Epoche

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1. Begriff

Das Wort E. stammt aus dem Altgriechischen und wurde seit Anfang des 4. Jh. v. Chr. zunächst vorwiegend auf astronomische Sachverhalte angewendet: Epoché bezeichnete das Anhalten, Unterbrechen, Zurückhalten oder Hemmen eines Verlaufs. Polybios nutzte es, um von einem Haltmachen militärischer Kampfverbände und einer Unterbrechung des Kriegs, Plutarch, um von einer Hemmung eines Geschehensablaufs oder von der Konstellation (epoché astéphon) zweier Himmelskörper zu sprechen. Der antike Pyrrhonismus und die Stoa verwendeten das Wort Epoché zur Bezeichnung für die Zurückhaltung einer Rede bzw. einer Entscheidung. Der Skeptiker Arkesilaos verglich die innehaltende Epoché „mit der Abwehrhaltung eines Faustkämpfers“ und „dem Anhalten eines Renngespanns“. Chrysipp bezeichnete damit die Aussetzung eines Urteils, Cicero die Zurückhaltung einer definitiven Entscheidung (id est adsensionis retentio) und der Mediziner Galenos eine „Vermeidung alles definitiven Urteilens“, eine „Unbestimmtheit“. In diesem Bedeutungsfeld wird Epoché (mit Akzentschreibung) bis heute als philosophischer Fachterminus benutzt.

Gegenüber Epoché etablierte sich E. (ohne Akzentschreibung) seit der Frühen Neuzeit als chronologisch-historischer Ordnungsbegriff. Andreas Kamp führt die Chronologien von Jean Bodin, Paul Crusius und Leonhard Krentzheim aus dem 16. Jh. als Meilensteine dieser Entwicklung an. E. stand nun für den Anfangspunkt (Nullpunkt) eines Zeitalters (tempus, saeculum), einer Ära oder Periode, etwa das Anfangsjahr der Welt oder des Christentums. Als deutsche Übersetzung wurden die Wörter „Denk-Zeit“, „Jahr-Termin“ und v. a. „Jahr-Zahl“ verwendet. So definierte Johann Heinrich Zedlers „Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste“ den Begriff „Antiochische E.“ (d. h. Anfangsjahr der Antiochenischen Ära) als „Jahr-Zahl“, die „von einigen Geschichts-Schreibern gebrauchet“ wird (Zedler 1732: 587). Charakteristisch für diesen heute ungebräuchlichen E.n-Begriff ist, dass E. in objektivistischem Verständnis als Anfangszeitpunkt im Rahmen konventioneller Zeitrechnungen (Kalender) auf ein Jahr, einen Termin oder ein Datum (als Gegebenes) bezogen und nicht als Anfang an sich verstanden wurde und nicht mit einem geschichtlichen Ereignis verbunden war.

Die moderne Begriffsdefinition entstand im Zuge einer allgemeinen Verzeitlichung von Denkbegriffen und einer Emanzipation des Geschichtsdenkens von theologischen und philosophischen Vorgaben (etwa der heilsgeschichtlichen Geschichtsdeutung oder später der aufklärerischen, hegelschen und marxschen Geschichtsphilosophie [ Geschichte, Geschichtsphilosophie ]) während der Sattelzeit. E.n sind Ausdruck eines modernen Bemühens, eine Welt zu verstehen, die raschem Wandel unterworfen empfunden wird. Das Verständnis von E. als Zeitpunkt wich dem durativen Konzept von E. als Zeitraum. E. wurde weitgehend zum Synonym für Periode, Ära, Zeitalter etc. mit einem epochenbegründenden Anfangsereignis, das eine Zäsur – eine E.n-Schwelle – zu einem vorangegangenen Zeitraum markiert. Dementsprechend endet eine E. mit einem Schlussereignis, das das Anfangsereignis – und damit eine erneute E.n-Schwelle – zu einer Folge-E. darstellt (z. B. E. I: Zarenreich – Ereignis/E.n-Schwelle: 1917 Russische Revolution – E. II: Sozialistische Herrschaft).

