Europa der Regionen, Euregio

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1. Begriffsklärung

Regionen sind in Europa in vielfältiger Weise politisch organisiert. Vorreiter war die 1985 gegründete VRE, welche die Stärkung derer in der EU unterstützte. Der Begriff E. d. R. wird seit Ende der 1980er Jahre in wissenschaftlichen und europapolitischen Debatten verwendet. E. umfasst die vertikale und die horizontale Dimension von Verflechtungs- und Kooperationsstrukturen zwischen Regionen. Der Begriff der Region meint dabei die „dritte Ebene“ im EU-Mehrebenensystem in Abgrenzung vom Nationalstaat. Vielfach ist mit E. d. R. ein integrationstheoretisches Konzept gemeint, demzufolge der europäische Integrationsprozess von den Regionen und transnationalen regionalen Zusammenschlüssen (Europaregionen, kurz Euregios) vorangetrieben werden sollte. Die Forderung nach einer starken Rolle von Regionen im Integrationsprozess hat Auswirkungen sowohl auf die innerstaatliche als auch auf die EU-Ebene. So wurde im Zuge innerstaatlicher Dezentralisierungs- und Regionalisierungsprozesse (z. B. Spanien, Großbritannien) ihre Rolle auch in EU-Angelegenheiten gestärkt; hinzu kommt der Ausbau von Mitwirkungsmöglichkeiten direkt auf der EU-Ebene.

2. Regionen in der EU

Die Territorialstruktur der EU-Mitgliedstaaten differiert stark. Sie reicht von unitarischen über regionalisierte bis hin zu föderalen Staaten (Föderalismus). Der Definition einer Region liegt in der EU-Regionalpolitik eine Klassifikation von Gebietseinheiten mit drei Hierarchiestufen zugrunde (NUTS 1–3). Die aktuelle Systematik ist seit dem 1.1.2015 gültig; gemäß der Orientierung an der Verwaltungsgliederung der Mitgliedstaaten gibt es auf der obersten Ebene (NUTS-1) 98 Regionen; in Deutschland gelten die Bundesländer als Region. Auf der NUTS-2-Ebene existieren 276, auf der NUTS-3-Ebene 1 342 Regionen. Integrationspolitisch ist v. a. die NUTS-1-Ebene relevant. Im Hinblick auf die Mitwirkung im EU-Politikprozess ist die Unterscheidung zwischen Regionen mit und ohne eigene Gesetzgebungsbefugnisse relevant.

1992 wurden mit dem Maastricht-Vertrag die Einführung des Subsidiaritätsprinzips (Subsidiarität) und die Einsetzung eines AdR beschlossen. Damit war die Hoffnung verbunden, den Regionen durch eine Stärkung der vertikalen Verflechtung eine effektive Vertretung auf EU-Ebene zu ermöglichen. Dies geschah nicht zuletzt auf Betreiben der deutschen Länder, die neue EU-bezogene Mitwirkungsrechte als Kompensation für Transfers von Länderkompetenzen auf die EU-Ebene einforderten (sog.e Let us in-Strategie).

Der AdR nahm 1994 seine Arbeit auf. Gemäß der offenen Definition von Regionen ist die Zusammensetzung des AdR heterogen. Intern ist der AdR mit seinen fünf politischen Fraktionen und sechs Fachkommissionen analog zu parlamentarischen Versammlungen untergliedert. Der AdR muss v. a. zu Fragen der Regional-, Kohäsions- und Strukturpolitik konsultiert werden; seine Stellungnahmen haben für die anderen EU-Organe beratenden Charakter. Eine weitere Stärkung erfuhren lokale und regionale Gebietskörperschaften im Allg.en und der AdR im Bes.n 2009 mit dem Lissabon-Vertrag. So kann der AdR gegen einen Rechtsakt vor dem EuGH Klage erheben, wenn er gegen das Subsidiaritätsprinzip verstößt. Zudem hat der AdR in den letzten Jahren seine Rolle ausbauen können und unterstützt die interregionale Kooperation durch die Organisation von Treffen (z. B. Europäische Woche), durch sein Subsidiaritätsnetzwerk und die Datenbank REGPEX. Gleichwohl sind die Legislativ- und Kontrollfunktion insgesamt schwach entwickelt.

