Ehre

  1. I. Rechtlich
  2. II. Soziologisch

I. Rechtlich

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1. Begriff und Bedeutung

E. ist der durch Selbst- und Fremdzuschreibungen konstituierte, teils verdiente, teils unverdiente „soziale Wert- und Achtungsanspruch“ (BVerfGE 30, 195), der natürlichen und juristischen Personen (Juristische Person) von Rechts wegen zukommt. Die E. wird geschützt durch das mit Abwehr- und Schadensersatzansprüchen bewehrte Verbot, ehrverletzende Meinungen zum Ausdruck zu bringen. Der Schutz der E. hat seinen Grund im Schutz der Menschenwürde und der Gewährleistung der ungehinderten Entfaltung der Persönlichkeit (Person). Der E.n-Schutz juristischer Personen gründet in ihren Freiheitsrechten. Als defizitär gilt der E.n-Schutz im Internet. Wichtige Impulse sind insoweit, wie die Google-Entscheidung des EuGH (C-131/12 vom 13. 5. 2014) und die Ende 2015 beschlossene EU-Datenschutz-GrundVO zeigen, die in Art. 17 ein „Recht auf Vergessenwerden“ enthält, insb. von der europäischen Ebene zu erwarten.

2. Völker- und Europarecht

Die AEMR (1948) bestimmt in Art. 12, dass niemand „Beeinträchtigungen seiner E. und seines Rufes ausgesetzt werden“ darf. In der EMRK wird der E.n-Schutz durch das Recht auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK gewährleistet. Art. 7 EuGRC enthält für die Durchführung von Unionsrecht eine inhaltsgleiche Gewährleistung (Art. 52 Abs. 3, Art. 53 EuGRC). Art. 10 Abs. 2 EMRK gestattet Einschränkungen der Meinungsfreiheit, die zum Schutz des guten Rufes unentbehrlich sind. Während das BVerfG in der Lüth-Entscheidung eine auf Kosten des E.n-Schutzes gehende „grundsätzliche Vermutung für die Zulässigkeit der freien Rede in allen Bereichen“ postulierte (BVerfGE 7, 208), gewichtete der EGMR den E.n-Schutz wesentlich stärker. Mittlerweile hat auch das BVerfG den E.n-Schutz deutlich aufgewertet (BVerfGE 120, 203).

3. Verfassungsrecht

Das „Recht der persönlichen E.“ ist eine der in Art. 5 Abs. 2 GG genannten Schranken der Kommunikationsgrundrechte. Damit sollte – so Theodor Heuss im Parlamentarischen Rat – deutlich gemacht werden, dass „Verleumdung und falsche Berichterstattung über Menschen, ihr privates und öffentliches Leben […] nicht zulässig sein“ sollten (5. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen am 29. 9. 1948). Ehrverletzende Darstellungen machen es dem Individuum schwerer, die Aufmerksamkeit anderer für die eigene Darstellung zu erlangen, und sie erschweren die Aufrechterhaltung des eigenen Selbstbildes, weil sie das Selbstwertgefühl untergraben (BVerfGE 99, 194). Die persönliche E. ist daher als eines der Schutzgüter des allg.en Persönlichkeitsrechts anerkannt (BVerfGE 54, 154), das „Recht der persönlichen E.“ bzw. „diese selber“ (BVerfGE 93, 290) mithin grundrechtlich in Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verankert. Mit der Verortung des grundrechtlichen E.n-Schutzes in Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 1 Abs. 1 GG verknüpft das BVerfG den aus der Würde folgenden Geltungswert jedes Menschen („innere E.“), der ihm aufgrund seines Menschseins zukommt und den Kernbereich des Grundrechts ausmacht, mit dem sozialen Achtungsanspruch, der ihm aufgrund von Tüchtigkeit, E.n-Haftigkeit, Leistung und Verhalten zuwächst („äußere E.“). Aus dem allg.en Persönlichkeitsrecht folgt nicht nur ein Abwehrrecht gegen staatliche Ehrbeeinträchtigungen, sondern auch ein Recht auf Schutz vor von Privaten ausgehenden Ehrbeeinträchtigungen im Sinne einer effektiven „Gewährleistung der für die Persönlichkeitsentfaltung konstitutiven Bedingungen“ (BVerfGE 96, 64). Der Grundrechtsträger hat keinen Anspruch darauf, von anderen geschätzt und ehrerbietig behandelt oder auch nur so dargestellt zu werden, wie es ihm genehm ist. Er hat aber ein Recht auf Schutz vor ehrverletzenden Äußerungen im engeren Sinne, insb. vor Kränkung und Diffamierung, vor wahrheitswidrigen Darstellungen seiner Person (auch wenn sie nicht ehrenrührig sind), und vor sonstigen Äußerungen anderer, die geeignet sind, zum Anknüpfungspunkt sozialer Ausgrenzung und Isolierung zu werden – selbst dann, wenn sie wahr sind (BVerfGE 97, 405), weil jeder Mensch um seiner Würde willen ein Recht auf eine „zweite Chance“ hat (BVerfGE 45, 228 f.). Beeinträchtigungen des Kernbereichs der „inneren E.“, wie sie das BVerfG etwa bei der bildlichen Darstellung eines Politikers als kopulierendes Schwein angenommen hat (BVerfGE 75, 379 f.), sind aufgrund des absoluten Schutzes der Menschenwürde stets unzulässig, zu unterlassen und mit den Mitteln des Rechts zu unterbinden. Außerhalb dieses Kernbereichs unterliegt das Recht der persönlichen E. der Schrankenregelung des Art. 2 Abs. 1 GG. Es kann und muss also unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gesetzlich beschränkt werden (BVerfGE 96, 182), um kollidierende Recht Dritter auf Zuschreibungen, wie sie bspw. aus der Kunst-, Religions- oder Meinungsfreiheit (Kunstfreiheit, Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit) folgen können, und sonstige legitime Interessen zur Geltung zu bringen. Da die in Art. 1 Abs. 1 GG aller staatlichen Gewalt auferlegte Verpflichtung, dem Einzelnen Schutz gegen Angriffe auf seine Menschenwürde zu gewähren, nicht mit dem Tode endet (BVerfGE 30, 194), ist auch postmortaler E.n-Schutz zu leisten.

