Europäischer Gerichtshof (EuGH)

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1. Begriff

EuGH ist die übliche Bezeichnung für den „Gerichtshof“ als oberste der vorgesehenen drei Instanzen des Gerichtshofs der Europäischen Union (GEU), der daneben das „Gericht“ (EuG; früher Gericht erster Instanz) und (ggf.) Fachgerichte umfasst (Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 1 EUV). Er hat seinen Sitz in Luxemburg und darf nicht mit dem EGMR mit Sitz in Straßburg verwechselt werden.

2. Zusammensetzung

Der EuGH besteht aus einem Richter je Mitgliedstaat, somit 28 Richtern (Stand 2017). Diese werden von den Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen unter Einschaltung eines Ausschusses „Bewerberprüfung“ (Art. 255 AEUV) für eine Amtszeit von sechs Jahren mit der Möglichkeit der Wiederernennung ernannt. Letzteres ist hinsichtlich der Unabhängigkeit nicht unproblematisch, wird aber durch die Vertraulichkeit der Beratung und Abstimmung und fehlender Sondervoten gemildert und ist für die Kontinuität der Rechtsprechung vorteilhaft. Die Richter müssen jede Gewähr für Unabhängigkeit bieten und in ihren Staat die für die höchsten richterlichen Ämter erforderlichen Voraussetzungen erfüllen oder Juristen von anerkannt hervorragender Befähigung sein. Der EuGH tagt in Kammern mit drei bzw. mit fünf Richtern oder als Große Kammer mit 15 Richtern, in seltenen Fällen als Plenum. Die Zuweisung von Rechtssachen an die Kammern erfolgt in der Praxis durch den von den Richtern gewählten Präsidenten des EuGH (Koen Lenaerts, Belgien; Stand 2017) aus Gründen der Zweckmäßigkeit. Anders als gemäß Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG gibt es kein Recht auf den „gesetzlichen Richter“. Der EuGH wird seit der 2013 erfolgten Erhöhung der Zahl acht von elf Generalanwälten unterstützt, die öffentlich in voller Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründete Schlussanträge zu den Rechtssachen stellen. Der EuGH ist an diese nicht gebunden. Inwieweit er diesen folgt, bedarf entgegen häufig verbreiteter Angaben einer differenzierenden Untersuchung (Ergebnis, Begründung, Modifikationen). Das EuG wurde 1989 zur Entlastung des EuGH eingerichtet und besteht aus mindestens einem Richter je Mitgliedstaat. Es tagt in Kammern mit drei oder fünf Richtern. Das vom &pfv;Europäischen Parlament und vom Rat der Europäischen Union gemäß Art. 257 Abs. 1 S. 1 AEUV errichtete EuGÖD, bestehend aus sieben Richtern, wurde 2016 aufgelöst; seine Aufgaben wurden dem EuG übertragen, dessen Zahl an Richtern sukzessiv verdoppelt wird (ab 1.9.2019 zwei Richter je Mitgliedstaat), um die generell gestiegene Belastung im Sinne des Art. 47 EuGRC (Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf) bewältigen zu können.

3. Aufgaben

Aufgabe des GEU ist die Sicherung der Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge, d. h. des EUV einschließlich der durch Art. 6 Abs. 1 EUV einbezogenen EuGRC (Europarecht) und des AEUV. Grundsätzlich (vgl. die Ausnahmen in Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 S. 6 EUV; Art. 275 Abs. 1 AEUV) ausgenommen ist die GASP. Einbezogen sind die Rechtsprinzipien (z. B. Anwendungsvorrang des Unionsrechts) und Allgemeinen Rechtsgrundsätze (vgl. Art. 6 Abs. 3 EUV), die zur Schließung der Lücken und zur Ergänzung des unvollständigen Unionsrechts erforderlich sind. Daher gehört zu den Aufgaben des GEU auch die Rechtsfortbildung.

