerrecht sollte weiterentwickelt werden, um einen (großen) militärischen Konflikt zu verhindern. Mit dem Wiener Kongress wurde deshalb im Rahmen der sog.en Quadrupelallianz (1.3.1814, erneuert am 9.6.1815) und der Heiligen Allianz eine Art Direktorium für Europa geschaffen. Ab 1952 entstand schrittweise ein supranationales europäisches Recht (Europarecht), das ebenfalls von dem Kerngedanken geprägt wurde, Konflikte zwischen den europäischen Staaten im Rahmen rechtlicher Regeln zu lösen.

d) Schließlich war die Europäische Integration auch ein Instrument zur Erlangung und Festigung nationaler Unabhängigkeit und Souveränität. Das galt für Staaten, die entweder durch eine aggressive Kriegspolitik (Deutschland, Italien), durch ein diktatorisches Regime (Spanien, Portugal) oder durch eine langjährige Fremdherrschaft (die Staaten Ostmitteleuropas, z. T. auch Irland) von der gleichberechtigten Mitgliedschaft im internationalen System ausgeschlossen waren. Die Selbstintegration dieser Länder in internationale Organisationen, v. a. aber in die supranationale EWG/EU war ein Instrument, „um überhaupt wieder in die Außenpolitik zu kommen“ (zit. n. Hentschel 1996: 254), wie Konrad Adenauer am 13.4.1956 prägnant formulierte. Die wirtschaftliche Dimension dieses Motivs hat Alan Milward als „The European Rescue of the Nation State“ (1992) bezeichnet.

3.2 Wirtschaftliche Motive

Das wichtigste Ziel der wirtschaftlichen Integration ist die Steigerung des materiellen Wohlstandes. I. d. R. wird dabei zwischen wirtschaftspolitischer und wirtschaftlicher Integration unterschieden.

a) Unter wirtschaftlicher Integration wird v. a. die Verflechtung von Märkten über politische Grenzen hinweg verstanden. Die entscheidenden Akteure sind hier Anbieter und Nachfrager von Gütern, Kapital, Arbeit und Dienstleistungen. Die Rolle staatlicher Akteure beschränkt sich darauf, die Rahmenbedingungen für den freien Handel zu schaffen. Die wirtschaftliche Integration erlebte bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jh. eine Boomphase (Cobden-Chevalier-Vertrag vom 23.[1. 1.]1860), wurde in der Epoche der Weltkriege zwischen 1914 und 1945 stark eingeschränkt und ist seither wieder dominant. Seit 1992 sind im Rahmen der EU die Märkte für Güter, Dienstleistungen, Arbeit und Kapital vollständig frei. Grundlegend ist hierbei die in der ökonomischen Wissenschaft vorherrschende Ansicht, dass der Freihandel im Allgemeinen zur Wohlstandssteigerung der Gesellschaft insgesamt beiträgt.

b) Von wirtschaftspolitischer Integration spricht man, wenn Regierungen oder öffentliche Verwaltungen die wirtschaftliche Verflechtung nicht den Akteuren auf den Märkten alleine überlassen, sondern aktiv gestalten. Dies geschieht entweder auf intergouvernementaler Ebene, wenn Staaten gemeinsame Standards in technischer, betrieblicher oder rechtlicher Hinsicht für einen bestimmten Sektor vereinbaren. Sie können aber auch Teile nationaler Souveränität in konkreten Bereichen an supranationale Organisationen delegieren. Beispiele hierfür sind die gemeinsame Agrarpolitik, die Außenhandelspolitik und die Währungspolitik der EU.

3.3 Gesellschaftliche Motive

Ähnlich strukturiert wie die wirtschaftliche Europäische Integration ist die der Gesellschaft. Hier geht es allerdings nicht um die Wohlstandssteigerung im engeren materiellen Sinne, sondern um den Wunsch von Gruppen oder Individuen, Kontakte mit dem Ausland aufzunehmen oder zu erhalten.

a) Ein zentraler Aspekt gesellschaftlicher Integration ist die transnationale Verflechtung von Gesellschaften. Wichtige Akteure sind in diesem Zusammenhang z. B. die Kirchen, Sportler, Schüler und Studenten, aber auch Wissenschaftler und Touristen. Die transnationale Verflechtung der europäischen Gesellschaften hat seit 1945 stark zugenommen, v. a. wegen der stetigen Verbesserung der Verkehrs- und Kommunikationsinfrastrukturen.

