Christliche Sozialethik

Version vom 11. September 2018, 15:07 Uhr von Staatslexikon (Diskussion | Beiträge) (Christliche Sozialethik)

  1. I. Katholisch
  2. II. Evangelisch
  3. III. Orthodox
  4. IV. Interreligiös

I. Katholisch

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1. Ursprünge und Gegenstand des Faches

C. S. als wissenschaftliche Disziplin, die meist der systematischen Theologie zugerechnet wird, ist konstitutiv durch einen normativen Zugang zur Gesellschaftstheorie geprägt. Als parallel gebräuchliche Bezeichnung finden sich „C. Sozialwissenschaft(en)“ oder „C. Gesellschaftslehre“. Im deutschen Sprachraum ist sie an den meisten Katholisch-Theologischen Fakultäten mit einer eigenen Professur vertreten. Ihr bes.r Stellenwert ist hier nicht ohne die Tradition des Sozialkatholizismus (Sozialer Katholizismus) zu verstehen. Historisch hat sich die C. S. aus der Moraltheologie heraus entwickelt, dabei jedoch zugl. Elemente der politischen Philosophie, der Ökonomie und der Soziologie aufgenommen. Die institutionelle Verselbständigung des Faches wird meist als Reaktion auf die erste Sozialenzyklika „Rerum novarum“ (Papst Leo XIII.: 1891) mit der Gründung einer „Professur für Christliche Gesellschaftslehre“ 1893 in Münster beschrieben, die durch Franz Hitze besetzt wurde. In der Katholischen Soziallehre hat das Fach eine lehramtliche Rückbindung und Ausstrahlung, die weit über die Kirche hinaus Beachtung findet und deren Interpretation mit weltweit unterschiedlicher Intensität einen wichtigen Teil des Faches ausmacht. Zugl. sind S. und -lehre zentrale Orte des Ringens um das Verhältnis zwischen Kirche und moderner Gesellschaft (Kirche und Gesellschaft).

Gegenstand des Faches ist die Reflexion der Normen, Institutionen und Strukturen des gesellschaftlichen Lebens und deren Auswirkungen auf die Handlungsmöglichkeiten des Einzelnen aus einer christlichen Sicht. Neben fundamentalethischen Grundlegungsfragen zeichnet sich das Fach durch eine starke Anwendungsorientierung aus, die in Reaktion auf die wachsende Komplexität moderner Gesellschaft zu einem dynamischen Prozess der Ausdifferenzierung sozialethischer Forschungsfelder führt, wobei von der Tradition der Sozialenzykliken her ein bes.r Akzent auf wirtschaftsethischen Fragestellungen liegt. Infolge der starken interdisziplinären Ausrichtung stellt die C. S. ein „Brückenfach“ zwischen systematisch-theologischen und insb. sozialwissenschaftlichen Ansätzen dar. Dabei haben nicht wenige Lehrstühle spezifische Schwerpunktsetzungen entwickelt, bspw. in Wirtschafts- und Unternehmensethik, in politischer Ethik, Friedensethik, Umweltethik oder Medienethik.

Trotz der Anwendungsorientierung ist die S. selbst nicht als eine Bereichsethik aufzufassen, sondern sie versteht das Soziale als „primären Strukturierungsfaktor“ (Korff 2012: 85) des Ethischen (Ethik), der Querschnittscharakter hat und den Bereichseinteilungen voraus liegt. „Sozial“ wird als Gegenbegriff zu „individuell“ verstanden und steht für die Ausweitung der ethischen Frage auf die sich wandelnden gesellschaftlichen Ordnungsstrukturen, denen ein kategorial eigener ethischer Anspruch und Gestaltungsauftrag eignet. Zugl. schwingt im Adjektiv „sozial“ eine Abgrenzung gegen „unsozial“ mit, was als Reaktion auf die „soziale Frage“ des 19. Jh. mit einem gerechtigkeitstheoretischen Anspruch (Gerechtigkeit) verbunden wurde. Dieses vielschichtige, zugl. empirisch-gesellschafts- und -humanwissenschaftlich sowie normativ aufgeladene Verständnis von „sozial“ ist konstitutiv für die Herausbildung und das Verständnis der Disziplin. Dabei war von Anfang an die Suche nach Orientierung zwischen liberalen (Liberalismus) und sozialistischen (Sozialismus) bzw. solidaristischen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodellen ein Fokus sozialethischer Reflexion.

Der Begriff „C. S.“ ist konfessionsübergreifend und versteht die Differenzen zwischen katholischen, protestantischen und orthodoxen Zugängen als Unterscheidungen zwischen weitgehend historisch bedingten Perspektiven, die sich wechselseitig ergänzen und zugl. von teilweise ebenso weitreichenden Differenzen innerhalb dieser Traditionen überlagert werden. Galt für den katholischen Zugang lange das Naturrecht als methodisch einheitsstiftende Grundlage, ist dies heute ein vernunft- und menschenrechtlicher (Menschenrechte) Ansatz, wobei dieser zuweilen als Bruch, zuweilen als Transformation der Tradition aufgefasst wird. In Abgrenzung gegen das neuscholastische Naturrecht vermeidet die Pastoralkonstitution GS, die man als sozialethische Verfassungsgrundlage der Kirche in der modernen Welt (Kirche und Welt) bezeichnen kann, den Begriff „doctrina socialis“ (Chenu 1991: 12, 92) und verfolgt einen stärker empirisch geprägten Ansatz, der von einer Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung und der mit ihnen verbundenen sozialethischen Fragen als Deutung der „Zeichen der Zeit“ (GS 4, 11) ausgeht.

2. Zur „Architektur“ sozialethischer Leitbegriffe

Als „Markenzeichen“ der katholischen S. gelten die sog.en Sozialprinzipien. Diese sind verfahrens- und strukturierungsrelevante Gestaltungsgrundsätze, die sich als eine Art ethische Grammatik für den Strukturaufbau der modernen „offenen“ Gesellschaften begreifen lassen. Dabei ist zu beachten, dass sie kein geschlossenes System darstellen und aus ihnen kein Urteil über konkrete soziale Konflikte abgeleitet werden kann. Sie haben sich in der S. als normative Antworten auf grundlegende Ordnungsfragen allmählich und oft mit erheblicher Verzögerung herauskristallisiert: Personalität und damit die freiheitszentrierte Wende zum Subjekt als Antwort auf die sozialen Verwerfungen des Absolutismus, Solidarität als Leitbegriff für den Schutz der Schwachen unter den Bedingungen der Industrialisierung (Industrialisierung, Industrielle Revolution), Subsidiarität als Gegenpol zu den totalitären Systemen (Totalitarismus) im 20. Jh., Nachhaltigkeit als Leitorientierung für Auswege aus der heutigen ökologischen Krise.

