Dschihad

Unter dem arabischen Begriff D. (&ghatsch;ihād) wird weitgehend der religiös motivierte bewaffnete Kampf im Islam verstanden. Diese Bedeutung bildet jedoch nur einen Teil seines vielfältigen Gehalts. Ursprünglich bedeutet das Wort so viel wie „Anstrengung, Kampf, Mühen“; es steht ebenfalls in arabischen Bibelübersetzungen für den „guten Kampf“, von dem Paulus redet (2. Tim 4,7). Die ältesten Belege des Begriffs und zusammenhängender Verben sind Koranstellen, die aus der Wirkungsperiode Muhammads in Medina stammen. Dort trat der Prophet nicht mehr nur als Verkünder göttlicher Offenbarungen auf, sondern agierte gleichermaßen als Staatsmann und Kriegsherr. Im Koran thematisieren die meisten der relevanten Stellen die Anstrengung „auf dem Wege Gottes“, u. a. mit finanziellen Mitteln (z. B. Sure 9:41). An mindestens zehn Stellen ist jedoch explizit vom militärischen Kampf die Rede (z. B. Sure 8:72 und 74; 9:20), der mit weiteren religiös motivierten Handlungen wie der Migration (al-hi&ghatsch;ra) in Zusammenhang gebracht wird. Dabei stellt sich D. als der Höhepunkt der auf Glauben basierten Praxis dar. Er ist ein vorzüglicher Ausdruck des Glaubens „an Gott und den Letzten Tag“ (Sure 9:19 und 44). Den „Kämpfern“ (mu&ghatsch;āhidūn) stehen hohes Ansehen und eschatologischer Lohn zu (Sure 4:95). Dem Propheten wird befohlen, die Ungläubigen und die Heuchler zu bekämpfen und ihnen hart zuzusetzen (Sure 9:73; 66:9). Ebenfalls sind die Gläubigen aufgefordert, um Gottes willen „den wahren Kampf“ zu kämpfen (Sure 22:78).

Die Koranexegese liefert ein beträchtliches Maß an verschiedenen Deutungen der Frage, welcher Kampf der „wahre Kampf“ ist. Es herrscht hierbei keineswegs Einigkeit unter den Gelehrten. Während einige den „wahren Kampf“ im Sinne des militärischen Kampfes bis zum Äußersten deuten, verbinden andere wie der große Gelehrte Abū &Hdotu;āmid al-Ġazālī (gest. 1111) den Vers mit einer Muhammad zugeschriebenen Überlieferung, in dem dieser den militärischen Kampf als „kleinen“ D. bezeichnet, der dem „großen“, geistigen D., d. h. der inneren, seelischen Anstrengung, untergeordnet wird. Unter diesem „geistigen D.“ werden u. a. der individuelle Kampf gegen moralische Schwächen, die Befolgung der Religionsgesetze, die Reinigung der Seele von den Leidenschaften und die Aneignung religiösen Wissens subsumiert.

Die Abwertung des militanten D. gegenüber dessen geistiger Variante findet sich vor allem in der islamischen Mystik. Dennoch überwiegt unter Muslimen die Wahrnehmung des D. als eines bewaffneten Kampfes für die Sache Gottes. Nicht zuletzt sind diesem in den großen Sammelwerken der Aussprüche und Handlungen Muhammads (&hdotu;adī&tmacru;) ganze Kapitel gewidmet. Ebenso wird in der exegetischen Literatur D. meistens mit Kriegshandlung (qitāl) gleichgesetzt. Diese richtet sich vornehmlich gegen die nichtmuslimischen Polytheisten (al-mu&shatsch;rikū). Wurde der D. in den frühmedinensischen Suren des Koran noch als Reaktion auf die Aggression der Gegner der frühen muslimischen Gemeinschaft erklärt, erfuhr der Rahmen des zulässigen Kampfes im Laufe der koranischen Verkündigung deutliche Erweiterung, indem die Bekämpfung der Ungläubigen in Sure 9:5 – aufgrund des militanten Aussagegehalts von muslimischen Exegeten als „Schwertvers“ bezeichnet – bis auf die vier kriegsfreien Monate allgemein befohlen wurde.

Im Zuge der territorialen Expansion des Islam entwickelte die islamische Jurisprudenz (fiqh) ab dem 8. und 9. Jh. Lehrmeinungen zum D., zu deren ersten Vertretern die Rechtsgelehrten al-Awzā&gr2;ī (gest. 774) und a&shatsch;-&Shatsch;aibānī (gest. 804) gehörten. Grundlegend für die Entwicklung von verschiedenen D.-Theorien ist die im Koran formulierte Glaubenslehre, dass die Gemeinschaft der Muslime (umma) dazu verpflichtet sei, möglichst viele Menschen zum Islam zu bekehren oder den Machtbereich des Islam auszuweiten. Darum gilt der D. als eine „Kollektivpflicht“ (far&ddotu; al-kifāya) der umma. Diese ist erst dann als erfüllt anzusehen, wenn eine genügende Anzahl von Muslimen am D. teilnimmt. Im Falle der Selbstverteidigung gilt der D. jedoch als eine „individuelle Pflicht“ (far&ddotu; al-&gr2;ain) und somit für jeden kriegsfähigen Muslim als verpflichtend. Die Lehren zum D. umfassen des Weiteren praktische Regeln zur Kriegsführung und zum Verhalten von Muslimen während des Kampfes, zum Umgang mit kämpfenden und nicht-kämpfenden Feinden sowie mit Kriegsgefangenen.