b) Ein zweiter wichtiger Aspekt ist die Frage nach der Angleichung der europäischen Gesellschaften. In der Forschung wurde in den letzten Jahren gefragt, ob die intensivere transnationale Verflechtung zu einer europäischen Gesellschaft führe, die die nationalen Gesellschaften ablöse. Die bisherige Antwort ist differenziert: Einerseits gab es eine zunehmend intensive Verflechtung, andererseits kann man nur bedingt von einer Vereinheitlichung der Gesellschaften sprechen. Charakteristisch ist vielmehr eine wechselseitige Durchdringung von Lebens- und Verhaltensweisen in dem Sinne, dass fremde Sitten und Gebräuche in die nationalen Gesellschaften integriert, aber diesen angepasst wurden. Umgekehrt veränderten sich auch die Gesellschaften. Gesellschaftliche Integration ist daher als ein Prozess zu verstehen, der durch permanente wechselseitige Durchdringung, durch Anpassung wie Ablehnung geprägt ist, ohne dass ein Ziel des Prozesses erkennbar oder überhaupt zu formulieren wäre. Hinzu kommt, dass in diesem Sektor die Abgrenzung zwischen europäischer und globaler Verflechtung fließend ist.

c) Gleichwohl lassen sich makrosoziologisch gesellschaftliche Anpassungs- und Angleichungsprozesse identifizieren. So glich sich bspw. das Heiratsalter der europäischen Menschen zunehmend an. Gleiches gilt für die Schulbildung und nicht zuletzt für die Fremdsprachenkenntnisse der Europäer. Zudem entstanden in konkreten Sektoren transnationale europäische Teilöffentlichkeiten, gemeinsame Kommunikationsräume über nationale Grenzen hinweg.

3.4 Kulturelle Motive

Ziel der europäischen kulturellen Integration ist die mentale Selbstverortung von Individuen oder Gruppen. Europäische kulturelle Integration ist daher eng mit dem Begriff der europäischen Identität verbunden und wird in der Forschung unter zwei Aspekten diskutiert.

a) Der essentialistische Identitätsbegriff geht davon aus, dass es eine europäische Identität gibt, die diesen Kontinent durch bestimmte Eigenschaften von anderen Kontinenten auf der Welt unterscheidet und die sich aus den Quellen der europäischen Geschichte rekonstruieren lässt. Die Aufgabe der Geschichtswissenschaft ist es aus dieser Sicht, die in der europäischen Geschichte verborgene Identität zu rekonstruieren. V. a. in der experimentellen Phase der Europäischen Integration zwischen 1945 und 1969 hatte die essentialistische europäische Identitätssuche eine Hochkonjunktur und ist verbunden mit Namen wie Denis de Rougement, Heinz Gollwitzer und Federico Chabord. Gegenwärtig wird der Ansatz nur von einer Minderheit der Europa-Forscher vertreten. Sie drückt sich aber in der seit den 1970er Jahren verstärkten Suche nach europäischen Symbolen (Fahne, Hymne, Gedenktage) aus.

b) Der konstruktivistische Identitätsbegriff hingegen geht davon aus, dass es eine objektiv existierende europäische Identität nicht gibt und nicht geben kann. „Europa“ existiert aus dieser Perspektive nicht an sich, sondern erscheint nur als ein diskursiv erzeugtes Konstrukt (Konstruktivismus). Europäische Identität entsteht so durch die immer wieder neuen Selbstzuschreibungen der Europäer oder als eine Fremdzuschreibung von außen. Es komme darauf an, zu erforschen, was Menschen zu verschiedenen Zeitpunkten unter dem Begriff „Europa“ verstanden.