Lehramtlich gelten die Sozialprinzipien als „Angelpunkt der ganzen katholischen Soziallehre“, der „auf die letzten, Richtung gebenden Grundlagen des sozialen Lebens“ verweist und als Bezugspunkt für „eine angemessene Strukturierung und die geordnete Gestaltung des sozialen Lebens“ dient (Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden 2006: 160, 163, 197). Diese emphatische Hervorhebung ist ein Produkt nachträglicher Deutung, die sich nicht in den Enzykliken findet, sondern allenfalls durch eine begleitende wissenschaftliche Reflexion gedeckt ist. Dabei gibt es unterschiedliche Rekonstruktionsversuche. Nach wie vor dominant ist ein anthropologischer Zugang, der die Sozialprinzipien als „Systematisierung jener Grundgewissheiten über das Wesen und die Bestimmung des Menschen, welche die Basis der Disziplin bilden“ (Anzenbacher 1997: 178), versteht. Personalität wird in diesem Zugang C.r S. als Basisprinzip verstanden, das der theologischen Sicht des Menschen als Ebenbild Gottes Rechnung trägt. Dies besagt sozialethisch, dass er sittliches Subjekt ist, insofern er sich als Ursprung seiner Handlungen und zugl. in Glaube und Liebe über sich selbst hinaus auf ein Du verwiesen erfährt. Als Person entzieht sich der Mensch einer letzten Definition und Festlegung. In der Verwiesenheit auf die Transzendenz Gottes ist zugl. die Transzendenz des Menschen im Anspruch der Moralität gesichert. Als ein solchermaßen zu Freiheit und Verantwortung fähiges Subjekt ist der Mensch mit einer unverfügbaren Würde ausgestattet, die in seiner Selbstzwecklichkeit unbedingt zu achten Leitmaßstab für die sozialethische Beurteilung und Gestaltung jeder gesellschaftlichen Ordnung ist.

Solidarität und Subsidiarität lassen sich im Sinne sich komplementär ergänzender Aufbauprinzipien dem personalistischen Ansatz zuordnen: Der Mensch ist ein Sozialwesen, das nur in Gemeinschaft und Solidarität seine Identität finden kann (Solidarität). Zugl. ist er wesentlich ein Kulturwesen, das nicht nur mit dem Lebensnotwendigen versorgt sein will, sondern zu seiner Entfaltung einer aktiven Teilhabe (Partizipation) an der Gestaltung seiner Lebensbedingungen bedarf und von daher ein Recht auf Schutz vor kollektivistischer und bürokratischer Vereinnahmung hat (Subsidiarität). Darüber hinaus ist der Mensch ein Naturwesen, was im Rahmen des Nachhaltigkeitsprinzips erst mit erheblicher Verspätung ordnungsethisch ausbuchstabiert wird.

Der Stellenwert der Sozialprinzipien ist ethisch-systematisch mit vielen offenen Fragen verbunden. So steht der anthropologische Zugang in Spannung zu den methodischen Prämissen soziologischer Differenzierungstheorien. Klärungsbedürftig ist auch, ob der methodische Individualismus, der in der gegenwärtigen politischen Philosophie dominiert, als Konsequenz oder als Gegensatz zum Personalismus der C.n S. verstanden werden muss.

Wenn man Personalität nicht substanzontologisch als gegebene Größe voraussetzt, sondern anerkennungstheoretisch auf die sozialen Bedingungen für die Entfaltung des Personseins bezieht, ergibt sich daraus ein zentraler Stellenwert der Menschenrechte. Diese sind die strukturethische Umsetzung des Personalitätsprinzips. Maßgeblich sind dabei die drei Dimensionen individueller Freiheitsrechte, sozialer Anspruchsrechte und politischer Mitwirkungsrechte. Mit der menschenrechtlichen und damit freiheitszentrierten Anerkennung der Person als Ursprung, Träger und Ziel des gesellschaftlichen Lebens ist zugl. der überkommene, auf relativ stationäre Gesellschaften bezogene Ansatz der (neu-)scholastischen S. überwunden.

Damit bestimmt sich zugl. der Stellenwert der beiden Kategorien Gemeinwohl und Gerechtigkeit neu: Als komplexe, zusammengesetzte Größen liegen sie nicht auf der gleichen Ebene wie die Sozialprinzipien und lassen sich folglich auch nicht additiv neben diesen einordnen, sondern werden durch diese unter den Bedingungen sich dynamisch wandelnder, offener Gesellschaften begründet und entfaltet. So wird Gemeinwohl im Rahmen des personalistischen Ansatzes nicht als für sich selbst definierbare, sinnstiftende Kollektivgröße verstanden, sondern konditional auf die sozialen Bedingungen für die Entfaltung der Personen bezogen. Die Gretchenfrage des Gemeinwohls ist die nach der Zuständigkeit und Kompetenz für die gesellschaftlichen Entscheidungen, wofür Subsidiarität als „sozialethisches Organisationsprinzip des Gemeinwohls“ (Anzenbacher 1997: 212) Kriterien definiert. Gemeinwohl ist systematisch betrachtet ein Teil des Gerechtigkeitsdiskurses, dessen vielfältige Entfaltung die Argumentationsmuster gegenwärtiger S. maßgeblich prägt: Der liberal-egalitaristisch geprägten Gerechtigkeitstheorie von John Rawls werden zunehmend nonegalitaristische Ansätze – v. a. in den Varianten von Amartya Kumar Sen und Martha Nussbaum – gegenüber gestellt, die klassische aristotelisch-thomistische Tradition wird interaktionstheoretisch weiterentwickelt, der lange vernachlässigte hermeneutisch-kritische Rückgriff auf biblische Traditionen innerhalb der S. wird mit anerkennungstheoretischen Ansätzen verknüpft.

3. Zum theologischen Ort Christlicher Sozialethik

C. S. ist ein theologisches Fach und damit ein originärer Ort der Gottesrede im Blick auf die Gestaltung gesellschaftlicher Strukturen. Sie versteht das Streben nach Gerechtigkeit als Glaubenspraxis und sucht die normativen Grundbegriffe des demokratischen Rechtsstaates – z. B. Menschenwürde, Freiheit, Recht, Gerechtigkeit, Fortschritt – immer neu hinsichtlich ihrer theologischen Dimension zu erschließen, um dessen Ethos lebendig zu halten. Entscheidend ist dabei das Offenhalten moderner Lebens- und Gesellschaftsentwürfe auf den Horizont des Unverfügbaren hin. In diesem Sinn deckt C. S. Ambivalenzen der Moderne auf, die bspw. in dem Versuch liegen, die Identität des Menschen von der Selbstsetzung eines isolierten „punktförmigen Selbst“ (Taylor 1994: 288–290) zu erwarten und nicht als Resultat eines durch Andere und Anderes vermittelten und auf das Offene eines absolut Anderen verwiesenen Selbstverhältnisses. Desgl. strebt sie etwa in der Analyse der Paradoxien des „kinetischen Imperativs“ (Höhn 2013: 96–120) spätmoderner Beschleunigungsgesellschaften danach, den geistig-kulturellen Wurzelgrund des technisch vermittelten Wohlstandsstrebens in demokratisch verfassten, pluralistischen Gesellschaften (Pluralismus) im Bewusstsein zu halten und auf humane Ziele hin auszurichten. Ebenso unterzieht sie in Verbindung mit religionssoziologischen Studien zum postsäkularen Charakter der zeitgenössischen Gesellschaft deren religionsproduktives Potenzial einer kritischen Würdigung.