4. Zivilrecht

Der zivilrechtliche E.n-Schutz hat bis heute – schon der Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des zivilrechtlichen Persönlichkeits- und E.n-Schutzes aus dem Jahr 1959 (BT-Drs. 3/1237) wurde nicht umgesetzt – seinen Ort hauptsächlich in § 823 Abs. 1 BGB, in dem das allg.e Persönlichkeitsrecht (Persönlichkeitsrechte) als „sonstiges“ Recht firmiert. Auch die vorsätzliche Verletzung von Schutzgesetzen, insb. dem Beleidigungstatbestand (§ 185 StGB), löst nach § 823 Abs. 2 BGB Schadensersatzansprüche aus, bei sittenwidriger vorsätzlicher Schädigung (§ 826 BGB) gilt dasselbe. Der BGH begreift den Anspruch auf Geldentschädigung wegen Persönlichkeitsrechtsverletzungen nicht (mehr) als Schmerzensgeldanspruch, sondern leitet ihn unmittelbar aus Art. 1 und 2 Abs. 1 GG ab (BGHZ 128, 15), was der Gesetzgeber im Rahmen der Reform des Schadensrechts ausdrücklich gebilligt hat, um das Problem einer umfassenden Kodifizierung des zivilrechtlichen Persönlichkeitsschutzes auf spätere Reformen zu verschieben (BT-Drs. 14/7752, 25). In Verbindung mit § 1004 Abs. 1 BGB kommen Unterlassungs-, Widerrufs- und Gegendarstellungsansprüche gegen Ehrverletzer in Betracht. Auch der zivilrechtliche Persönlichkeitsschutz endet nicht mit dem Tod; zur Wahrnehmung der unauflöslich an die Person ihres Trägers gebundenen ideellen Interessen des Verstorbenen sind nach der Rechtsprechung des BGH die Angehörigen oder hierzu berufene Wahrnehmungsberechtigte, zur Geltendmachung der vermögenswerten Befugnisse die Erben berechtigt (BGHZ 143, 214). Der Anspruch auf Geldentschädigung ist nicht vererblich, da die damit bezweckte Genugtuung mit dem Tod des Verletzten an Bedeutung verliert (BGHZ 201, 45).