II. Immer engerer Zusammenschluss der europäischen Völker

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1. Überblick: Konstitutionelle Umsetzung der Europaidee

Im engeren politischen Sinn handelt es sich beim E.n I. um das europäische Einigungsprojekt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, das mit der Ratifizierung des Vertrags von Lissabon 2009 seinen bisherigen Höhepunkt erreicht hat. Der Begriff bezeichnet einen offenen, auf einen „immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker“ (Präambel des AEUV) ausgerichteten Verdichtungsprozess nationalstaatlicher Kooperation, der angefangen mit der Gründung der EGKS (1952), über die Römischen Verträge (1958) und weitere Vertragsfortentwicklungen in der Gründung der EU durch den Vertrag von Maastricht (1993) mündete und durch die Vertragsreformen von Amsterdam (1999), Nizza (2002) und Lissabon seine gegenwärtige Gestalt erlangt hat.

Insgesamt umschreibt der E. I. die schrittweise Konstitutionalisierung der Europaidee, indem die Mitgliedstaaten ausgewählte Entscheidungskompetenzen und damit auch spezifische Bereiche ihrer Souveränität an die EG bzw. an die EU als gemeinsame Regelungsebene jenseits des Nationalstaates übertragen. Die Zuständigkeitsverteilung im so entstandenen Mehrebenensystem (Mehr-Ebenen-Regieren) von Mitgliedstaaten und Gemeinschaft bzw. Union wird durch das Europäische Vertragswerk (EUV und AEUV) festgeschrieben, wobei die Prinzipien der „begrenzten Einzelermächtigung“, der „Verhältnismäßigkeit“ sowie der „Subsidiarität“ zu beachten sind (Art. 4 und 5 EUV). In der Zuständigkeitsverteilung kommt auch die zentrale Rolle der Mitgliedstaaten zum Ausdruck, die als „Herren der Verträge“ (BVerfGE 89, 155, 190) über Integrationsfortschritt und -tiefe entscheiden.

Neben dieser bewussten Akteurschaft ist allerdings die bisherige Einigungsgeschichte auch durch Integrationsdynamiken und -automatismen geprägt: zum einen infolge der politischen Gestaltungsmacht der Europäischen Kommission, welcher unter den EU-Institutionen exklusiv das Initiativrecht zukommt und welche angesichts ihres supranationalen Charakters eben nicht nur „Hüterin der Verträge“ ist, sondern auch als „Motor der Union“ gilt; zum anderen durch eine integrationsfreundliche Rechtsprechung des EuGH, der sich in seiner Spruchpraxis nach der in der Präambel des europäischen Vertragswerks formulierten Maßgabe der „immer engeren Union“ richtet. Ebenso relativiert sich die Rolle der Mitgliedstaaten als Gestalter der europäischen Politiken bei der Wahrnehmung der einmal an die Gemeinschaft bzw. Union übertragenen Kompetenzen: Der Umfang der nationalstaatlichen Mitsteuerung variiert von Politikfeld zu Politikfeld – je nachdem, ob es europarechtlich dem intergouvernementalen oder dem supranationalen Zuständigkeitsbereich zugeordnet ist. Der erste Entscheidungsmodus betrifft Politikbereiche, die zwar europäisch koordiniert werden, letztlich aber nach wie vor nationalstaatliche Domänen verbleiben (so z. B. im Falle der GASP); der letztere Modus bezieht sich auf Politikfelder, die „vergemeinschaftet“ sind (so etwa die Außenhandelspolitik oder die Währungspolitik der Euro-Mitgliedstaaten). Wo beim Ersteren angesichts der i. d. R. vorgeschriebenen Einstimmigkeit der Entscheidung jedem einzelnen Mitgliedstaat ein Veto-Recht zukommt, können beim Letzteren einzelne Staaten überstimmt werden, sind allerdings durch den Rechtsakt ebenso gebunden. Schon daraus wird ersichtlich, dass der E. I. zu der Etablierung eines neuen, transnationalen politischen Systems geführt hat: Durch die stete Übertragung von Souveränitätsrechten an die Union und deren konstitutionelle Möglichkeit, durch gemeinschaftliche Rechtsakte in die Nationalstaaten „hineinzuregieren“, ist ein „Staatenverbund“ (BVerfGE 89, 155) entstanden, der zunehmend quasi-staatliche Merkmale aufweist. Hiermit korreliert auch, dass die EU mit dem Vertrag von Lissabon nunmehr auch eine eigenständige Rechtspersönlichkeit darstellt (Art. 47 EUV) und somit berechtigt ist, als ein mit den Nationalstaaten vergleichbarer Akteur völkerrechtliche Verträge zu schließen.