4. Zuständigkeiten

Die Zuständigkeiten des GEU sind enumerativ aufgeführt und lassen sich in „verfassungsrechtliche“ (Streitigkeiten zwischen „Verfassungsorganen“, d. h. Mitgliedstaaten und Organen der EU), „verwaltungsrechtliche“ (Streitigkeiten zwischen Organen der EU und Individuen, d. h. natürlichen und juristischen Personen sowie zwischen der EU und ihren Bediensteten), Rechtsmittel- (zum EuGH gegen Urteile des EuG) und sonstige Verfahren (Vorabentscheidungs-, Amtshaftungs-, Gutachtenverfahren) einteilen. Die Aufsichtsklage (Vertragsverletzungsklage kann von der Europäischen Kommission (Art. 258 AEUV) oder (was sehr selten erfolgt) von einem Mitgliedstaat (Art. 259 AEUV) gegen einen Mitgliedstaat wegen Verletzung des Unionsrechts erhoben werden. Wird von diesem das Urteil des EuGH nicht befolgt, kann dies durch Zwangsgeld oder Verhängung eines Pauschalbetrags sanktioniert werden (Art. 260 AEUV). Die Nichtigkeitsklage (Art. 263 AEUV) dient der Überprüfung von Akten des Sekundärrechts (vgl. Art. 288 AEUV), die die Organe der EU erlassen haben, am Maßstab des EU-Primärrechts (EUV, AEUV, EuGRC, allg.e Rechtsgrundsätze). Sie kann von Organen der EU (z. B. Europäisches Parlament gegen den Rat wegen Erlass eines Rechtsakts ohne hinreichende Mitwirkung des Europäischen Parlaments) oder von Mitgliedstaaten (z. B. wegen Erlass eines Rechtsaktes durch das Europäische Parlament und den Rat ohne hinreichende Kompetenzgrundlage) sowie von Individuen erhoben werden. Als nicht privilegierte Kläger bedürfen Individuen einer bes.n Klagebefugnis (Art. 263 Abs. 4 AEUV). Die Untätigkeitsklage (Art. 265 AEUV) richtet sich gegen das Unterlassen einer Beschlussfassung durch EU-Organe. Für Individuen ist insoweit die vom EuGH entwickelte sog.e positive Konkurrentenklage bedeutsam, mit der ein Einschreiten der Kommission gegen einen Konkurrenten wegen Verstoßes gegen das EU-Kartellrecht verlangt wird. Mit der Amtshaftungsklage (Art. 268 i. V. m. Art. 340 Abs. 2 AEUV) wird Schadensersatz für ein rechtswidriges Handeln oder Unterlassen eines Organs der EU gefordert. Das Vorabentscheidungsverfahren (Art. 267 AEUV) berechtigt bzw. verpflichtet (letztinstanzliche) nationale Gerichte zu Vorlagen an den EuGH nach der Auslegung oder der Gültigkeit (betrifft Sekundärrecht, insoweit Verwerfungsmonopol des EuGH) von Unionsrecht, wenn die Vorlagefrage nach der Auffassung des vorlegenden Gerichts für den Ausgangsrechtsstreits, den dieses entscheidet, erheblich ist. Dadurch wird ein institutionalisierter Dialog zwischen dem EuGH und den nationalen Gerichten begründet. Durch das Unterlassen einer durch das Unionsrecht für letztinstanzliche Gerichte gebotenen Vorlage wird der EuGH als gesetzlicher Richter i. S. v. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG entzogen, was vor dem BVerfG mit der Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) gerügt werden kann. Im Gutachtenverfahren (Art. 218 Abs. 11 AEUV) entscheidet der EuGH, ob ein von der EU geschlossener völkerrechtlicher Vertrag mit dem EU-Primärrecht vereinbar ist.