Die seit der Sattelzeit etablierte Verbindung des modernen E.n-Begriffs als größtmöglichem zeitlichen Strukturierungsbegriff mit dem Begriff eines historischen Ereignisses als kleinstmöglichem zeitlichen Strukturierungsbegriff ist von besonderer Bedeutung. Denn es ist charakteristisch für eine E., dass das Anfangsereignis und ggf. die Einordnung einer E. in eine Kette vorangegangener und/oder folgender E.n einen spezifisch historischen Sinn konstruieren. So erhält z. B. die E. Neuzeit jeweils einen anderen spezifischen Sinn, wenn man sie geistesgeschichtlich mit der Entdeckung Amerikas, technikgeschichtlich mit der Erfindung des Buchdrucks, theologiegeschichtlich mit der Reformation, politikgeschichtlich mit der Eroberung Konstantinopels oder wahrnehmungsgeschichtlich mit der Entwicklung eines Bewusstseins, in einer neuen Zeit zu leben, beginnen lässt. Ein spezifischer Sinn der E. Mittelalter ergibt sich aus ihrer Mittelstellung zwischen Antike und Neuzeit. Den Konstruktionscharakter von E.n betonte etwa Johann Gustav Droysen, der in seiner „Historik“ darauf hinwies, „daß es in der Geschichte sowenig E.n gibt wie auf dem Erdkörper die Linien des Äquators und der Wendekreise“. E.n sind nach J. G. Droysen „Betrachtungsweisen (…), die der denkende Geist dem empirisch Vorhandenen gibt, um sie desto gewisser zu fassen“ (Droysen 1977: 371).

2. Epoche und Periodisierung

Die Ordnung der Zeit in E.n bezeichnet man als Periodisierung. Abgeleitet vom altgriechischen Wort períodos (Herumgehen, Kreislauf, Zirkel), bezeichneten Perioden zunächst Strukturen eines Verlaufs in zyklischen Geschichtssystemen. Mit Aufkommen der christlichen Heilsgeschichte änderte sich dieses Verständnis: Perioden im historischen Verständnis waren nun einmalige Zeiträume in linearen Geschichtssystemen, Periodisierungen der konstruktive Akt der Festlegung solcher Zeiträume. Die E.n-Konstruktion ist eine Form von Periodisierung, die sich von rein formalen Arten der Periodisierung unterscheidet. Solche basieren v. a. auf konventionellen Zeitrechnungen (Kalendern). So sind etwa die Rede vom „19. Jh.“, den „60er Jahren“ oder der „Zeit um die Jahrhundertwende“ Periodisierungen der Geschichte, doch sind die genannten Zeiträume keine E.n im engeren Begriffsverständnis: Ihnen fehlen das zäsurmarkierende, epochenbegründende Anfangsereignis und die Möglichkeit, über die Setzung von E.n-Grenzen Sinn zu bilden.

Formale Periodisierungen zeichnen sich im Gegensatz zu E.n dadurch aus, dass sie

a) konventionell sind (also auf einer durch Konvention in Kraft gesetzten Zeitrechnung, einem Kalender beruhen),

b) universell sind (also mittels Konkordanzwerken auf andere Zeitrechnungen übertragbar).

In diesem Verständnis kann man vom „19. Jh.“ in den Kulturen Europas, Asiens oder Afrikas sprechen, auch wenn dort selbst andere Kalendersysteme in Gebrauch sind. Allerdings ist auch diese Universalisierbarkeit eine rein formale. Denn es bleibt zu bedenken, dass die Zeitgenossen in den jeweiligen Kulturen außerhalb des Gregorianischen bzw. Julianischen Kalenders ihre eigene Zeit nicht als 19. Jh. wahrgenommen haben, ebenso wie die Römer beim Untergang der Republik nicht in dem Bewusstsein lebten, sich im Jahr 27 v. Chr. zu befinden. Ebenfalls zu bedenken ist, dass kalendarische Ordnungen zwar meist „objektiv“ benutzt werden, also ohne einen besonderen Bezug auf ihren Nullpunkt, de facto aber fast immer auf Gründungsereignisse (etwa die Geburt Christi) rekurrieren. Geht man nicht „objektiv“-formal (d. h. auf einen absoluten Nullpunkt bezogen) davon aus, dass das Jahr 1900 nach Ablauf des letzten Tages des Jahrs 1899 beginnt, sondern dass es eintausendneunhundert Jahre nach dem Tod Jesu Christi beginnt, dann beziehen wir uns auf ein Anfangsereignis und laden die Bezeichnung „1900“ mit Sinn auf. Das „19. Jh.“ bekommt in diesem Fall einen E.n-Charakter, den es nicht hatte, so lange man die Kalenderrechnung rein „objektiv“-formal verwendete. In diesem Fall ist die Festsetzung des Zeitraums epochentypisch auch wieder kulturgebunden und nicht universalisierbar. Der Unterschied zwischen E.n und formalen Periodisierungen entspricht dem Unterschied von Geschichtswissenschaft und Chronologie. Während Letztere auf einer Zeitleiste ein „dann und dann und dann …“ rein temporal abbildet, trifft Erstere Aussagen über kausale und konsekutive Zusammenhänge historischer Entitäten.