Auch wenn der E. I. ein primär (friedens-)politisches Projekt ist, folgte er von Anfang an gleichermaßen ökonomischen Motivationen, sprich der Integration der Märkte bis hin zur Realisierung des Europäischen Binnenmarktes und zur Verwirklichung der EWWU, die auch die mitgliedstaatlichen Volkswirtschaften grundlegend verändert und denationalisiert haben. Ebenso weist er gesellschaftliche und kulturelle Dimensionen auf. Zwar stellen diese Felder formaliter nach wie vor Hoheitsbereiche der Mitgliedstaaten dar; allerdings strahlen intergouvernementale und supranationale europäische Politiken auf sie aus und führen zu Konvergenzeffekten, sei es infolge von steigender Mobilität auf Grundlage der vier Grundfreiheiten, sei es durch die Förderung kultureller Zusammenarbeit oder durch bildungspolitische Maßnahmen wie „Erasmus“: Mit der fortschreitenden Europäischen Integration gewinnen die grenzüberschreitenden Verflechtungen und Anpassungen auch im kulturellen und gesellschaftlichen Bereich an Breite und Tiefe.

2. Ideengeleiteter Prozess mit offener Finalität

Der E. I. folgt weder einer konkreten vorgezeichneten europäischen Idee noch einem einheitlichen ordnungspolitischen Entwurf. Gleichwohl ist er in die kulturellen Traditionsströme des 19. und frühen 20. Jh. eingebettet und gründet auf dem Fundament früherer Europaideen.

2.1 Normative Bewegmomente

Es waren insb. die geistigen Grundlagen des Föderalismus, in denen die Gründer und Wegbegleiter des E.n I.es Inspiration für die Schaffung einer anhaltend friedlichen Ordnung im Nachkriegseuropa sahen – sei es in Winston Churchills Vorstellung der „Vereinigten Staaten von Europa“ (entspr. seiner Zürcher Rede vom 19.9.1946), sei es in Robert Schumans Plan einer vorerst sektoral begrenzten, gleichwohl supranationalen Integration (Schuman-Plan vom 9.5.1950), die nach einschlägiger Konzeptionierung durch Jean Monnet „die ersten konkreten Etappen einer europäischen Föderation“ (zit. n. Oppermann/Classen/Nettesheim 2016: 8) darstellen sollte. Auch wenn der Zielpunkt insgesamt im Vagen lag, bestand von Anfang an Grundkonsens über die Bewegmomente und Leitmotive des Projekts: Frieden und Wohlstand, Freiheit und Mobilität, Bekenntnis zu Demokratie, Pluralismus und Toleranz.

Die Dynamik des E.n I.es liegt in kleinen Schritten, die sich situativ ergeben und perspektivisch in einer neuen Form europäischen Zusammenlebens münden sollen. Demzufolge ist der Prozess zwar insgesamt nach vorne gerichtet, gleichwohl auch von Phasen der Stagnation und Rückschlägen geprägt.

2.2 Theorien der Europäischen Integration

Von den Anfängen an ist mit dem E.n I. die theoretische Anstrengung einhergegangen, ihn analytisch zu beschreiben, die jeweils gegenwärtigen Herausforderungen einzuordnen und mögliche Entwicklungen vorauszuzeichnen.

Wo die ersten Nachkriegsbestrebungen vorrangig auf föderalistischen Grundideen fußten, denen zufolge die Integration auf freiwilligen, vernunftgeleiteten Entscheidungen gründet, welche perspektivisch zur Schaffung einer friedvollen europäischen Föderation führen sollen, setzte nach der Gründung der EGKS der Funktionalismus als zentrales Erklärungsmuster an. Für diesen folgte die Europäische Integration einer umgekehrten Logik: Sie sei nicht primär Ausdruck einer normativen Zielsetzung, sondern speise sich gemäß des Credos form follows function aus konkreten technisch-funktionalen Kooperationszwängen im Bereich der sog.en low politics, wobei sich aus unmittelbaren funktionalen Erfordernissen institutionelle und vertragliche Lösungen ergeben. Mit dem Schub durch die Römischen Verträge (1958) wurde der Funktionalismus zugunsten des Neofunktionalismus revidiert: Dieser erkannte Integrationsdynamiken – jenseits der technischen Zusammenhänge – auch im genuin politischen Bereich mit erkennbaren spill over-Prozessen von einem Politikfeld zum nächsten. Eine Modifikation erfuhr er infolge Charles de Gaulles Blockadepolitik in den 1960er Jahren, welche die Automatismen des E.n I.es in Frage stellte und die Möglichkeiten der Stagnation (encapsulation) sowie der eventuellen Rückschritte (spill back) konzeptualisierte.