Das Recht zur Ausrufung des D. obliegt nach klassischer Rechtslehre allein dem Kalifen, dem einzig rechtmäßigen, religiös legitimierten Herrscher. Er ordnet den Kampf an, wann immer dieser im Interesse der Muslime ist. Dabei kommt der Auffassung von der göttlichen Belohnung der im D. gefallenen Märtyrer eine besondere Bedeutung zu. Bei ungünstigen Bedingungen gilt es, mit den Feinden Waffenstillstand zu vereinbaren. Wird im Koran und der auf ihm fußenden islamischen Rechtslehre lediglich der Kampf gegen Nichtmuslime als D. bezeichnet, ist es in der islamischen Geschichte keine Seltenheit gewesen, dass auch als Abtrünnige und Rebellen deklarierte Muslime zum Ziel des D. wurden.

Zweifelsohne trug der religiös motivierte Kampf in der Formationsphase des islamischen Staates zur Überwindung von intertribalen Spannungen bei und ermöglichte die Schaffung einer funktionsfähigen politischen Entität, die relativ rasch weit expandieren konnte. Gestärkt wurde der Wille zum D. durch die Aussicht auf reiche Beute, politische Macht und paradiesische Belohnung. Im Laufe der Geschichte pflegten islamische Staaten in Kriegssituationen den D. auszurufen, wie 1914 das Osmanische Reich, als es dem Ersten Weltkrieg beitrat.

Einflussreiche muslimische Denker des 19. und 20. Jh. wie Sayyid A&hdotu;mad Khān, Muhammad &gr2;Abdu und Ra&shatsch;īd Ri&ddotu;ā schränkten die Geltung des D. auf Selbstverteidigung ein und verschafften so der Bekämpfung der europäischen Kolonialmächte eine religiöse Legitimation. Mit der Abschaffung des Kalifats 1924 durch die Türkei verschwand schließlich jene entscheidende religiös legitimierte Instanz, die aus der Sicht der meisten Religionsgelehrten berechtigt wäre, zum D. aufzurufen. Für die Schiiten fehlt seit den Tagen der Entrückung des letzten Imams Mu&hdotu;ammad al-Mahdī im 9. Jh. ohnehin die notwendige Voraussetzung dafür. Allerdings haben es schiitische Gelehrte im Lauf der Geschichte immer wieder verstanden, die D.-Ausrufung durch andere Personen als den letzten Imam religiös-rechtlich zu legitimieren.

In jüngster Zeit scheint die Tendenz zur Praktizierung des D. durch eine weitverbreitete Betonung der friedlichen Koexistenz zwischen Muslimen und Nichtmuslimen in der Welt in gewisser Weise entschärft. Diese Haltung steht jedoch unweigerlich in einem starken Gegensatz zu den Ansichten fundamentalistischer Denker (Fundamentalismus) wie Sayyid Qu&tdotu;b, der Mitte des 20. Jh. durch seine Zweiteilung der Welt in ein „Haus des Islams“ (dār al-islām) und „Haus des Krieges“ (dār al-&hdotu;arb), die Idee des D. als bewaffneten Kampf zu erneuern wusste, indem er betonte, dass dieser so lange geführt werden müsse, bis der Islam die Weltherrschaft erlangt hat.

Mit der Erstarkung radikaler Gruppen (Islamismus) in den letzten Jahrzehnten wurden besonders unter Berufung auf den Theologen Ibn Taymiyya Rufe laut, dass die Muslime wieder ihrer vermeintlich „abhandengekommenen Pflicht“ (al-farī&ddotu;a al-ġā&gr3;iba) zum D. nachkommen müssten. Terroranschläge (Terrorismus) gegen den eignen Staat, wie z. B. die Ermordung des ägyptischen Präsidenten Anwar as-Sādāt 1981, wurden mit dieser Begründung gerechtfertigt. Dies steht im Zusammenhang mit der von radikalen Kräften immer wieder beabsichtigten Forderung nach der „Wiedereinführung der Scharia“ sowie dem wiederholten Aufruf zur Befreiung muslimischer Länder von der Diktatur und der Ausbeutung durch ausländische Mächte. Die Entstehung von radikal agierenden Organisationen wie al-Qā&gr2;ida und dem „Islamischen Staat“ (IS) brachte eine Globalisierung des militanten D. mit sich, die mithilfe neuer Kommunikationsmittel und sozialer Netzwerke intensiv wahrgenommen wird. Abgesehen von dieser neuen propagandistischen Nutzung (Propaganda) des bewaffneten D. als Mittel zur Durchsetzung konkreter machtpolitischer Interessen einzelner Gruppen, wird der individuelle, geistige D. vom Großteil der Muslime nach wie vor als ein wichtiges Element des eigenen religiösen Selbstverständnisses angesehen.