3. Epochen und historische Sinnbildung

Die E.n-Konstruktion ist immer an einen kulturellen Deutungsrahmen rückgebunden und immer narrativ sinnbildend. Sie setzt historisches Wissen voraus und sie formt als Schaffung von Interpretationsrahmen historisches Wissen und historische Narrative. Historisches Wissen setzt die E.n-Konstruktion insofern schon voraus, als ihr eine Thesenbildung zugrunde liegt, die in einem heuristischen Prozess aus dem Umgang mit historischem Material hervorgegangen ist. So definierte etwa Eric Hobsbawm die E. zwischen 1914 und 1991 als „Zeitalter der Extreme“, das von totalitären Ideologien geprägt sei. Als sinngebende Zäsuren für seine E. diente ihm dabei der Zusammenbruch des europäischen Staatensystems mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs, formal mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien am 28.7.1914 initiiert, und das Ende der Sowjetunion (und des Warschauer Pakts), das formal mit der Alma-Ata-Deklaration vom 21.12.1991 datiert werden kann. Zudem konnte E. Hobsbawm mit dem „Zeitalter der Extreme“ an seine eigene Periodisierung der Moderne anschließen, innerhalb derer er ein Zeitalter der Revolutionen 1789–1848, ein Zeitalter des Kapitals 1848–1875 und schließlich ein imperiales Zeitalter 1875–1914 unterschieden hatte.

Hobsbawms Periodisierung steht im Gegensatz zu anderen Periodisierungen, in Deutschland etwa zu Heinrich August Winklers These vom „Langen Weg nach Westen“, der mit der Denkfigur des deutschen Sonderwegs arbeitet und die Zeiträume 1806–1933 und 1933–1990 als E.n markiert. Die Unterschiede zwischen beiden Periodisierungen und den mit ihnen verbundenen Narrativen beruhen auf der Setzung unterschiedlicher Untersuchungsräume, u. a. aber auch auf unterschiedlichen philosophisch-politologischen Thesensetzungen, die maßgebend für Aussageintention und Sinnbildung sind, die über historisches Wissen vermittelt werden sollen. Als Interpretationsrahmen dient die sinn- und thesengeleitete E.n-Konstruktion weiterer Forschung. So übertrug etwa Lutz Raphael E. Hobsbawms für die politische und in gewissem Maße auch für die Geistesgeschichte entwickelte Periodisierung mit wissenschaftsgeschichtlichem Interesse auf die „Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme“.

4. Epochen, Ereignisse und Epochenschwellen

Auch über die Wissenschaft hinaus haben E.n eine strukturierende sinnbildende Funktion und werden aus diesem Grund als Mittel historisch-politischer Erziehung eingesetzt. Dies hat dazu geführt, dass E.n im allgemeinen Bewusstsein häufig nicht als Konstruktionen, sondern als Gegebenheiten verstanden werden. Der Grund hierfür sind Traditionen der Geschichtsvermittlung über Schulbücher und populäre Darstellungen spätestens seit dem 19. Jh.: Mit eurozentrischem bzw. westlichem Blick auf die Weltgeschichte etablierte sich so v. a. die Unterscheidung zwischen Antike, Mittelalter und Neuzeit. Die im Historismus ausgebildete Gleichsetzung von Geschichte mit politischer Geschichte führte zudem dazu, dass staatengeschichtlich orientierte Periodisierungen bis in die Gegenwart als selbstverständlich und „gegeben“ erscheinen, etwa die Gliederung der deutschen Geschichte in Kaiserreich 1870/71–1918 – Weimarer Republik 1918–1933 – „Drittes Reich“ 1933–1945. Eine vergleichbare Kanonisierung von E.n ist auch in den Periodisierungen einzelner Wissenschaften zu beobachten, wo bestimmte Werke, Erfindungen und Entdeckungen als epochenbegründende Ereignisse herangezogen werden, so etwa die literaturgeschichtliche Periodisierung in Klassik – Romantik – Literatur des Vormärz-Realismus.

