Entnazifizierung

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1. Begriff

Nach der militärischen Niederwerfung der NS-Diktatur (Nationalsozialismus) sollte die E. im besetzten Deutschland eine neue Führungsschicht etablieren und alle diejenigen ausschalten, die aufgrund ihrer politischen Vergangenheit für den Aufbau eines demokratischen Staatswesens (Demokratie) als nicht geeignet erschienen. Von der E. als politischer Personalsäuberung zu unterscheiden ist die pauschale Internierung mutmaßlicher NS-Aktivisten und NS-Verbrecher im Zuge des automatischen Arrests 1945/46 (Westzonen: rund 182 000 Personen, Ostzone: 122 000) sowie die Strafverfolgung von NS- und Kriegsverbrechen durch alliierte und deutsche Gerichte. In der Praxis konnten sich die Alliierten weder bei der Internierung noch bei der E. auf ein einheitliches Vorgehen einigen. Die auf der Potsdamer Konferenz (Potsdamer Protokoll) im August 1945 beschlossenen Grundsätze zur politischen Säuberung besaßen daher eher deklamatorischen Charakter. Auch nach dem Erlass der E.s-Direktive Nr. 24 des Alliierten Kontrollrats im Januar 1946, die nahezu unverändert die schematischen Formalbelastungskategorien der amerikanischen USFET-Direktive von Juli 1945 übernahm, blieben Verfahren und Ergebnisse in jeder Besatzungszone unterschiedlich.

2. Westzonen

Am schärfsten verfuhr von den Westmächten die amerikanische Besatzungsmacht. Waren die ursprünglichen Planungen von einem begrenzten Elitenaustausch ausgegangen, so zielten die Direktiven unter dem Schock der ungeheuren NS-Verbrechen bald auf die generelle Entlassung aller NSDAP-Mitglieder ab. In der Praxis konzentrierte sich die Säuberungsenergie auf den öffentlichen Dienst. Bis Ende März 1946 entließ die US-Militärregierung nach schematischen Kriterien rund 140 000 Beschäftigte des öffentlichen Dienstes und 69 000 Beschäftigte aus Handel, Gewerbe und Industrie. Rechnet man abgewiesene Bewerber hinzu, so waren von der E. rund 337 000 Personen betroffen. In der französischen und der britischen Zone erreichten die Maßnahmen nicht diese Schärfe. Charakteristisch waren hier großzügig erteilte Ausnahmeregelungen sowie die faktische Privilegierung ganzer Berufsgruppen, insbes. des Bergbaus und der Landwirtschaft. Dennoch war der 1945/46 geführte Schlag von enormer Wucht. Er warf in den Westzonen weit über eine halbe Mio. NSDAP-Mitglieder aus ihrer beruflichen Existenz.

Der weitgehende Zusammenbruch der öffentlichen Verwaltung erzwang eine Revision des Säuberungsverfahrens. Im März 1946 trat daher in der US-Zone das deutsche „Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus“ in Kraft, das ein Jahr später auch zum Vorbild entsprechender Regelungen in der französischen und britischen Zone werden sollte. Es übertrug die Durchführung der E. auf deutsche Spruchkammern, einer Laienbürokratie in schöffengerichtlicher Verfassung. In einem justizförmigen Verfahren hatten die Kammern die politische Belastung aller Mitglieder der NSDAP und anderer NS-Organisationen individuell zu überprüfen und in fünf Kategorien einzustufen: Hauptschuldige (I), Belastete (II: NS-Aktivisten, Militaristen, Nutznießer), Minderbelastete (III), Mitläufer (IV), Entlastete (V). Festgelegte Verfahrensregeln waren die Erforschung der Wahrheit von Amts wegen, die Vernehmung von Zeugen, der Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör und Rechtsbeistand. Die Widerlegung der Schuldvermutung entsprechend den Formalbelastungskriterien oblag dem Betroffenen und stellte die Hauptaufgabe der Verteidigung dar, wobei die Umkehrung der Beweislast in der deutschen Öffentlichkeit heftige Kritik auslöste. An Sühnemaßnahmen konnten die Spruchkammern ein abgestuftes Repertoire von Arbeitslager und Vermögenseinzug über den Verlust der Pensions- und Rentenansprüche bis zu Geldstrafen für Mitläufer verhängen.

Entgegen dem rigiden Wortlaut des Gesetzes führte die Einzelfallprüfung zu einer weitgehenden Rehabilitierung, was bereits Entlassenen, wenn sie als Mitläufer galten, die Wiederbeschäftigung ermöglichte. So stuften die Spruchkammern bis Ende 1949 nach Auswertung von über 13 Mio. Fragebogen lediglich 1 654 Personen als Hauptschuldige (I) und weitere 22 122 als NS-Aktivisten (II) ein; hinzu kamen 106 000 Minderbelaste (III), die während einer Bewährungsfrist von drei Jahren keine leitende Tätigkeit ausüben durften. In der britischen und französischen Besatzungszone fiel die Urteilspraxis noch milder aus.

3. Ostzone

Die sowjetische Militärregierung besaß 1945 kein ausgearbeitetes Konzept, so dass die deutschen Auftragsverwaltungen zunächst über einen relativ großen Spielraum verfügten. Lediglich im Justizwesen ordnete die Sowjetische Militäradministration im September 1945 die generelle Entlassung aller NSDAP-Mitglieder an. Bis Ende 1946 wurden in der SBZ rund 390 000 Personen entlassen bzw. nicht wieder angestellt. Der entscheidende Unterschied zu den Westzonen lag nicht in Rigorosität und Umfang der Entlassungen, sondern in den politischen Vorgaben zur Neubesetzung der Positionen. In der SBZ diente die E. von Anfang an der Durchsetzung des kommunistischen Machtanspruchs (Kommunismus), da KPD/SED-Mitglieder systematisch gegenüber Mitbewerbern aus bürgerlichen Parteien bevorzugt wurden. Nicht zuletzt diente die E. auch vielfach als Vorwand für „wilde“ Enteignungsmaßnahmen von Unternehmern und Gewerbetreibenden.

Im Dezember 1946 erfolgte eine zonenweite Neuregelung der E. auf Basis der alliierten Kontrollratsdirektive Nr. 24 von Januar 1946. Zuständig für das Verfahren waren neu gebildete Kommissionen, die überall von der SED dominiert wurden. Die letzte Phase leitete im August 1947 der SMAD-Befehl Nr. 201 ein, der zu einem erneuten Durchgang der E. mit Hilfe abermals neu gebildeter Kommissionen führte. Die als „nominell“ eingestuften NSDAP-Mitglieder sollten ihre staatsbürgerlichen Rechte zurückerhalten, während für die Aburteilung von Hauptschuldigen und NS-Aktivisten (gemäß Kontrollratsdirektive Nr. 38) gesonderte Strafkammern bei den deutschen Gerichten gebildet wurden.

Mit dem SMAD-Befehl Nr. 35 vom Februar 1948 verkündete die sowjetische Militärregierung als erste Besatzungsmacht das Ende der E. und setzte damit die Westmächte unter erheblichen Druck, nun ihrerseits einen Schlussstrich zu ziehen. Von dem überstürzten Abbruch profitierten v. a. Schwerbelastete, deren Verfahren noch nicht abgeschlossen waren. Anders als im Westen, wo die Rückkehr ehemaliger NSDAP-Mitglieder die personelle Kontinuität im öffentlichen Dienst weitgehend wiederherstellte, blieb ihnen in der SBZ bzw. DDR in aller Regel die Anstellung im Bereich der inneren Verwaltung, des Polizei- und Justizwesens verwehrt.