5. Interpretationsmethode und Stil des EuGH

Der EuGH folgt grundsätzlich den allg. anerkannten Auslegungsmethoden (Wortlaut, System, Sinn und Zweck, Entstehungsgeschichte). Die fortschreitende Integration (Europäischer Integrationsprozess) als Ziel der Union („immer enger“) führt zu einer bes.n Gewichtung der systematischen und teleologischen Methode, wonach der Auslegung der Vorzug gegeben wird, die die Vertragsziele am meisten fördert und die Funktionsfähigkeit der Union sichert (sog.e „effet utile“-Rechtsprechung). Dadurch wurde der EuGH (neben der Europäischen Kommission) zum „Motor der Integration“. Angesichts des erreichten Standes der Integration muss der EuGH dieses Selbstverständnis aber überdenken und sich auch als Wahrer der gegenseitigen Kompetenzen von EU und Mitgliedstaaten gemäß dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 EUV) und somit auch insoweit als „Verfassungsgericht“ verstehen, wofür Ansätze erkennbar sind. Als „eigenständige“ Rechtsordnung fordert das Unionsrecht eine unionsrechtliche Begriffsbildung, um einheitlich in allen Mitgliedstaaten gelten zu können. Als supranationales Gericht weist der EuGH Besonderheiten auf, die sich aus den unterschiedlichen Rechtstraditionen der 28 Mitgliedstaaten und der Mehrsprachigkeit (24 Amtssprachen; interne Arbeitssprache des EuGH ist Französisch) ergeben.

6. Verfahren

Die Zuständigkeiten der Instanzen sind in Art. 256 AEUV und der Satzung des Gerichtshofs geregelt. Danach ist das EuG insb. für alle Direktklagen von Individuen zuständig, während alle Vorabentscheidungsersuchen dem EuGH vorbehalten bleiben. Gegen Urteile des EuG sind Rechtsmittel zum EuGH möglich. Die Verfahrenssprache richtet sich nach dem Kläger bzw. dem vorlegenden Gericht. Das Verfahren ist in den Verfahrensordnungen des EuGH bzw. des EuG geregelt.

7. Verhältnis zu anderen Gerichten

Im Verhältnis des EuGH zu den (Verfassungs-)Gerichten der Mitgliedstaaten können Kompetenzkonflikte entstehen, die letztlich wegen der „Letztentscheidung“ durch den EuGH in unionsrechtlichen, der Verfassungsgerichte wie dem BVerfG in verfassungsrechtlichen Fragen nur durch gegenseitige Rücksichtnahme vermieden bzw. entschärft werden können. Strittige Fragen sind die verfassungsrechtlichen Grenzen des Vorrangs des Unionsrechts und der Rechtsfortbildung durch den EuGH und die Kompetenz in Grundrechtsfragen. Auch mögliche Konflikte in der Interpretation grundrechtlicher Verbürgungen zwischen dem EuGH und dem EGMR sind durch gegenseitige Rücksichtnahme zu vermeiden. Eine direkte Kontrolle durch den EGMR verhinderte der EuGH, indem er den in Art. 6 Abs. 2 EUV vorgeschriebenen Beitritt der EU zur EMRK durch sein Gutachten 2/13 blockiert. Allerdings sind die Mitgliedstaaten als Vertragsparteien der EMRK auch beim Vollzug von Unionsrecht an diese gebunden und unterliegen der Kontrolle durch den EGMR.

8. Politische Bewertung

Die Rechtsprechung des EuGH wird u. a. hinsichtlich der weiten Begründung von Unionskompetenzen und fehlender dogmatischer Fundierung mit daraus folgenden Begründungsdefiziten kritisiert. Während früher ein unzureichender Grundrechtsschutz bemängelt wurde, stellt sich jetzt die Frage nach der Tragweite unionalen Grundrechtsschutzes mit der Folge des Vorrangs vor nationalem Grundrechtsschutz und entspr.er Einschränkung der Kompetenzen nationaler Verfassungsgerichte. Insgesamt wird die Arbeit des EuGH aber eher positiv bewertet. Rechtsschutzlücken werden in der restriktiven Auslegung der Klagebefugnis von Individuen (Art. 263 Abs. 4 AEUV) gesehen. In Grundrechtsfragen ist der Kontrollmaßstab differenziert, in Fragen des Datenschutzes strikt (Urteile zur Vorratsdatenspeicherung, zum sog.en „Recht auf Vergessen“ [Google] und zur Datenübermittlung in die USA [Safe Harbor]). Eine angemessene Bewertung muss die Besonderheiten supranationaler Gerichtsbarkeit berücksichtigen.