Als theologische Disziplin ist C. S. darauf angelegt, ihre Prinzipien und Normen als allg. vernünftig aufzuweisen und damit über den binnenkirchlichen Raum hinaus zu plausibilisieren. Dies ist nicht nur eine strategische Frage der Kommunikation in pluraler Gesellschaft, vielmehr ist Kommunikabilität ein konstitutives Anliegen des christlichen Ethos und damit auch der theologischen Ethik, die den Menschen schöpfungstheologisch als zum Gebrauch seiner Vernunft (Vernunft – Verstand) befähigt und beauftragt ansieht.

Für C. S. als wissenschaftliche Disziplin gilt daher ohne Einschränkung der Anspruch von Rationalität im Sinne einer methodisch geleiteten Reflexion auf die das menschliche Handeln bestimmenden moralischen Vorstellungen. Sie versteht Ethik jedoch nicht ausschließlich als Suche nach universalen Begründungen, sondern als Hermeneutik der Sittlichkeit, die die Moralität aus dem Kontext gelebter Praxis begreift, in der meist auch religiöse Überzeugungen eine wesentliche Rolle spielen. Dadurch entsteht ein Raum, den theologischen Beitrag zur Ethik vom Ethos religiös geprägter Lebensformen her zu begreifen, statt das Verhältnis von Theologie und Ethik allein auf der Ebene von universal verallgemeinerter Rationalität als vermeintliches Konkurrenz- oder Subordinationsverhältnis zu reflektieren. Im Ethos wird der moralische Anspruch konkret und handlungsleitend, in seiner rationalen Reflexion wird er über den jeweiligen Kontext hinaus reflexiv überprüfbar und kommunikabel. Gerade in einer postsäkularen Gesellschaft ist der sozialethische Beitrag zur Verständigung zwischen unterschiedlichen, religiös oder auch areligiös geprägten Ethosformen von existentieller ethisch-politischer Bedeutung.

Das Spezifische christlicher (Sozial-)Ethik ist nicht die inhaltliche Exklusivität ihrer Normen, sondern der radikale Anspruch einer allen Menschen geltenden Gerechtigkeit, die sich in Situationen von Leid, Versagen, Konflikt und Schuld bewährt und so den Sinnhorizont des Glaubens an die unbedingte Würde des Menschen offen hält. Die katholische S. bzw. -lehre will „nicht Einsichten und Verhaltensweisen, die dem Glauben zugehören, denen aufdrängen, die diesen Glauben nicht teilen. Sie will schlicht zur Reinigung der Vernunft beitragen und dazu helfen, dass das, was recht ist, jetzt und hier erkannt und dann auch durchgeführt werden kann“ (Benedikt XVI. 2005: 28). Die Funktion des christlichen Glaubens für die Gesellschaft lässt sich soziologisch als Kontingenzbewältigung umschreiben. Er kann Rationalität nicht ersetzen oder begründen, jedoch auch in Grenzsituationen einen Möglichkeitsraum für sie offenhalten.

Das vielschichtige Verhältnis zwischen C.r S. und Rationalität wird derzeit insb. anhand der Menschenrechte diskutiert. Sowohl im Blick auf die Genese des Menschenrechtsgedankens als auch hinsichtlich der Motivation, die seinen universalen Anspruch wirksam werden lässt, kommt der religiösen Dimension ein substantieller Stellenwert zu. Dabei können die Menschenrechte ihre Funktion als Basis grenzüberschreitender Verständigung jedoch nur wahrnehmen, wenn sie in ihrer Eigenständigkeit gegenüber jeglicher religiösen Interpretation anerkannt werden. Der Verweis auf die transzendente unbedingte Würde der menschlichen Person ermöglicht sowohl die Beobachtung und Bewertung politischer Prozesse als auch die Beobachtung und Bewertung theologisch-ethischer Traditionsbestände. C. S. kann im Rückgriff auf die herrschaftskritischen Aspekte der biblischen Tradition (z. B. in der prophetischen Rede) zur Entmythologisierung politischer Macht beitragen. Die „Option für die Armen“, also die Perspektive der Ausgeschlossenen, spielt dabei eine Schlüsselrolle. Diese ist in biblischer Tradition verwurzelt, wurde jedoch erst im Kontext der Befreiungstheologie (Theologie der Befreiung) als sozialethisches Erkenntnisprinzip etabliert. In Verbindung mit menschenrechtlichen und gerechtigkeitstheoretischen Ansätzen prägt sie heute weltweit den methodischen Ansatz C.r S.

II. Evangelisch

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1. Begriff und Geschichte

S., verstanden als „gesellschaftsstrukturelle Ethik“ (Rich 1984: 65) reflektiert die Moral der überindividuellen sozialen Strukturen, die das Handeln (Handeln, Handlung) der Individuen prägen, gleichzeitig aber durch dieses Handeln erzeugt, reproduziert, verändert oder abgeschafft werden.

Der Begriff der „Socialethik“ wird zwar i. d. R. auf den protestantischen Theologen Alexander von Oettingen zurückgeführt, der darunter – anders als der heutige Gebrauch – die soziale Wirkung moralischer Prinzipien im Kontext seiner empirischen Moralstatistik versteht. Die Ausprägung und Verbreitung der wissenschaftlichen Disziplin ist aber v. a. in der Ausbildung einer entspr.en katholischen Lehrtradition mit der Einrichtung von Professuren im Gefolge der Etablierung einer päpstlichen Soziallehre durch „Rerum novarum“ von Papst Leo XIII. zu suchen. Allerdings finden sich inhaltliche sozialethische Erwägungen im Protestantismus bereits in den sozialpolitischen Auseinandersetzungen des 19. Jh. Gerade im Kontext der „sozialen Frage“, der Verteilungskonflikte in den entstehenden Industriegesellschaften (Industriegesellschaft), reift die Einsicht, dass eine nur auf das individuelle tugendhafte Handeln abstellende Ethik nicht genügt, weil hier die gesellschaftlichen Voraussetzungen individuellen Handelns unterbestimmt bleiben.