Erkennbar ist, dass E.n dann eher als Konstruktionen wahrgenommen werden, je weniger die Ereignisse, die sie begründen, auf ein bestimmtes Datum festgelegt werden können. So wird z. B. die (deutsche) literaturgeschichtliche E. „Realismus“ in Wissenschaft wie in öffentlichem Bewusstsein heute eher als Konstruktion angesehen als die zeitgleiche (deutsche) politikgeschichtliche E. „Reaktionsära“ vom Scheitern der Revolution 1848 bis zur Gründung des Deutschen Reichs 1871.

Ein E.n-Bewusstsein ist also besonders manifest, wenn es

a) über Traditionen der Geschichtsforschung und der Geschichtsvermittlung etabliert ist,

b) E.n-Schwellen erkennt, die in möglichst objektivierbarer Weise „datierbar“ sind und dadurch in hohem Maße Plausibilität beanspruchen können.

Aus diesem Grund erscheint der Übergang zwischen den literatur- bzw. kulturgeschichtlichen E.n „Klassik“ und „Romantik“, bei dem immer auch Übergangsformen angenommen werden (Werke, die Stilelemente beider E.n in sich vereinen; Autoren, deren Werke beiden E.n zugerechnet werden können), vergleichsweise „weich“ gegenüber „harten“ Periodisierungen, die mit singulären, zeitlich eng eingrenzbaren Ereignissen arbeiten, etwa der Trennung zwischen der E. der „Napoleonischen Kriege“ und der „Restaurationszeit“, die sich taggenau mit der Unterzeichnung der Wiener Kongressakte auf den 9.6.1815 datieren lässt.

„Harte“ E.n-Schwellen erscheinen als Paradigmenwechsel: Was vorher geltend und bestehend war, wird schlagartig und vollständig durch etwas Neues ersetzt, was nach der E.n-Schwelle anstelle des Alten gilt und besteht. So wurde etwa mit Wirkung vom 3.10.1990 durch den Einigungsvertrag zwischen Bundesrepublik und DDR die alte DDR-Verfassung außer Kraft gesetzt, Staatsgrenzen wurden neu definiert, alte Gesetze und Rechte durch neue ersetzt etc. Solche „harten“ E.n-Schwellen sind kein ausschließliches Charakteristikum politikgeschichtlicher Periodisierungen; sie finden sich auch in anderen Wissenschaftsgeschichten wie etwa der Literaturgeschichte, in der die E. des Futurismus mit der Veröffentlichung von Filippo Tommaso Marinettis „Manifeste de Futurisme“ (1909) oder in der Technikgeschichte, in der der Beginn des Atomzeitalters mit der Entdeckung der Kernspaltung durch Otto Hahn und andere (1938) bzw. dem Abwurf der ersten Atombombe (1945) datiert werden.

5. Epochenkonstruktionen, das Epochale und die Erfahrungen der Zeitgenossen

E.n-Konstruktionen werden post festum, z. T. in langer zeitlicher Distanz und verbunden mit der Annahme eines E.n-Endes vorgenommen. Die für sie als Begründung angeführten Ereignisse wurden aber fast immer in ihrer Bedeutung schon von den Zeitgenossen als „epochal“ eingeschätzt. So darf man davon ausgehen, dass die Unterzeichner des Einigungsvertrags ihr Handeln ebenso als „epochal“ empfanden wie die Verantwortlichen für den Abwurf der ersten Atombombe; auch die Menschen, die im November 1918 vom Ende des Kriegs erfuhren, dürften dieses Ereignis als „epochal“ gedeutet haben. Bei epochenbegründenden Ereignissen handelt es sich also um Ereignisse, die bereits von den Zeitgenossen als Ende einer alten und Beginn einer neuen Zeit erfahren wurden. Dabei gibt es drei signifikante Unterschiede zwischen der „Erfahrung des Epochalen“ und der „Konstruktion einer E.“:

a) Den Zeitgenossen, die ein bestimmtes Ereignis als epochal, als E.n-Schwelle also, erfahren, ist das Ende der jeweils beginnenden E. nicht bekannt; leitend für ihre Erfahrung ist lediglich die Erkenntnis, dass etwas Altes beendet wird und etwas Neues beginnt, von dem man aber nicht weiß, wohin es führt und wie es endet.

b) Damit verbunden fehlt den Zeitgenossen eine Thesensetzung, wie sie für die Konstruktion von E.n charakteristisch ist; den Zeitgenossen von 1918 mag bewusst gewesen sein, dass eine E. endete, die von Wilhelminismus, Imperialismus etc. geprägt war, aber sie hatten kein Wissen über die Charakteristika der zeitlich vor ihnen liegenden Weimarer Republik; die Zeitgenossen im 18. Jh. mögen sich selbst als Protagonisten einer neuen, durch das Paradigma der Aufklärung geprägten Zeit begriffen haben, aber auch sie wussten nicht, was auf die Aufklärung folgt.

c) Schließlich haben sich nicht alle Ereignisse, die von den Zeitgenossen als epochal erfahren wurden, post festum als so bedeutsam herausgestellt, dass sie später für E.n-Konstruktionen verwendet worden wären.

