Bundestag

  1. I. Position in Recht und Staat
  2. II. Leistung und Herausforderung im Legitimationsprozess

I. Position in Recht und Staat

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1. Volkssouveränität und Legitimation

Mit dem GG für die BRD vom 23.5.1949 ist die Staatsform der parlamentarischen Demokratie eingerichtet worden. Sie gründet in der Volkssouveränität: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ (Art. 20 Abs. 2 GG), gliedert jedoch das Volk mit bestimmten ihm zugewiesenen Befugnissen in einen Kreis von mehreren Verfassungsorganen mit je spezifischen Zuständigkeiten ein: „Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt“ (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG). Innerhalb dieser Verfassungsordnung steht das Volk nicht als „der Souverän“ über den anderen Verfassungsorganen, auch nicht über dem Parlament als seiner Vertretung. Es ist nur insoweit handlungsbefugt, als es ihm von der geschriebenen Verfassung zugewiesen wird.

Die Staatsgewalt muss dem Volk jedoch vollständig und umfassend zurechenbar, nämlich direkt oder zumindest mittelbar auf das Volk zurückführbar sein. Damit ist der B. als das einzige (auf Bundesebene) vom Volk unmittelbar (Art. 38. Abs.1 GG) gewählte Verfassungsorgan in das Zentrum des Legitimationszusammenhangs zwischen Volk und Staatswillensbildung gestellt. Allen anderen Staatsorganen wird die Zurechenbarkeit zum Volk und damit ihre staatsrechtliche Legitimation erst durch parlamentarische Akte vermittelt. Das gilt für den Bundespräsidenten (Wahl durch die Bundesversammlung, bestehend aus dem B. und der gleichen Anzahl von Vertretern der Landesparlamente, Art. 54 Abs. 3 GG), für das BVerfG (Wahl der Mitglieder je zur Hälfte durch B. und Bundesrat, Art. 94 Abs. 1 GG), für die Mitwirkung an der Berufung der Richter der Obersten Gerichtshöfe des Bundes (Bundesgerichte) (Art. 95 Abs. 2 GG) sowie für weitere vom B. zu wählende Organe (Wehrbeauftragter, Datenschutzbeauftragter, Präsident des BRH).

2. Parlamentarisches Regierungssystem

An erster Stelle gilt dies für den Bundeskanzler. Seine Wahl durch den B. mit der Mehrheit seiner Mitglieder (u. U. mit einfacher Mehrheit, Art. 63 Abs. 2 und 4 GG) ist Grundlage des parlamentarischen Regierungssystems (Regierungssysteme) in der Version des GG. Darin ist die Regierung nicht nur von einer Zustimmung des Parlaments (Vertrauensvotum) abhängig, sondern wird von ihm bestellt. Der vom B. gewählte Regierungschef beruft seinerseits die Mitglieder der Regierung, formal durch Vorschlag an den Bundespräsidenten (Art. 64 Abs. 1 GG), politisch-faktisch im Einvernehmen mit der Mehrheit des B.s. Das Amt der Minister endet in jedem Falle mit dem des Bundeskanzlers, der sie berufen hat (Art. 69 Abs. 2 GG). Damit ist die Bundesregierung als Ganze in ihrer Legitimation und in ihrem Bestand vom B. abhängig. Sie kann vom B. abgelöst werden, jedoch nur dadurch, dass er eine neue bestellt, indem ein „Nachfolger“ des Bundeskanzlers gewählt und in demselben Akt der bisherige entlassen wird (Art. 67 Abs. 1 GG). Dieses „konstruktive“, nämlich regierungsbildende, Misstrauensvotum stellt sicher, dass jede Regierung durch eine mehrheitliche Wahl im B. legitimiert, ihr Handeln mithin auf die vom Volk in der B.s-Wahl getroffene Entscheidung rückführbar ist.

3. Handlungseinheit von Parlamentsmehrheit und Regierung

Durch die Befugnis jeder parlamentarischen Mehrheit, eine ihren Vorstellungen entspr.e Regierung zu installieren, sind die politischen Schicksale der Mehrheitsabgeordneten und der von ihnen ins Amt gebrachten Regierung miteinander verbunden. Das Handeln der Regierung wird der Mehrheit des B.s, der „Kanzlermehrheit“, zugerechnet. Erfolge einer Regierung kommen den sie tragenden Fraktionen (Fraktion) zugute, Misserfolge beeinträchtigen ihre politischen Gestaltungs- und Wahlchancen. Die Abgeordneten (Abgeordneter) der Mehrheit haften für die Regierung, die sie ins Amt bringen und dort halten. Die Abgeordneten der Minderheit, die den Kanzler nicht gewählt haben, bilden als solche eine Opposition, die ihre Nichtzustimmung zur aktuellen Regierung in der Auseinandersetzung mit deren Zielen und Maßnahmen begründet. Durch Kritik und Kontrolle gegenüber Regierung und Mehrheit formulieren ihre Mitglieder und Fraktionen, im B. wie in der politischen Öffentlichkeit, andere programmatische und personelle Vorstellungen, mit denen den Bürgern und Wählern Angebote einer alternativen Regierungspolitik unterbreitet werden.