Neben die diakonisch und sozialreformerisch motivierten Überlegungen einzelner Protagonisten wie Hinrich Wichern oder Rudolf Todt treten zunehmend sozialwissenschaftlich informierte, i. d. R. durch sozialpolitische Praxis motivierte Diskurse, wie sie während des zweiten deutschen Kaiserreiches etwa im Verein für Socialpolitik oder dem Evangelisch-sozialen Kongress unter Beteiligung von Theologen wie Ernst Troeltsch, Martin Rade, Paul Göhre oder Friedrich Naumann und Sozialwissenschaftlern wie Adolph Wagner oder Gustav Schmoller geführt werden. Zu Beginn des 20. Jh. entsteht zunächst im süddeutschen Raum und der Schweiz die Bewegung des religiösen Sozialismus, die in so unterschiedlichen Protagonisten wie Leonhard Ragaz oder Paul Tillich ebenfalls v. a. auf politische Wirkung zielt, wenn auch die Wirtschaftsethik Georg Wünschs einen ersten Versuch umfassender theoretischer Reflexion des Sozialen darstellt. In den 20er und 30er Jahren finden sich dann – etwa bei Werner Elert, Paul Althaus oder Emil Brunner – Rückgriffe auf naturrechtsanaloge Argumentationsweisen, die soziale Strukturen und Institutionen (Institution) auf Schöpfungs- oder Erhaltungsordnungen zurückzuführen suchen, um in Zeiten massiver sozialer Veränderung ein vermeintlich stabiles normatives Fundament zu gewinnen.

Ausdrücklich wird der Begriff der S. im Protestantismus erst in der zweiten Jahrhunderthälfte aufgenommen. Einmal werden faktisch konkrete politische und soziale Probleme behandelt. Dies geschieht etwa in der dem Gedanken eines diskursiven Lehramts der öffentlichen Theologie entspr.en Denkschriftenkultur der EKD und in den ethischen Fachdebatten. Zum anderen nehmen die Entwürfe etwa von Helmut Thielicke, Heinz Dietrich Wendland, Ernst Wolf, Arthur Rich oder Martin Honecker das Konzept der S. auf. Dort bezeichnet es diejenigen ethischen Überlegungen, die sozialen Strukturen gewidmet sind.

Wie in der kirchlichen S. haben sich auch in der akademischen Debatte – auch auf Grund der bereichsethischen Ausformulierung (siehe 2.) – ökumenische Diskurskontexte etabliert.

2. Umfang und Gegenstandsbereich

Angesichts gesellschaftlicher funktionaler Differenzierung und wissenschaftlicher Spezialisierung hat sich zunehmend die Untergliederung in Bereichsethiken eingebürgert.

Der Schwerpunkt der protestantischen S. seit dem Zweiten Weltkrieg liegt zunächst im Bereich der politischen Ethik. Ausgelöst durch die Reflexion des problematischen Verhältnisses von Kirche und Staat (Kirche und Staat) in der ersten Jahrhunderthälfte zielen die Bemühungen auf eine Neubestimmung dieses Verhältnisses, die weder den Tendenzen unkritischer Billigung der Obrigkeit noch der Skepsis gegenüber demokratischer Willensbildung Raum gibt. Während das stärker lutherisch aufgeladene Konzept einer revidierten Zwei-Reiche-Lehre v. a. die Trennung von Kirche und Staat sowie das Recht der säkularen Vernunft akzentuiert, tendiert das Modell der Königsherrschaft Christi auf die kritische Begleitung staatlicher Tätigkeit am Maßstab einer entsprechungsethisch gewonnenen und durch Selbstbegrenzung der Christen pluralismustauglichen Reich-Gottes-Vorstellung (Reich Gottes). Neuere Konzepte in der lutherisch-liberalen Theorielinie zielen auf eine kulturhermeneutische oder tugendethisch akzentuierte Vermittlung von Religion und Staat, stärker reformiert inspirierte Konzepte argumentieren im Kontext einer Anerkennungstheorie des Rechts, die in der als Gottesgabe verstandenen Menschenwürde begründet wird.

Im Kontext der ökumenischen Bewegung, insb. des konziliaren Prozesses für „Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung“, hat sich eine protestantische Ethik der internationalen Beziehungen herausgebildet, die auf eine Konzeption des globalen Ausgleichs und des gerechten Friedens zielt und dabei stark auf die Instrumente des Völkerrechts setzt.

Die Einstellung auf moderne industrielle und postindustrielle Verhältnisse und der diesbezüglichen Verteilungsfragen steht in der zweiten Jahrhunderthälfte im Zentrum der protestantischen Ethik des Sozialen. Dies betrifft erstens die Frage der wohlfahrtsstaatlichen Sicherung, die anfänglich stark umstritten ist, weil man hier totalitäre Staatstendenzen fürchtet. Es betrifft zweitens die Einbettung normativer Elemente der klassisch vorrangig individualethisch verfassten Berufskonzeption in eine strukturell orientierte Sichtweise der Arbeit, drittens die kritische Begleitung der durch Globalisierung und technologische Fortschritte (Fortschritt) ausgelösten Umbrüche im Bereich des Sozialen, und schließlich die Fragen der Inklusion und Anerkennung im Kontext von körperlicher und geistiger Beeinträchtigung (Behinderung).

Während in den Anfängen der Wirtschaftsethik aus evangelischer Sicht der Kontrast von theologischen zu ökonomischen Perspektiven im Fokus steht, sind neuere Entwürfe stärker an der Integration dieser Perspektiven interessiert. Richten die einen dabei ihre Aufmerksamkeit zunächst noch auf den Systemvergleich von kapitalistischer Markt- und sozialistischer Zentralverwaltungswirtschaft, suchen andere eine durch wohlfahrtsstaatliche Ziele temperierte soziale Marktwirtschaft nicht nur als protestantisch inspiriertes wirtschaftspolitisches Programm, sondern auch als wirtschaftsethisches Konzept auszuweisen.

Neue Herausforderungen prägen auch das Feld der Umwelt- und der Bioethik. Mit der – ebenfalls ökumenisch vermittelten – Einsicht in den Zusammenhang von globaler wirtschaftlicher Entwicklung und den umweltbezogenen Problemen einer Perpetuierung der industriell geprägten Wirtschaftsweise beanspruchen ökologische Fragen Aufmerksamkeit, die sich auf den Umgang mit Risikotechnologien, auf die Vereinbarkeit von Armutsbekämpfung und Umweltschutz im globalen Maßstab und bes. auf die Themen Nachhaltigkeit und Klimawandel beziehen.

Mit der Verfügbarkeit neuer medizin- und biotechnologischer Verfahren verschieben sich auch die Herausforderungen im Bereich des Gesundheitswesens. Neben die Fragen des Verhältnisses von Behandelnden und Behandelten treten nun solche des Umgangs mit den neu erworbenen Möglichkeiten des Machbaren sowie der normativen Zielbestimmungen der Verteilung medizinischer Leistungen.