5. Strafrecht

Der Aufbau des StGB zeigt, dass E.n-Angelegenheiten, die Thema der §§ 185–200 StGB sind, im 19. Jh. noch vor Verletzungen von Leib und Leben kamen. Die Kundgabe eine Miss- oder Nichtachtung, die den Betroffenen in seinem sozialen Geltungsanspruch verletzt, ist als Beleidigung nach § 185 StGB strafbar, die „üble Nachrede“ genannte Verbreitung ehrenrühriger Tatsachen, deren Wahrheit der Äußernde nicht beweisen kann, nach § 186 StGB. Wer wider besseres Wissen E.n-Rühriges über Dritte verbreitet, kann nach § 187 StGB wegen Verleumdung zur Rechenschaft gezogen werden. § 188 StGB bestraft die üble Nachrede und die Verleumdung gegen Personen des politischen Lebens, § 189 StGB stellt die Verunglimpfung des Andenkens von Verstorbenen unter Strafe. Im Konflikt zwischen freier Meinungsäußerung und Ehrverletzung rechtfertigt § 193 StGB ehrverletzende Äußerungen in engem Rahmen, so dass eine lebhafte und engagierte, auch scharfe Auseinandersetzung möglich bleibt, solange sie nicht diffamierend ist. Die genannten Delikte werden nur auf Antrag verfolgt und durch die Staatsanwaltschaft nur angeklagt, wenn ein öffentliches Interesse an der Verfolgung besteht. Privatklage ist möglich (§ 374 Abs. 1 StPO), aber kostenintensiv und selten erfolgreich. In der Praxis werden die weitaus meisten Ehrverletzungsdelikte – wenn überhaupt – mit Geldstrafen geahndet; Freiheitsstrafen ohne Bewährung kommen kaum vor.

II. Soziologisch

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Der Begriff „E.“ ist in seiner Geschichte wie in seinem gegenwärtigen Gebrauch außerordentlich komplex. Im Vergleich zu seinen Konnotationen, die heute in den westeuropäischen Sprachen überwiegen – Reputation, Prestige, moralische Integrität, Selbstachtung und Achtung anderer, Würde – ist sein Bedeutungsspektrum in früheren Epochen, in deren Alltagsleben die E. eine wesentlich stärkere Rolle spielte, deutlich vielfältiger. Entsprechend sind die Wandlungen und Umbrüche, die zu jenen gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnissen führten, die allg. als „modern“ (Moderne) bezeichnet werden, auch bes. an den Sachverhalten ablesbar, die mit dem Begriff „E.“ verknüpft sind.

Die Sachverhalte, auf die sich „E.“ bezieht, haben sich grundsätzlich in drei unterschiedlichen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens entwickelt, die in vormodernen Epochen enger miteinander verknüpft waren als dies gegenwärtig der Fall ist: innerhalb der Schichtungsformationen, in der normativen Gestaltung des Verhaltens und in der Ausprägung persönlicher und kollektiver Identität. E. kann eine Qualität sein, die einer Person zugeschrieben wird oder einem umgrenzten gesellschaftlichen Gebilde (wie der Familie, dem Stand, der Nation); entsprechend stehen personal neben kollektiv bestimmten E.-Konzepten, und erstere sind in vielen Fällen durch letztere definiert. Die E. kann als unteilbarer Besitz der Person aufgefasst werden, so dass man sie entweder vollkommen „hat“ oder nicht; entsprechend vollständig ist dann ihr Verlust, und ihr Entzug hat radikale Exklusion, Vernichtung der sozialen Existenz zur Folge. Wie der archaische Ehrbegriff ist der moderne Begriff menschenrechtlicher Würde (Menschenwürde) unverhandelbar, er ist darüber hinaus absolut unverfügbar („unantastbar“). Dieses Merkmal unterscheidet Würde als universelle Kommunikationsvoraussetzung auch von der Vielzahl – vormoderner wie moderner – Varianten der E., die, obgleich immaterieller Natur, wie ein materielles Gut angestrebt, erkämpft, akkumuliert, verteidigt und als „symbolisches Kapital“ eingetauscht werden können gegen andere Güter. Mehr E. kann dann auch Macht steigern und umgekehrt; das Entsprechende gilt für Ehrminderung und Ehrverlust. E. kann auch Zweck und Ergebnis von Ehrungen für Verdienste und Leistungen sein, die oft im Rahmen bes.r Rituale (z. B. des Statuswechsels) erfolgen. Die schier unübersehbare Vielfalt von Gründen der Ehrung in modernen Gesellschaften (Gesellschaft) spiegelt, bei näherer Analyse, die Prestigekriterien umschreibbarer Gruppen und das integrierende, sich wandelnde Wertsystem der Gesamtgesellschaft.