Zeitgleich wurde der Intergouvernementalismus in die integrationstheoretische Debatte eingeführt, der sich für die Rückkehr zu einer staatszentrierten realistischen Position aussprach, zumal die Integration ein kalkulierter Willensakt von souveränen Staaten und weniger Ausdruck funktionaler Notwendigkeiten sei. Schließlich führte der erneute Integrationsboom infolge der EEA (1987) und des Maastrichter Vertrages (1993) zu einer Renaissance neofunktionalistischer Erklärungsansätze (etwa in Form von Wolfgang Wessels Fusionsthese [1992]) sowie insb. zur Etablierung des liberalen Intergouvernementalismus. Auch letzterer sieht in der Europäischen Integration das Resultat des Aushandelns nationalstaatlicher Interessen. Allerdings seien die Staaten keine einheitlichen Akteure; vielmehr ergäben sich deren Präferenzen aus dem Wechselspiel rational agierender Individuen und sozialer Gruppen. Nach der abgeschlossenen liberal-demokratischen Präferenzbildungsphase innerhalb der Nationalstaaten werden die Interessen in einer zweiten Stufe von den nationalen Regierungen entspr. ihrer relativen Machtposition auf europäischer Ebene vertreten. Die Institutionalisierung supranationaler Entscheidungsstrukturen stellt dabei vorrangig einen pragmatischen Akt dar, der zur Verbesserung der Verhandlungsbedingungen führen soll. Die europäischen Institutionen bleiben im Schatten der souveränen Entscheidungen der Nationalstaaten und sind bzgl. ihrer Stabilität v. a. auf gemeinsame ökonomische Interessen angewiesen.

3. Kulminierende Spannungsfelder

Durch den erreichten Integrationsstand haben sich zunehmend Spannungsfelder herauskristallisiert und verhärtet, die das heutige europäische Mehrebenensystem nicht nur hinsichtlich seiner politischen Handlungsfähigkeit herausfordern, sondern es vielmehr in seinem Bestand gefährden.

3.1 Vertiefung v Erweiterung

Bereits seit seinen Anfängen in den 1950er Jahren prägt den E.n I. die Dialektik zwischen Vertiefung und Erweiterung und damit das Dilemma zwischen einer Ausweitung der vergemeinschafteten Kompetenzen und der Erhöhung der Regelungsdichte auf der einen Seite und der räumlichen Erweiterung durch die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten auf der anderen. Beide stehen in einem spannungsreichen Verhältnis zueinander, zumal eine Erweiterung stets Herausforderungen für die innere Einheitlichkeit und damit Einheit bedeutet und die Vertiefung wieder zu einer Exklusivität führt, welche Erweiterung angesichts der Anpassungszwänge zu einem delikaten Unterfangen werden lässt. Wo bis in die 1990er Jahre beide Entwicklungen in Balance gehalten werden konnten, stellt die seitdem entstandene Situation die EU vor eine Zerreißprobe. So hat sich spätestens mit dem durch den Vertrag von Maastricht erreichten Integrationsniveau – mit dem Binnenmarkt und der allmählichen Hinwendung zu einer politischen Union – der Charakter der Gemeinschaften verändert. Die bis dahin dominierende „negative Integration“, welche vorrangig durch den Abbau von Regelungen und Hemmnissen auf marktschaffende Maßnahmen abstellte, schwenkte in die „positive Integration“ um: Im Mittelpunkt stehen seitdem marktkorrigierende Maßnahmen, welche mit neuen, gemeinsamen Regelungen zur inhaltlichen Gestaltung der entstehenden Gemeinschaft und der von ihr verantworteten Politiken einhergehen. Dabei hat sich durch die Verstetigung des E.n I.es ein eigenständiges politisches System etabliert, das in seiner Politikgestaltungskompetenz immer größere Autonomien gegenüber unmittelbarer nationalstaatlicher Mitsteuerung erlangt. Gleichzeitig sind v. a. im Zuge der EWWU neue Integrationszwänge entstanden, zumal der Fortbestand der Gemeinschaftswährung geradezu auf weitergehende fiskalische und sozioökonomische Harmonisierungen angewiesen ist. Der E. I. scheint sich immer mehr von der Logik der bewussten Willensakte der Mitgliedstaaten loszulösen.