3. Theologisch-normative Prinzipien

Grundlegende – je nach Position unterschiedlich akzentuierte – theologische Bezugspunkte bilden in der neueren evangelischen S. die Schöpfungs- und Rechtfertigungslehre als Begründungsquellen gleicher Menschenwürde und Freiheit sowie die Eschatologie als Hoffnungsbasis menschlichen Handelns in Entsprechung zu Gottes Offenbarung.

In der politischen Ethik, der Rechtsethik und der Bioethik des Menschen hat die gleiche Menschenwürde als Implikat der Gottebenbildlichkeit zentrale Bedeutung, wobei Gottebenbildlichkeit v. a. als unbedingte statusgewährende Beauftragung zur verantwortlichen Weltgestaltung zu verstehen ist. Die Menschenwürde spielt dabei sowohl in der Begründung beteiligungsgerechter Partizipationschancen wie als Maßstab der Gemeinwesengestaltung eine wichtige Rolle. Gerade als bedingungslose Gabe Gottes verstanden, kann Menschenwürde auch in bioethischer Perspektive bedeutsam werden, weil sie selbst dort schützt, wo von Fähigkeiten einer Person nicht mehr gesprochen werden kann. Die aus der Lehre der gnädigen Rechtfertigung abgeleitete individuelle Freiheit des Gewissens (Gewissen, Gewissensfreiheit) von einer vollständigen Determination durch die Sozialität und zu einer verantwortlichen Gestaltung des Gemeinwesens bildet einen zweiten Akzent der politischen Ethik. Die eschatologisch begründete Auffassung der Vorläufigkeit und folglich menschlichen Gestaltbarkeit weltlicher Ordnungen und der Notwendigkeit einer politischen Selbstbegrenzung der Christen in Ansehung eigener Sündhaftigkeit liefern weitere normative Aspekte. Im Kontext der Ethik internationaler Beziehungen hat protestantisch wie ökumenisch das Konzept des gerechten Friedens an Bedeutung gewonnen, das als eschatologische Verheißung zwar keine unmittelbare politische Zielbestimmung, aber ein kriteriales Leitbild solcher Zielbestimmungen abgeben kann. Für die Ethik des Sozialen ist der versöhnungstheologisch begründete Aspekt einer Perspektivübernahme im Interesse der Entrechteten und Marginalisierten zentral, der auf soziale Gerechtigkeit zielt und Befähigung, Beteiligung sowie Ermächtigung impliziert. Dem entspr. wirtschaftsethisch neben dem übergreifenden schöpfungtheologisch gewonnenen Kriterium der Lebensdienlichkeit die Kategorie der Verantwortung, die Haltungen wie die der Nächstenliebe in die konkreten Sachprobleme hinein vermittelt und auch für die bio- und umweltethische Wahrnehmung und Gestaltungsaufgabe der Welt im Licht der Schöpfungs- und Versöhnungsgeschichte bedeutsam ist.

III. Orthodox

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1. Begriff

Die orthodoxe Theologie ist in ihrer Ethik an der jeweils konkreten Person orientiert, eine Grundachse, die auch die zentralen Dogmen ihrer Glaubenslehre – die Trinitätslehre und die Christologie – prägt. Die Person wird jedoch niemals isoliert als Individuum wahrgenommen, sondern stets in interpersonalen Beziehungen, wie diese insb. in der kirchlichen Gemeinschaft gepflegt werden können. Ob diese Voraussetzung für die Gestaltung einer S. im Rahmen orthodoxer Theologie ausreicht, kann in Frage gestellt werden. Bis heute stellt die wissenschaftliche Gestaltung einer orthodoxen S. größtenteils eher ein Desiderat dar: Die orthodoxen Kirchen sind schon aufgrund der Selbstständigkeit jeder einzelnen autokephalen Kirche nicht in der Lage, ein gemeinsames, systematisch strukturiertes Wort zu Themen der S. zu sprechen. Auch ein Fach S. fehlt meist im Studium der orthodoxen Theologie in vielen traditionsreichen orthodoxen Fakultäten. Dies wird jedoch oft von orthodoxen Ethikern nicht unbedingt als ein Versäumnis registriert. Die Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen facettenreichen sozialen Problemen, die in ihrer Mitte nicht die einzelne Person haben, sondern ein kompliziertes Geflecht von vielfältig strukturierten Beziehungen zwischen Institutionen (Institution), Individuen, Naturressourcen und technischen Errungenschaften, macht die konkrete Gestaltung einer orthodoxen S. jedoch dringend erforderlich.

2. Geschichte

Oft wurde für diese Vernachlässigung die Betonung einer „außerweltlichen Askese bzw. Weltfremdheit“ oder auch „Weltablehnung“ im kirchlichen Osten verantwortlich gemacht (Savramis 1982: 38, hier unter Verweis auf Max Weber). Alfred Müller-Armack hat diese „Weltablehnung“ i. V. m. einem „Erlebnis der unmittelbaren“ und der „unvermittelten Transzendenz“ gebracht. Durch die „gemüts- und gefühlshafte Erfassung des Religiösen“ in der Ostkirche kann weder „eine Sicherung des transzendenten Kontaktes durch den Verstand“ (Müller-Armack 1959: 347) erfolgen, noch und viel mehr das soziale (wirtschaftliche etc.) Leben rational erfasst und analysiert werden. Andere wiederum, wie Friedrich Wilhelm Graf, fokussieren auf die „autoritätsorientierte Selbstdefinition des einzelnen Gläubigen“, gemäß der ein „Vorrang der Gemeinschaft vor dem Einzelnen“ begründet wird, was jedes „Streben nach individueller Gewinnmaximierung und um Marktchancen […] als moralisch illegitim“ erscheinen lässt (Graf 1999: 629). Mögen diese geschichtlichen Analysen in Teilaspekten Recht behalten, so liefern sie oft eine monokausale Erklärung, die die Entwicklung der orthodoxen Kirchen, insb. in ihrem geschichtlichen Kontext nicht zu erfassen vermag.

Die byzantinische „Symphonie“, das System der Staat-Kirche Beziehung (Kirche und Staat), wie es im byzantinischen Reich geprägt wurde, sah eine klare Kompetenzteilung vor. Für die Belange des irdischen Lebens und für das Wohl der Bürger hat das „Königtum“ Sorge zu tragen, für das Wohl der Seelen steht hingegen die Kirche („Priestertum“) in der Verantwortung, wie dies in der bekannten 6. Novelle des Kaisers Justinian I. (535) zum Ausdruck gebracht wird. Die Rede vom byzantinischen Staat als ein „theokratisches Herrschaftssystem“, wie auch die Vorstellung einer „Doppelstellung des byzantinischen Kaisertums“ als „höchste Verkörperung der weltlichen und geistlichen Macht“ (Müller-Armack 1959: 357 f.), liefert nur ein oberflächliches Bild für die Staat-Kirche Beziehung und wird von Orthodoxen als einseitig kritisiert. Nicht eine „dem Irdischen abgewandte Metaphysik“ (Müller-Armack 1959: 369) habe möglich gemacht, dass sich die Kirche dem Staat anvertraut habe, sondern eher umgekehrt: Auf Grund der einvernehmlichen Teilung von Gewalten, der irdischen-profanen und der geistigen, konnte die Kirche dem Staat das leibliche Wohl der Bürger anvertrauen, die zugl. ihre Gläubigen waren. Die Rede von einer „Staatskirche“ im Osten behält erst dann ihre Berechtigung, wenn man von diesem einheitlich agierenden, „unifizierten“ (Müller-Armack 1959: 360) Staat ausgeht.

