Europäisches Privatrecht

Version vom 4. Januar 2021, 11:07 Uhr von Staatslexikon (Diskussion | Beiträge) (Europäisches Privatrecht)

Der Begriff E. P. ist von der Wissenschaft geprägt. Er fand erst seit den 1980er Jahren größere Verbreitung und kennzeichnet ein zunehmendes Bewusstsein für europäische Gemeinsamkeiten im Privatrecht über die staatlichen und sprachlichen Grenzen hinweg. Nach Auffassung vieler Rechtswissenschaftler gehört die allmähliche Herausbildung eines E.n P.s zu den bedeutsamsten juristischen Entwicklungen der Gegenwart.

Privatrecht umschreibt dabei das Rechtsgebiet, das die Rechtsbeziehungen zwischen rechtlich gleichgestellten natürlichen wie juristischen Personen regelt. Der Gegenbegriff ist öffentliches Recht; das sind diejenigen Rechtsätze, die staatliche Stellen als Träger hoheitlicher Gewalt als solche berechtigen oder verpflichten. Gerade in der Zusammensetzung E. P. wird der Begriff Privatrecht sehr weit verstanden. Er bezeichnet nicht nur das in Deutschland überwiegend im BGB geregelte Zivilrecht, sondern auch zahlreiche Materien des sog.en Sonderprivatrechts wie Handelsrecht, Lauterkeitsrecht, Gesellschaftsrecht, Arbeitsrecht, Wettbewerbsrecht oder das Recht des geistigen Eigentums (Immaterialgüterrecht).

Der Begriff E. P. kann auch in Hinblick auf die damit gemeinten europäischen Rechtsquellen eine engere oder weitere Bedeutung haben. Je nach Zusammenhang kann er umschreiben:

a) den privatrechtlichen Teil des Rechts der EU, das sog.e Unionsprivatrecht oder EU-Privatrecht; dies umfasst nicht nur die Rechtsetzung der EU in VO und RL (Europarecht), sondern auch die Rspr. des EuGH, der Begriffe, Regeln und Grundsätze schafft, die für das gesamte Recht der EU maßgeblich sind; in der letzten Zeit finden auch die privatrechtlichen Wirkungen der völkerrechtlichen Verträge, die der EU zugrunde liegen, immer mehr Aufmerksamkeit;

b) den privatrechtlichen Teil des Rechts anderer europäischer Organisationen, insb. des Europarats und der EMRK;

c) diejenigen Teile des nationalen Privatrechts, die vom Recht der EU geprägt werden; dies sind zunächst die zahlreichen nationalen Gesetze zur Umsetzung von EU-Recht, aber auch die Einflussfelder der Rspr. des EuGH im nicht durch RL oder VO harmonisierten nationalen Recht;

d) von Rechtswissenschaftlern auf rechtsvergleichender Grundlage formulierte Werke mit Definitionen, Grundsätzen und Regeln des E.n P.s; Pionierfunktion hatten die Principles of European Contract Law, seitdem sind zahlreiche weitere hinzugetreten, von denen der durch Forschungsmittel der EU geförderte Draft Common Frame of Reference on European Private Law (2009) das bei weitem umfangreichste und politisch wohl ambitionierteste war; diese Arbeitsrichtung ist jedoch – auch aufgrund erheblicher Kritik im wissenschaftlichen Schrifttum – inzwischen weniger stark verbreitet;

e) Gemeinsamkeiten der nationalen Privatrechtsordnungen der europäischen Staaten; solche Gemeinsamkeiten werden häufig aufgrund der gemeinsamen Rechtstradition vieler Länder, nicht zuletzt durch den überragenden Einfluss des römischen Rechts, und durch ähnliche politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklungen erklärt.

E.P. ist daher kein einschichtiges geschlossenes Rechtsgebiet. Es besteht aus sehr zahlreichen größeren und kleineren Einzelbausteinen, die sich sowohl auf der Ebene des EU-Rechts als auch in den vielen nationalen Rechtsordnungen finden. Diese Einzelbausteine greifen in vielfacher Weise ineinander und beeinflussen sich wechselseitig, bilden aber ein nur sehr lückenhaftes Ganzes. Insb. die Gesetzgebung der EU ist das Produkt eher kurzfristiger politischer Entscheidungen und Entwicklungen, denen kein langfristiger übergreifender Plan zugrunde liegt. Zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten suchen durch Rechtsvergleichung und Aufarbeitung der rechtshistorischen Grundlagen nach gemeinsamen Strukturmerkmalen und zielen auf Systematisierung der vielen Teilgebiete.

Wesentliche Charakteristika des E.n P.s werden zum einen durch die gemeinsame europäische Rechtsentwicklung und ähnliche politische, ökonomische und gesellschaftliche Systeme, zum anderen durch die Ziele und Politiken der EU und der anderen europäischen Organisationen bestimmt. Einflussreich sind insb. die vier Grundfreiheiten der EU, also Warenverkehrs-, Dienstleistungs-, Personenverkehrs- und Kapitalverkehrsfreiheit, sowie die Menschenrechte und Grundfreiheiten der EMRK.

Eine Vorreiterrolle bei der Herausbildung des E.n P.s hatten die Rechtsgeschichte und die Rechtsvergleichung. Seitdem entstanden zahlreiche Lehrbücher, Schriftenreihen, Zeitschriften (ZEuP, ERPL, Europa e Diritto Privato), Sammlungen von Rechtsquellen sowie Casebooks, aus denen die „Ius Commune Casebooks for the Common Law of Europe“ herausragen. Die Entwicklung spiegelt sich auch innerhalb der Universitäten und der Juristenausbildung. Zahlreiche juristische Fakultäten bieten Studiengänge mit Ausrichtung auf das E. P. an. Es entstehen Institute, Graduiertenkollegs und Lehrstühle für E. P. oder Europäisches Wirtschaftsrecht.

Die Entwicklung des E.n P.s als eigenständig wahrgenommenes und beforschtes Rechtsgebiet war nicht nur maßgeblich durch das Fortschreiten der Rechtssetzung der EU beeinflusst, sondern hat auch auf die Rechtsetzung der EU zurückgewirkt. Insb. der Draft Common Frame of Reference hat mehrfach bei der Abfassung von EU-Rechtsakten als Inspirationsquelle gedient. Jedoch ist sein Einfluss insgesamt weit hinter den Erwartungen einiger Beteiligter zurückgeblieben, die darin eine Blaupause für ein zukünftiges europäisches BGB sahen. Der auf Grundlage des Draft Common Frame of Reference ausgearbeitete Entwurf eines Gemeinsamen Europäischen Kaufrechts wurde trotz nachdrücklicher Unterstützung durch das &pfv;Europäische Parlament nicht verabschiedet, da mehrere Mitgliedstaaten im Rat der Europäischen Union blockierten. Die Rechtsetzung der EU auf dem Gebiet des Privatrechts beschränkt sich nach wie vor auf zahlreiche Einzelmaßnahmen. In den letzten 25 Jahren scheinen die wichtigsten Triebkräfte für privatrechtliche EU-Rechtsakte technische Entwicklungen, insb. in den Bereichen Telekommunikation und Digitalisierung, gewesen zu sein.