Demgegenüber steht der Erweiterungsschub, der die Union seit 1994 von zwölf Mitgliedstaaten auf gegenwärtig 28 hat anwachsen lassen. Insb. der Beitritt der Staaten aus Ostmittel- und Osteuropa hat die sozialen und soziökonomischen Disparitäten im Rahmen der Gemeinschaft verstärkt und binneneuropäische Konfliktlinien hinsichtlich abweichender fiskalpolitischer und staatsphilosophischer Ordnungsvorstellungen sowie unterschiedlich ausgeprägter Solidaritätsvorstellungen verschärft. Diese Vielfalt steht den Konvergenzerfordernissen und funktionalen Integrationszwängen, welche die erfolgte Vertiefung nach sich zieht, diametral entgegen.

Zum einen wird die Handlungsfähigkeit der Union eingeschränkt, da die Entscheidungsfindung zunehmend das Ergebnis langwieriger Aushandlungsprozesse ist und dabei auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner erfolgt, der der Komplexität der zu bewältigenden Herausforderungen und dem Problemlösungsdruck nur bedingt gerecht werden kann. In Bereichen, in denen qualifizierte Mehrheit als Entscheidungsmodus zulässig ist, kommt es zum anderen zu Legitimitätseinbußen infolge der Majorisierung von Minderheiten. Wo also der E. I. bis in die 1990er Jahre durch einen permissive Consensus gekennzeichnet war, indem er grenzüberschreitend eine stillschweigende, unhinterfragte Unterstützung genoss, wird er seitdem zunehmend durch kritische Thematisierung in der Öffentlichkeit, durch offen artikulierte Legitimitätsforderungen bis hin zu organisierten Protesten hinterfragt. Dieses öffentliche Unbehagen wird seit den Krisenjahren 2007 ff. unionsweit zunehmend durch politische Akteure aufgegriffen und kanalisiert, was letztlich in einer ansteigenden Renationalisierungsrhetorik und -tendenz resultiert.

3.2 In der Demokratiefalle

Auch das zweite relevante Spannungsfeld ergibt sich aus dem Voranschreiten des E.n I.es, zumal einem zunehmend autonomen Gestaltungsspielraum auf europäischer Ebene ein nach wie vor nationalstaatlich geprägter Legitimations- und Repräsentationsrahmen entgegensteht. Trotz aller Bemühungen seit den späten 1970er Jahren, dieses Missverhältnis durch eine Demokratisierung der EU-Governance aufzulösen, wird dieses Dilemma tiefer. Denn entspr.e Reformmaßnahmen – wie etwa die Direktwahl des &pfv;Europäischen Parlaments seit 1979, die stetige Aufwertung der europaparlamentarischen Kompetenzen und Kontrollrechte oder die Etablierung des OGV als des wichtigsten Rechtssetzungsverfahrens (Art. 294 AEUV) – fokussieren lediglich eine Dimension demokratischen Regierens. Demokratie verwirklicht sich allerdings nicht alleine durch formale Strukturen der Herrschaftsorganisation, sondern auch durch einen Demos, d. h. durch kollektive Staatsbürgerschaft (Staatsangehörigkeit). Damit eine politische Ordnung überhaupt demokratische Qualität entfalten kann, bedarf es gesellschaftlicher Voraussetzungen: ein Mindestmaß an Gemeinschaftsgefühl, das die Loyalität der Unionsbürger gegenüber der politischen Ordnung gewährleistet, zur politischen Beteiligung animiert und die Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen sicherstellt; ebenso eine ausgebildete, systemweite Öffentlichkeitssphäre, welche Grundlage für Meinungs- und Willensbildungsprozesse und damit für Steuerung und Kontrolle der politischen Ordnung ist. Ebenso unabdingbar sind systemweite Vermittlungsagenturen zwischen Unionsbürgern und politischen Entscheidungsträgern, also Interessengruppen, politische Parteien (Europäische Parteien), zivilgesellschaftliche Strukturen (Zivilgesellschaft). Denn erst sie gewährleisten die gesamtgesellschaftliche Interessenvermittlung, Konfliktsteuerung und Moderation und entscheiden somit wesentlich über den Grad gesellschaftlicher Integration. Alle diese gesellschaftlichen Komponenten sind allenfalls in Ansätzen ausgebildet.