Die Christianisierung des byzantinischen Reiches konnte die Kirche dazu bewegen, sich diesem System der Symphonie zuzuwenden. Die Kirche konnte dabei mit ihren geistigen Gütern die staatliche Gesetzgebung beeinflussen, wie auch mit ihrer unmittelbaren philanthropischen Fürsorge konkrete Maßstäbe einer pastoralen Diakonie (Caritas, Diakonie) setzen. Sie konnte jedoch unmöglich Grundentscheidungen des Staates in Frage stellen oder eigenmächtig als sozialer Akteur im öffentlichen Leben auftreten. Spätestens wenn sich die Koordinaten dieser Symphonie ändern, z. B. in einem plural agierenden Staat (Pluralismus) sowie einer religiös und kulturell nicht mehr homogenen Gesellschaft, zeigen sich die Engpässe und die Unwegsamkeiten dieses Systems. Das heutige Beharren von nicht wenigen orthodoxen Kirchen auf dem System der „Symphonie“, sogar als ideales System, in der Annahme, der Staat wird für die Kirche jene Stütze sein, wie im byzantinischen Reich, verkennt nicht nur die Tatsache, dass dieses Reich in der modernen Welt nicht mehr existieren kann. Es verschiebt auch den eigenen Beitrag, den die Kirche im sozialen, öffentlichen Leben zu leisten hat, auf andere Akteure.

3. Grundprinzipien und ihre theologische Fundierung

Das orthodoxe Christentum zeichnet sich durch ein optimistisches Menschenbild aus, was den Menschen zu Werken einer engagierten Beteiligung auch im sozialen Leben motivieren kann. Die Schaffung des Menschen nach dem Bild Gottes ruft ihn auf, das Werk seines Schöpfers kreativ nachzuahmen, um so den Schöpfungsauftrag fortzusetzen und damit Gott ähnlich zu werden (Gen 1,27). Die Sünde vermag diesen Weg nicht zu versperren. Zwar wird die menschliche Natur geschwächt, der Mensch verliert jedoch nicht seine prinzipielle Freiheit, die durch die Menschwerdung des Sohnes Gottes neu aktiviert werden kann und eine unabschließbare Bildungsaufgabe darstellt. Der synergetische Beitrag des Menschen zu seinem Heil lässt die Annahme der geschenkten Gnade gerade in den Früchten der konkreten Liebesäußerung wirksam erscheinen. Dem Prinzip der Personalität wird absolute Priorität eingeräumt: Dadurch kann auch die Selbstverantwortung kultiviert werden. Die Person ist jedoch immer auf die Beziehungen in der Gemeinschaft angewiesen, wobei oft das Bild der trinitarischen Gemeinschaft als „soziales Programm“ erklärt wird (Volf 1998).

Als Kompass für die Navigation in den sozialen Beziehungen kann ein Grundprinzip der Ethik (und auch des Kirchenrechts der orthodoxen Kirchen), wertvolle Dienste erweisen: die „Oikonomia“. Wenn der Mensch Nachsicht in allen seinen Akten walten lässt, kann er das menschenliebende Werk Gottes (auch „Oikonomia“ genannt) nachahmen und einer undifferenzierten Geltung von Gesetzesbestimmungen Grenzen setzen. Die mystische Verankerung in der eschatologischen Ausrichtung kann letztendlich die Hoffnung erneuern und vor Utopien (Utopie) schützen. Diese Grundprinzipien orthodoxer Anthropologie und Ethik können jedoch erst im öffentlichen Diskurs ihre Wirkung prüfen, was eine systematische Analyse des sozialen Sektors des menschlichen Lebens voraussetzt. Erst die konkrete Verbindung und Anwendung dieser traditionellen Prinzipien im sozialen Leben kann ihre Relevanz und ihre Gestaltungskraft für die S. der orthodoxen Kirche offenbaren.

4. Praxis und Texte

Als erste von den orthodoxen Kirchen hat die russisch-orthodoxe Kirche ein vollständiges Kompendium zu fast allen Traktaten der S. im Jahre 2000 erstellt. Die Sozialdoktrin der russisch-orthodoxen Kirche ist zwar selbst zwischen orthodoxen Theologen in einigen wichtigen Punkten strittig und kann keine Verbindlichkeit von allen autokephalen orthodoxen Kirchen beanspruchen. Insb. der Versuch, die S. auf die byzantinische „Symphonie“ zu fundieren, erschwert den Dialog der Kirche in den heutigen komplexen Gesellschaften (Kirche und Gesellschaft). Dieses Defizit der Verankerung der Beziehung Kirche-Staat in einem überholten Paradigma, mindert auch den Wert des Grundtextes der russisch-orthodoxen Kirche zu Menschenrechten. Darin zeigt sich auch ein problematisches Verhältnis zum Freiheitsbegriff, der die Ambivalenz menschlicher Existenz nicht zu erfassen vermag, wenn nämlich die Freiheit nur als Freiheit zum Guten wahrgenommen wird. Diese Texte sind jedoch ein erster ernsthafter Versuch, sich mit Fragen unserer Zeit systematisch und verbindlich zu befassen. Andere orthodoxe Kirchen haben einen Beitrag zu Teilaspekten des weiten Spektrums der Themen einer S. geleistet. Die griechisch-orthodoxe Kirche hat z. B. mit ihrer Bioethikkommission (Bioethik) fundierte Texte zu einer Reihe von bioethischen Fragen verfasst, die sich u. a. mit der konkreten Gesetzgebung des Landes auseinandersetzen. Das ökumenische Patriarchat von Konstantinopel und konkret der Ökumenische Patriarch Bartholomaios hat eine bes. Aktivität zu Fragen einer Umweltethik gezeigt. Resultat dieser Anstrengungen ist u. a. die Proklamation des Tages der Schöpfung (1. September), was auch von vielen anderen Kirchen angenommen wurde. Eine panorthodoxe Positionierung zu Fragen der S. bleibt noch als Zukunftsaufgabe offen. Die Panorthodoxe Synode, die vom 18.–26.6.2016 auf Kreta abgehalten wurde, hat in ihrem Dokument („Die Sendung der Kirche in der Welt von heute“), sowie in ihrer langen Enzyklika zu einer Reihe von sozialethischen Themen, wie u. a. Krieg und Frieden, Armut und soziale Gerechtigkeit, die Weichen gestellt, für eine vielversprechende zukünftige Gestaltung einer panorthodoxen S. Der Erfolg dieser Dokumente hängt aber nun von der panorthodoxen Rezeption der Synode, zumal vier von den insgesamt 14 autokephalen orthodoxen Kirchen ihre Teilnahme an der Synode verweigert haben.