Aus den genannten Gründen muss man zwischen der „Erfahrung des Epochalen“ bzw. der „Erfahrung von E.n-Schwellen“ und der „Konstruktion einer E.“ klar unterscheiden. Erstere ist Voraussetzung für Letztere, ist wie diese von der Vorstellung geprägt, dass etwas Zurückliegendes beendet ist, ist aber im Gegensatz zur E.n-Konstruktion zeitlich offen und inhaltlich unbestimmt. Folgt man einer präzisen Begriffsdefinition, kann man also nicht von der Gegenwart nach 1990 in Deutschland als E. der „Berliner Republik“ sprechen, auch wenn die mit dem Einigungsvertrag markierte E.n-Schwelle als epochales Ereignis gilt, denn das Ende der Berliner Republik liegt in der Zukunft. Formal entspricht die „Erfahrung des Epochalen“ dem Zeitpfeil eines Prozesses mit Anfangspunkt und offenem Zeitverlauf, die „Konstruktion einer E.“ dagegen einem geschlossenen Zeitraum mit Anfangs- und Endpunkt.

6. Epochen im Zeitalter der Globalisierung

Zwar wird der E.n-Begriff in jüngeren Diskussionen nicht prinzipiell in Frage gestellt, doch muss man ihn im Zeitalter der Globalisierung kritisch hinterfragen. Seine Kulturgebundenheit macht ihn erstens für kulturvergleichende Ansätze unbrauchbar, denn man kann z. B. keine Untersuchung der E. „Weimarer Republik“ in Deutschland, Ägypten oder Brasilien vornehmen. Sogar die einzelnen für diesen Fall geltend zu machenden Zäsuren – das Ende des Wilhelminischen Reichs und der Beginn nationalsozialistischer Herrschaft – sind für die Geschichte Ägyptens oder Brasiliens keine epochenbegründenden Ereignisse. Zudem lassen sich zweitens bislang übliche Periodisierungen der Weltgeschichte im nach-imperialen Zeitalter kaum mehr unhinterfragt verwenden und anderen Kulturen aufoktroyieren. Die Trennung zwischen Antike – Mittelalter – Neuzeit kann bestenfalls als Interpretationsrahmen auf die Geschichte der abendländischen Welt (Abendland) angewendet werden; eine Rede von einer chinesischen Antike oder einem australischen Mittelalter wäre Unsinn. Auch asynchrone E.n-Vergleiche sind drittens problembehaftet, etwa wenn man die E. der Aufklärung im Islam (Zeit des Averroes, Avicenna etc.) mit der europäischen Aufklärung des 18. Jh. vergleicht und dabei jeweilige zeitgenössische Rahmenbedingungen notwendigerweise nivelliert.

Voraussetzung für die Konstruktion „Globaler E.n“ sind „Weltereignisse“, zu denen man die beiden Weltkriege ebenso zählen kann wie den Abwurf der Atombomben und den Anschlag auf das World Trade Center 9/11. Zwar wird die Zahl solcher Weltereignisse in einer Zeit zunehmender Kulturverflechtung und medialer Vernetzung künftig zunehmen, für das 20. Jh. reicht sie allerdings kaum aus, um damit sinnvolle Periodisierungen der Weltgeschichte vorzunehmen; für die Jahrhunderte zuvor ist dieses Unterfangen gar nicht möglich.

Das Problem, für eine globalisierte Geschichtsbetrachtung keine sinnvolle, universale Periodisierung leisten zu können, stellt den E.n-Begriff nicht prinzipiell in Frage, sondern weist diesen erneut als konstruierten Interpretationsrahmen mit bestimmten Leistungsmöglichkeiten, aber auch Leistungsgrenzen aus. E.n eignen sich nicht für eine globale Geschichtsbetrachtung frei von kulturimperialistischem Anspruch; sehr wohl aber können sie zur Deutung zeitlicher Phänomene und Prozesse innerhalb einzelner Kulturkreise verwendet werden und leisten hier als narrative Orientierungen in der Zeit wichtige Dienste für Wissenschaft wie öffentliches Geschichtsbewusstsein.