Nicht zuletzt aus Enttäuschung über diesen mangelnden Einfluss haben v. a. die europapolitisch interessierten und starken („europafähigen“) Regionen komplementäre sog.e Leave us alone-Strategien entwickelt, die darauf abzielen, unabhängig vom Nationalstaat als Lobbyisten für die eigenen Regionalinteressen in Brüssel aufzutreten. Hierzu gehören etwa die Regionalbüros von Metropolregionen (z. B. FrankfurtRheinMain) und Euregios (z. B. Saar-Lor-Lux oder Tirol-Südtirol-Trentino) ebenso wie die offiziellen Vertretungen etwa der deutschen Länder oder Schottlands.

Insb. die 71 Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen in den sechs regionalisierten und Föderalstaaten sind darum bemüht, ihre innerstaatlichen Mitwirkungsrechte in EU-Angelegenheiten vis-à-vis ihren nationalen Regierungen auszubauen. Mit dem Subsidiaritätsprotokoll des Lissabon-Vertrags erhalten sie neue Mitwirkungsrechte, sofern von EU-Gesetzesinitiativen Belange betroffen sind, deren Regelung gemäß der innerstaatlichen Kompetenzordnung den Regionen obliegt. Hiervon haben überwiegend die Regionalregierungen profitiert, weniger die Regionalparlamente.

Der Begriff für grenzüberschreitende Europaregionen, die aus zwei und mehr Staaten bestehen, ist Euregio. Ihre horizontal angelegte, interregionale Zusammenarbeit zielt zumeist auf den wirtschaftlichen Bereich ab, umfasst aber auch umweltpolitische oder kulturelle Aspekte. Grundlage ist die sog.e Madrider Konvention des Europarats von 1980 über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen den Regionen Europas. Durch Programme der EU wie etwa INTERREG wird diese Kooperation gefördert; hierzu gehört z. B. die Donauraum- oder Ostseestrategie.

Die VRE als Versammlung der ca. 250 Regionen Europas ist formal ein Verein mit Sitz in Straßburg. Im VRE sind Regionen aus den EU-Staaten sowie auch aus Nicht-EU-Mitgliedstaaten organisiert. Dementsprechend ist nicht nur die EU, sondern auch der Europarat Adressat der VRE-Aktivitäten. Oberste Ziele sind die Unterstützung interregionaler Kooperation sowie die Stärkung von Regionen im EU-Politikprozess.

3. Theoretische Interpretation ihrer Rolle

Theorien europäischer Integration fokussieren zumeist auf die Mitgliedstaaten als zentrale Akteure. Die Rolle von Regionen wird durch das von Liesbet Hooghe und Gary Marks sowie Simona Piattoni entwickelte Konzept des Mehrebenenregierens (Multi-level Governance) erfasst. Die zentrale Annahme lautet, dass die Nationalstaaten nicht länger die alleinigen Akteure in der EU-Politik sind, sondern dass Entscheidungen im Zusammenspiel der supranationalen, nationalen und regionalen Ebene zustande kommen und die regionale Ebene auch selbständig Beziehungen zur EU-Ebene unterhält. Somit sei die vertikale Gewaltenteilung komplexer als in föderalen Modellen. Von hier ausgehend müsse auch die Frage nach der demokratischen Legitimation der EU unter Einbezug des Subsidiaritätsprinzips und der dritten Ebene diskutiert werden.

Der Begriff des Multi-Level Governance hat auch in den europapolitischen Debatten – allen voran im AdR – weite Verbreitung gefunden. Der AdR verabschiedete 2014 eine „Charta der Multilevel Governance in Europa“ und fordert darin alle Ebenen – von der lokalen bis zur EU-Ebene – auf, Prinzipien des Mehrebenenregierens zu nutzen und zu fördern. Insgesamt ist in der Debatte um ein E. d. R. Ernüchterung eingetreten. Der Beitrag der Regionen zur vertikalen sowie horizontalen Verflechtung und damit zum Fortschreiten der europäischen Integration wird heute realistischer eingeschätzt. So ist von einem „Europa mit den Regionen“ die Rede.