5. Ökumenische Kooperation

In der ökumenischen Bewegung wurden Themen der S. bevorzugt behandelt und oft ins Zentrum von Aktivitäten des ÖRK gestellt, wie u. a. die Projekte JPIC, Overcoming Violence, AGAPE. Einen essentiellen Beitrag auch zu Fragen der S. leistet die Charta Oecumenica (2001). Die orthodoxen Kirchen haben sich als Mitglieder des ÖRK bei diesen Projekten aktiv beteiligt, haben sie durch eigene Beiträge mitgeprägt und tragen die Ergebnistexte mit. Es wird erwartet, dass ähnliche Aktivitäten mehr an Verbindlichkeit von allen Beteiligten erlangen können.

6. Perspektiven

Eine orthodoxe S. kann erst dann greifbare Resultate präsentieren, wenn sie die enge Bindung der orthodoxen Kirchen zum Staat neu zu konzipieren lernt; dabei sollte der kulturelle Beitrag der Kirchen, der geschichtlich gewachsen ist, nicht geleugnet, wohl aber im jeweiligen heutigen Kontext neu entfaltet werden. Die stark eschatologisch orientierte und mystisch verankerte Ausrichtung ostkirchlicher Theologie und Praxis kann von Orthodoxen als positives Merkmal der eigenen Identität bejaht werden, ohne sich von der Verantwortung zu verabschieden, auch für die „irdische Heimat“ des gesellschaftlichen Lebens einen positiven Beitrag zu leisten. Für die Aufgabe, die Potenziale menschlicher Sozialbeziehungen und Strukturen zu gestalten, genügt nicht der Blick auf das Idealbild der Vollkommenheit, wenngleich dieses als Abbild eines Paradieses, das stets vor uns liegt, durchaus die Praxis beflügeln kann.

IV. Interreligiös

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1. Ausgangspunkt und Ansätze

Auch wenn S. zunächst konfessionelle Ausgangspunkte hatte, entwickelte sich im Rahmen der ökumenischen Bewegung des 20. Jh. eine gemeinsame Auseinandersetzung mit sozialethischen Herausforderungen. Aufgrund von Globalisierung, Migration und medialer Vernetzung rückte das Bewusstsein für die Vielfalt der Religionen und die Notwendigkeit eines friedlichen Zusammenlebens sowie interkultureller Kooperation stärker in den Vordergrund, was als ein „Zeichen der Zeit“ bes. Beachtung findet. So erweist sich der bi- oder multilaterale interreligiöse Dialog auch als wichtiger Ort sozialethischer Urteilsbildung.

Während „ökumenische Sozialethik“ (Gabriel u. a. 2006) auf eine gemeinsame Offenbarungsgrundlage zurückgreifen kann, muss „interreligiöse S.“ in hohem Maße differenzsensibel sein. Verbindendes Element sind weniger gemeinsame religiöse Positionen als die aus unterschiedlichen Perspektiven erfolgende interdisziplinäre Beschäftigung mit sozialen Phänomenen und deren Identifizierung als religiös relevante Größen. Somit kann interreligiöse S. als Dialog verschiedener Außen- und Innenperspektiven verstanden werden, durch den die je eigenen Positionen in einem neuen Licht erscheinen. Bei stärker konsensorientierten, auf eine gemeinsame Metaperspektive abzielenden Ansätzen wie „Projekt Weltethos“ (Küng 1990) besteht die Gefahr, Begründungsfiguren aus einer Religion heraus anderen Religionen überzustülpen.

Interreligiöse S. ist ein neues Forschungsfeld, das noch nicht auf bewährte Konzeptionen zurückgreifen kann. In den verschiedenen Religionen finden sich unterschiedlich stark ausgearbeitete Konzepte von S., die jeweils durch eine Auseinandersetzung mit der Moderne, ihren säkularen wie religiösen Quellen sowie ihren Ambivalenzen geprägt wurden. Nicht immer findet dabei explizit der Begriff „S.“ Verwendung. Während die katholische S. heute weitgehend philosophisch-sozialethisch arbeitet, kehrt das religiöse Moment durch interreligiöse Fragestellungen wieder stärker in die S. zurück, was auf Seiten der Religionen Kompetenzen im Umgang mit religiöser Vielfalt voraussetzt. Dennoch geht es nicht um eine antisäkulare Allianz der Religionen, sondern um einen auf verschiedene religiöse und säkulare Positionen hin offenen Diskurs. Dabei kann eine interreligiöse S. von Entwürfen einer postsäkularen Gesellschaft, interkultureller Philosophie oder Komparatistik in unterschiedlichen Disziplinen ausgehen. Aus katholischer Sicht verknüpft eine interreligiöse S. programmatisch Impulse der Konzilsdokumente GS (bes. 4, 36) und NA (bes. 1, 3) miteinander (Zweites Vatikanisches Konzil).

2. Hermeneutische Fragen und Themen

Interreligiöse S. umfasst die Beschäftigung mit andersreligiösen S.en aus einer bestimmten religiösen Perspektive heraus, deren Vergleich sowie eine zusammen mit Vertretern unterschiedlicher Religionen erfolgende Beschäftigung mit sozialethischen Herausforderungen. Hierbei spielen perspektivisch geprägte Wahrnehmungs-, Deutungs- und Übersetzungsprozesse eine zentrale Rolle. Erforderlich ist das Bemühen um eine möglichst adäquate Vergleichsebene und eine differenzierte Methode des Vergleichs, der sich als unabschließbarer Prozess erweist. Dabei gilt es, einseitige Instrumentalisierungen des Vergleichs zu vermeiden und Machtgefälle sensibel zu reflektieren. Ein dialogischer Vergleich führt nicht zu einer pauschalen Verhältnisbestimmung der Religionen, sondern arbeitet sich an Einzelfragen ab und wählt Vergleichsgegenstände, -maßstäbe, -instrumentarium und -ziel sorgfältig und in einem dialogischen Verfahren (Dialog) aus.