Mithin ist der E. I. in eine Demokratiefalle geraten: Durch die formaldemokratischen Strukturen und Reformanstrengungen hin zu einer demokratischeren, transparenteren und effizienteren Union weckt er Illusionen, denen die EU nicht genügen kann und die sie letztlich in ihrer Existenz bedrohen.

3.3 Zukunft

Das Paradigma der „immer engeren Union“ scheint angesichts der Spannungsfelder sowie neuer Konfliktlinien infolge der Euro- und der Flüchtlingskrise durch das Bild einer in unterschiedliche Lager auseinanderstrebenden EU abgelöst zu werden: Nicht nur stehen sich etwa in der Fiskalpolitik der Norden und Süden Europas entgegen oder im Rahmen der Bewältigung der Flüchtlingskrise der Westen und der Osten; vielmehr keimen in vielen Mitgliedstaaten nationalistische Reflexe auf, die von Forderungen nach einer Revision des E.n I.es bis zum Austritt aus der Gemeinschaft reichen. Letzteres zeigt sich nicht nur an dem sog.en Brexit-Votum, mit dem sich die britische Bevölkerung am 23.6.2016 mehrheitlich für das Ausscheiden des Vereinigten Königreichs aus der EU ausgesprochen hat, sondern gehört als Forderung zum Standardrepertoire diverser populistischer Akteure auf dem europäischen Festland. Gleichwohl stehen einem Zerfall der EU indes substanzielle Momente entgegen: Neben ökonomischen Motivationen sind dies funktionale Kooperationszwänge angesichts der umfassenden Herausforderungen, mit denen Europas Staatenwelt konfrontiert ist – seien dies Ungewissheiten in der globalen Ordnung angesichts nicht vorausschaubarer Entwicklungen in benachbarten Weltregionen, seien es Anstrengungen für den Klimaschutz (Klimawandel) oder die Entwicklungshilfe, sei es die Einhegung des internationalen Terrorismus und der organisierten Kriminalität.

Vor diesem Hintergrund zeichnet sich die „differenzierte Integration“ als wahrscheinliches Strukturierungsmerkmal für den weiteren E.n I. ab, wie sie in den 1990er Jahren konzeptualisiert und in Ansätzen bereits im Vertragswerk verankert worden ist (vgl. u. a. für das Europäische Vertragswerk z. B. die Regelungen der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit im Rahmen der GASP in Art. 42 EUV). In Zukunft könnten sich nicht alle Staaten gleichzeitig auf demselben Integrationsniveau befinden; Staaten, die stärkere Integration anstreben, um die Gemeinschaft effektiver zu gestalten, werden einen Kern bilden, um den sich verschiedene konzentrische Kreise entwickeln. Entscheidend ist die Durchlässigkeit dieser Struktur, sodass Staaten aus der Peripherie grundsätzlich in den Gravitationspunkt nachziehen können. Dennoch ist davon auszugehen, dass der E. I. kein gleichgerichteter Prozess zu einer immer stärkeren Integration bleiben, sondern zunehmend durch Phasen geprägt wird, in denen gemeinsame Besitzstände auch abgebaut und renationalisiert werden, andererseits auch einzelne Staaten temporär wie auch dauerhaft ausscheren können. Umgekehrt ist auch denkbar, dass an unterschiedlichen Politikfeldern im Sinne einer externen Differenzierung auch Staaten mitwirken, die formell keine Mitglieder der Union sind.

Unterm Strich wird der E. I. auch künftig zu einem „immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker“ tendieren: Der Modus der differenzierten Integration wird allerdings dazu führen, dass das bislang vorherrschende Leitbild einer einheitlichen europäischen politischen Ordnung durch die realpolitische Alternative eines funktionalen Netzwerks unterschiedlich stark europäisierter Nationalstaaten abgelöst wird.