Erinnerungskultur

Version vom 20. November 2019, 17:36 Uhr von Staatslexikon (Diskussion | Beiträge) (Erinnerungskultur)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)

Bei E. handelt es sich um einen Neologismus, der erst seit den 1990er Jahren Eingang sowohl in die Wissenschaftssprache als auch in den allgemeinen Sprachgebrauch fand. Die hiermit bezeichneten Phänomene lassen sich jedoch schon im Totenkult vorantiker Gesellschaften beobachten. Im Kern verweist der Begriff auf den jeder Epoche und jeder Gesellschaft eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten, in deren Pflege sie ihr Selbstbild stabilisieren und vermitteln. Darüber hinaus erweist sich die Reflexion über das Erinnern in der Wirkungsgeschichte des platonischen Anamnesisbegriffs als Gegenstand einer kontinuierlichen philosophisch-historischen Diskussion (Geschichte, Geschichtsphilosophie). Erste grundlegende methodische Überlegungen zur E. finden sich in den Werken der geistigen Ahnherren der modernen Gedächtnisforschung Friedrich Nietzsche, Aby Warburg und Maurice Halbwachs.

1. Definitionen

In einer engen Begriffsauffassung versteht man unter E. den lockeren Sammelbegriff „für die Gesamtheit des nicht spezifisch wissenschaftlichen Gebrauchs der Geschichte in der Öffentlichkeit – mit den verschiedensten Mitteln und für die verschiedensten Zwecke“ (Hockerts 2002: 40). Ein weiter gefasstes Begriffsverständnis subsumiert hierunter alle denkbaren Formen der öffentlichen Erinnerung an historische Ereignisse und Prozesse, seien sie ästhetischer, politischer oder kognitiver Natur. Der Begriff umschließt mithin neben Formen des ahistorischen oder sogar antihistorischen kollektiven Gedächtnisses sämtliche Modi der Repräsentation des Vergangenen, darunter auch den geschichtswissenschaftlichen Diskurs (Geschichtswissenschaft) sowie „private“ Erinnerungen, soweit sie öffentlich werden. Als Träger der E. treten Individuen und soziale Kollektive in Erscheinung, wobei neben den meist nur privat gepflegten Familiengedächtnissen lokale, regionale, nationale und zuweilen transnationale Räume die Grenzen von E. markieren. Innerhalb dieser Parameter vollzieht sich fortlaufend eine Verständigung über Erinnerungen, entweder in Übereinstimmung, teilweise aber auch in einem konfliktreichen Gegeneinander.

2. Kollektives Gedächtnis

In der wissenschaftlichen Forschung steht das Konzept E. in einem engen begrifflichen und erkenntnistheoretischen Bezug zum Terminus „kollektives Gedächtnis“. Hierfür ist die Theorie des französischen Soziologen M. Halbwachs maßgeblich, der zufolge auch das Individuum in seiner Erinnerung auf Anhaltspunkte angewiesen ist, „die außerhalb seiner selbst liegen und von der Gesellschaft festgelegt worden sind“ (Halbwachs 2006: 35). Darüber hinaus haben der Ägyptologe Jan Assmann und die Anglistin Aleida Assmann die Unterscheidung zwischen einem „kommunikativen“ sowie einem „kulturellen“ Gedächtnis in die Debatte über E. eingeführt. Während die erste Bezeichnung sich auf die Erinnerung an tatsächliche bzw. mündlich tradierte Erfahrungen bezieht, die Einzelne oder Gruppen von Menschen gemacht haben und die meist über drei Generationen hinweg überliefert werden, handelt es sich bei dem Begriff „kulturelles Gedächtnis“ um ein epochenübergreifendes Konstrukt. Dieses bezieht sich auf ein kollektiv geteiltes Wissen über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Eigenheit und Eigenart stützt. Zu diesem Zweck verwendet sie unterschiedliche Textsorten, Bilder, Denkmäler, Bauten, Feste sowie symbolische und mythische Ausdrucksformen. Weiterhin gehören hierzu gedankliche Ordnungen, wenn sie zur Formierung kulturell begründeter Selbstbilder führen.