Die Diskussion um interreligiöse S. ist von folgenden Grundsatzfragen geprägt:

a) Verhältnis von Individual- und Sozialethik, wobei in allen Religionen traditionell eine individualethische Perspektive im Vordergrund steht;

b) kontextuelle Prägung der S. – so ist etwa für Muslime im Westen ein Zugang zur Moderne auf der Basis von Freiheit und unbelastet von kolonialer Vergangenheit (Kolonialismus) möglich, was sich auch auf die jeweiligen Positionen auswirkt;

c) Diskurs- und Organisationsstruktur der Religionen, die mit Ausnahme des Christentums keine Kirchenstruktur entwickelt haben und daher oft noch in einem höheren Maße von einer Vielfalt an Positionen geprägt sind, so dass auch Religionsvergleiche in einem Höchstmaß plural ausfallen;

d) Verhältnis zwischen einem Anspruch für die ganze Gesellschaft und einer auf die Eigengruppe bezogenen kommunitaristischen Ethik (Kommunitarismus);

e) damit zusammenhängend die Frage der Ethikbegründung, wobei naturrechtliche Ansätze (Naturrecht) im Sinne einer Nachvollziehbarbeit nach außen im interkulturellen Rahmen in allen großen Religionen vertreten werden;

f) das Verhältnis von Autonomie und Theonomie und damit verbunden die Frage einer von der Religion unabhängigen Rationalität.

Als Schlüsselthemen interreligiöser S. von weltweiter Bedeutung können Fragen der politischen Ethik (Religionen und Staat, Menschenrechte, Frieden, Armutsbekämpfung), der Wirtschafts- und der Umweltethik angesehen werden. Nicht-hegemonial, sondern kulturoffen verstanden erweisen sich die Menschenrechte mit ihrem universalen Geltungsanspruch als interreligiös anschlussfähige gemeinsame Grundlage.

3. Perspektiven einzelner Religionen

In Europa und im Kontext globaler Entwicklungen steht derzeit der Dialog mit dem Islam im Vordergrund. Im Zusammenhang mit seiner Wiederbelebung nach der Shoa findet das Judentum zunehmend Beachtung. Durch Migration und Konversionen sind auch Buddhismus und Hinduismus im Westen präsent. Aufgrund ihres inneren Gefüges und der kontextuellen Rahmenbedingungen zeigen sich in den S.en der großen Religionen unterschiedliche Akzente, die ebenso wie die spezifischen theologischen Bezugspunkte der Religionen zueinander für eine interreligiöse S. berücksichtigt werden müssen:

Jüdische S. ist durch biblische, halachische und philosophische Traditionen geprägt. Von daher stellt sich weniger die Frage nach einer Ableitung einzelner ethischer Normen, sondern nach dem Raum für eine von einer binnengruppenbezogenen Halacha getrennten Ethik überhaupt. Nach der Judenemanzipation in Europa ab Ende des 18. Jh. ging es darum, wie man als Jude in einer modernen westlichen Gesellschaft leben kann. Es entwickelten sich unterschiedliche Strömungen: Während die Orthodoxie an der Überzeitlichkeit und dem göttlichen Charakter der Halacha festhält, betont das Reformjudentum in Anknüpfung an die Philosophie der Aufklärung und im Rückgriff auf biblische Propheten den ethischen Charakter des Judentums sowie die Autonomie des Menschen. Bereits im 19. Jh. entstanden in Deutschland Entwürfe jüdischer S. mit Gerechtigkeit als Leitidee, auch wenn diese staatlicherseits wenig Gehör fanden. David Novak grenzt eine prinzipienorientierte jüdische S. von der kasuistischen Tradition ab und hebt ihren utopisch-messianischen Charakter hervor.

Islamische S. ist durch Koran und Sunna, aber auch durch die Rezeption antiker Philosophie geprägt. Weiterhin sind sozialethische Fragen im islamischen Recht verortet. Heute wird dieses von vielen muslimischen Reformdenkern nicht mehr als staatlich zu sanktionierendes Recht, sondern als Ethik verstanden. Dabei werden die leitenden Intentionen und Prinzipien der Scharia (wie der Schutz des Lebens) gegenüber Einzelnormen in den Vordergrund gestellt. Auf diese Weise ergeben sich Ansätze einer islamischen S., die gegenüber Kontext und Erkenntnissen nichtreligiöser Wissenschaften (Wissenschaft) offen sind und sich in einem pluralen zivilgesellschaftlichen Diskurs (Pluralismus, Zivilgesellschaft) verorten. Betont werden die Prinzipien soziale Gerechtigkeit und Solidarität im Sinne einer ökonomischen Alternative. Seit dem 19. Jh. gibt es innerhalb des Islams bis heute wirksame gegensätzliche Positionen in der Rezeption von Säkularisierung und Moderne. Angesichts von radikalen und gewalttätigen Gruppen steht die islamische S. heute unter einem hohen Legitimationsdruck, ihre Moderne- und Pluralismusfähigkeit zu erweisen.

Buddhistische S. basiert auf dem individuellen, eng mit Spiritualität verknüpften Weg zur Vervollkommnung und Leidüberwindung, was auch zum Nutzen anderer Menschen beiträgt. Der Glaube an die Wiedergeburt fungiert als motivierende Kraft für ethisches Handeln – so kann buddhistische Ethik als utilitaristische Ethik (Utilitarismus) oder als eudaimonistische Tugendethik verstanden werden. Vielfach wird von einer gestuften Ethik für Laien bzw. Mönche ausgegangen, die aber in einer wechselseitigen Beziehung stehen. Der Mensch ist nicht der Natur übergeordnet, sondern soll ihr gegenüber mitfühlend sein. Die weltorientierte Bewegung eines engaged Buddhism, die den Charakter eines losen Netzwerks hat, stellt in Abgrenzung vom traditionellen Buddhismus die Interaktion von Individuum und Gesellschaft in den Mittelpunkt und betont Mildtätigkeit, Gewaltlosigkeit, Versöhnung sowie universale Verantwortung. Auf diese Weise wird eine Brücke zwischen buddhistischen Werten und aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen geschlagen.

Hinduistische S. ist schwer zu fassen, da es sich bei Hinduismus um einen Sammelbegriff für unterschiedliche Religionen handelt, in deren Zentrum ein an mythisch-narrative Ethikkonzepte anknüpfender Weg zur persönlichen Vollendung steht. Prägend ist ein kosmisches Ordnungsideal, das einen Zyklus von Entstehen und Vergehen und damit auch eine Wiedergeburtslehre umfasst, welche Freiheit und Verantwortung voraussetzt. Nach 1757 erfolgte in Indien in Reaktion auf die britische Kolonialherrschaft (Kolonialismus) und die christliche Mission eine Modernisierung unter dem vereinheitlichenden Konzept eines Neohinduismus, die im unabhängigen Indien (seit 1947) fortgesetzt wird. Das eng mit dem Hinduismus in Verbindung gebrachte Kastenwesen wird heute nicht notwendigerweise als Hindernis, sondern auch als mögliche Grundlage für Demokratie verstanden, indem es Organisationspotentiale bereit stellt und Individuen in eine vielfältig strukturierte, weit weniger klischeehaft statische Gemeinschaft integriert, womit es sich als widerständig gegenüber dem modernen Individualismus erweist.