Wenn E. von der Befolgung der Verhaltensregeln einer Gruppe abhängt, können rein soziale, auf das „äußere“ Leben des Individuums bezogene Maßstäbe für dessen Sein und Tun auf „innere“ Kriterien treffen wie das Gewissen (Gewissen, Gewissensfreiheit) und die Selbstwertauffassung; so stellten die Morallehren von der Antike bis zur Neuzeit immer schon der objektiv-sozialen Dimension der E. eine subjektiv-personale gegenüber. Der Gegensatz zwischen beiden wurde in der Neuzeit verschärft und radikalisiert mit der Thematisierung und gesellschaftlichen Legitimierung des sittlichen Subjekts als autonomer Instanz der Moral, welches nun in einen Dauerkonflikt gerät mit der Sanktionsmacht der Gruppenmoral. Diese wurde in Europa bis zum Ende des Ersten Weltkrieges überaus wirkkräftig durch die Stände (Stand) zur Geltung gebracht, deren prägnantestes Merkmal hier und in vielen außereuropäischen Kulturen ein E.n-Kodex war, der aus spezifischen, exklusiven Normen bestand. „Stände“ definiert Max Weber daher als Träger einer „Lebensführung“, die sie charakterisiert und ihre E. konstituiert. Dadurch unterscheiden sie sich von „Klassen“, die bestimmt sind von den unpersönlich-sachlichen, der E. gegenüber neutralen Gesetzlichkeiten des Marktes (Weber 2001: 259 f.). Georg Simmel gibt der ständischen E. im Rahmen einer Typologie der Normierungsarten anhand des Kriteriums der „Selbsterhaltung sozialer Gruppen“ eine mittlere (und vermittelnde) Stellung zwischen dem Recht, das der Selbsterhaltung der Gesamtgesellschaft, und dem System persönlicher Moral, das der inneren Selbsterhaltung des Individuums dient. Die bes. Leistung der E. ist innerhalb dieses Normentypus die Internalisierung der Gruppennormen und die funktionelle Verknüpfung innerer und äußerer Kontrollen. Die Sondergeltung der E.-Normen verlangt zwar Sanktionsformen, die weder vom Recht noch vom moralischen Gewissen der Person her erlaubt sind (wie im Falle des Duells), doch es entsteht kein Normenkonflikt, da die Handelnden mit der Befolgung des Kodex der Gruppe zugl. ihr eigenstes Interesse zu wahren überzeugt sind.

Mit der Auflösung der Stände ist deren partikularistische Regelungsfunktion übergegangen auf das universalistisch begründete Recht des modernen Staates: so fallen ausschließlich in die Zuständigkeit seiner Gerichte insb. „E.n-Fragen“ in Gestalt von Beleidigungstatbeständen. Keinesfalls aber beseitigt gesellschaftliche Modernisierung per se jegliche Form des Normen-Partikularismus. Auch wenn die auf „E.“ bezogene Terminologie abnimmt, gibt es in zentralen Funktionsbereichen der Gesellschaft nach wie vor Äquivalente für früher unter dem Namen „E.n-Gerichtsbarkeit“ firmierende Instanzen zur Regelung der Abweichung von Verhaltensstandards. Gegen ein Verschwinden von Normenpartikularismen aus der Gegenwartsgesellschaft spricht ferner die bei großen Bevölkerungsteilen von Ländern des Mittelmeerraums und des Nahen Ostens anhaltende Geltung partikularistischer Normen der Familien-E., deren migrationsbedingter Transfer in nordwesteuropäische Länder die dortige Rechtspraxis vor schwierige Probleme stellt (z. B. bei den von diesem Komplex mitbedingten Ehrenmorden). Im Hinblick auf die Entwicklungen der jüngeren politischen Geschichte Europas ist schließlich auf die Problematik einer weiteren Form des E.n- Partikularismus hinzuweisen, die sich zwar bes. stark in den beiden letzten Jh. artikulierte, deren destruktives Potential jedoch keineswegs erloschen ist: die kollektivistisch konzipierte, politisch-ideologisch mit anti-modernen Akzenten motivierte und massenmedial manipulierte „nationale E.“, die bis in die Gegenwart hinein kriegerische Konflikte zwischen Staaten und Völkern mitbedingt hat.