3. Soziokulturelle Rahmenbedingungen

Die zuletzt stark gestiegene Konjunktur sowohl in der öffentlichen Beachtung als auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit E. gründet zum einen auf einer seit den 1970er Jahren in den westlichen Industriestaaten eingetretenen mentalitätsgeschichtlichen Wende. Damit ging ein steigendes Bedürfnis nach der Historisierung der Gegenwart einher, was insgesamt die Suche nach kollektiven Identitäten begünstigte. Zum anderen beförderten die kulturgeschichtliche Erweiterung zahlreicher akademischer Disziplinen sowie eine stärker interdisziplinär angelegte Forschung die Beschäftigung mit Formen und Inhalten der Erinnerung. Darüber wurden stärker auch naturwissenschaftliche, neuromedizinische und sozialpsychologische Ansätze in die Erforschung von E. integriert. Hatte sich das wissenschaftliche Interesse zunächst auf Denkmäler (Denkmal), Rituale und politische Feste konzentriert, verlagerte es sich danach auf ein breiter verstandenes Konzept. Wesentliche Anstöße dazu stammten aus Frankreich, wo Studien zu nationalen Erinnerungsorten ein beträchtliches Echo hervorriefen. Zahlreiche nationale Parallelprojekte sind ihnen inzwischen in anderen Ländern gefolgt und lösten darüber eine breite gesellschaftliche Debatte über kollektive Identitäten aus. Zusätzliche Impulse gingen seit Ende der 1980er Jahre vom Untergang der kommunistischen Regime in Ost- und Ostmitteleuropa aus, meldeten sich doch danach viele kollektive Gedächtnisse in der Öffentlichkeit zurück, die zuvor jahrzehntelang verschüttet oder marginalisiert worden waren. Die wissenschaftliche Erforschung von E. erstreckt sich heute vom vorantiken Totenkult bis zum Formenwandel nationaler Gedenkfeiern und der symbolischen Vergegenwärtigung des Vergangenen in der Gegenwart. In der Zeitgeschichte gehören die beiden Weltkriege und ihre lang währenden Nachwirkungen zu bevorzugten Untersuchungsfeldern. Auch methodisch ist eine Ausdifferenzierung zu beobachten, werden doch inzwischen ebenfalls die virtuellen und multikulturellen Rahmenbedingungen moderner E. analysiert.

4. Holocaust-Gedächtnis

Die beträchtliche Konjunktur des Konzepts E. verdankt sich seit den 1990er Jahren ebenfalls einer transnationalen Tendenz zur Vertiefung des Holocaust-Gedächtnisses (Shoa). Ein wichtiger Anstoß ging hierfür von den internationalen Feiern zum 50. Jahrestag des Kriegsendes in Europa aus, aber erst mit der Stockholmer Internationalen Holocaust-Konferenz vom Januar 2000 rückte das Bemühen vieler Regierungen in den Vordergrund, den Völkermord an den Juden zu einem gemeinsamen, wenngleich negativen Hauptbezugspunkt einer europäischen E. zu bestimmen. Damit ging ein grundlegender Perspektivenwandel einher, der als ein sich beschleunigender Prozess einer Geschichtsbetrachtung aus der Opferperspektive begriffen werden kann. Zunehmend werden seitdem die Opfer in das Zentrum der E. gerückt, während in der Vergangenheit heldische Narrative im Vordergrund standen. Ob jedoch – wie zuletzt von vielen Seiten gefordert – die Erinnerung an den Holocaust tatsächlich zu einem herausragenden Bezugspunkt eines im Entstehen begriffenen, transnationalen Gedächtnisses werden kann, bleibt abzuwarten. Kritische Stimmen beobachten vielmehr einen Trend hin zu einer historischen „Viktimisierung“, bei dem es oftmals zu einer problematisch anmutenden Überidentifikation mit den Opfern des Holocaust komme.