4. Gewaltenteilung und Machtbegrenzung

Auf dieser Grundlage – die vom Verfassungsrecht vorgegeben, nicht etwa in einer „Verfassungswirklichkeit“ entstanden ist – besteht eine Gewaltenteilung oder „Balance“ zwischen Parlament und Regierung nicht mehr in der Form, in der sie von der konstitutionellen Monarchie (Konstitutionalismus) überkommen ist und für Präsidialsysteme noch immer postuliert wird. Solange und sofern die Regierung von außerhalb des Parlaments ins Amt gebracht wurde – von einem Monarchen oder von einem seinerseits vom Volk gewählten Staatspräsidenten (Staatsoberhaupt) –, kann sie als dem Parlament „gegenüberstehend“ aufgefasst werden. In der Entwicklung des Parlamentarismus im 19. Jh. war das folgerichtig, weil der vom Monarchen eingesetzten und abhängigen Exekutive Machtbefugnisse (Budgetrecht, Gesetzgebung) abgerungen und der Volksvertretung zugeordnet werden sollten. Von dem Augenblick an, in dem die Exekutive ausschließlich vom Parlament eingesetzt wird, ist jenes historische „Gegenüber“ zweier konkurrierender Institutionen (Institution) obsolet. Seit die Regierung „Fleisch vom Fleische des Parlaments“ geworden ist, wie es Hugo Preuß schon 1919 in den Verhandlungen der verfassungsgebenden Nationalversammlung gefordert hatte, muss ihre Beziehung zu diesem anders verstanden und praktiziert werden.

Gelegentlich wird die vom GG geschaffene Verfassungslage als „neue Gewaltenteilung“ zwischen der Parlamentsmehrheit nebst ihrer Regierung und der oppositionellen Minderheit nebst von ihr nutzbaren zusätzlichen Institutionen und Akteuren bezeichnet. Die für Demokratie und Rechtsstaat fundamentale gegenseitige Hemmung und Begrenzung staatlicher Macht stellt sich im parlamentarischen Regierungssystem (Regierungssysteme) jedoch differenzierter dar.

5. Verfassungs- und parlamentsrechtliche Vorgaben

Einrichtungen und Arbeitsweise des B.s sind im GG vorgeschrieben, jedoch nicht nur von diesem. Zusätzlich wird die staatsrechtliche Lage durch einfache Gesetze (Gesetz) geprägt, die das GG nicht nur ausführen, sondern normativ ergänzen und z. T. ihrerseits Verfassungsqualität gewinnen. Das gilt für zentrale Bestimmungen des Wahlrechts, des Parteiengesetzes, des Abgeordnetengesetzes und der GOBT. Bes. auch durch Entscheidungen des BVerfG sind Rechtsbestände dieser Art im Wege der Interpretation zum Bestandteil der Verfassungsrechtslage geworden. So wurden z. B. die Fraktionen (Fraktion), die der Text des GG nicht kennt (mit Ausnahme des später eingefügten Art. 53 a), erst vom BVerfG als „Gliederungen des Bundestages […] der organisierten Staatlichkeit eingefügt“.

Die Zahl der Abgeordneten (Abgeordneter) legt § 1 des BWahlG grundsätzlich fest. Der B. besteht aus nominell 598 Abgeordneten. Infolge von Überhang- und Ausgleichsmandaten ist sie aber variabel. Abgeordnete sind Vertreter des ganzen Volkes und an Weisungen gleich von welcher Seite nicht gebunden (Art. 38 Abs. 1 GG). Ihre parlamentarische Arbeit und damit der B. als ganzer ist durch die Abgeordnetenentschädigung und durch das Behinderungsverbot (Art. 48 GG) sowie durch Immunität, Indemnität und Zeugnisverweigerungsrecht (Art. 46, 47 GG) abgesichert und vor Eingriffen von staatlicher wie nichtstaatlicher Seite geschützt.

Die Wahlperiode beträgt vier Jahre. Sie endet jeweils mit dem Zusammentritt eines neuen B.s, dessen Konstituierung spätestens 30 Tage nach seiner Wahl erfolgen muss (Art. 39 Abs. 1 und 2 GG). Der B. wählt seinen Präsidenten und dessen Stellvertreter (Art. 40 Abs.1 GG), von denen jede Fraktion mindestens einen stellt (§ 2 Abs. 1 GOBT). Jeder neu gewählte B. gibt sich selbst seine Geschäftsordnung (Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG), die in der Praxis meist durch Beschluss in der konstituierenden Sitzung vom vorigen B. übernommen wird. Jeder B. entscheidet alleine über Sitzungsrhythmus, Verfahrensfragen, innere Gliederung und Unterorgane. Einige seiner Gremien sind vom GG vorgesehen (Untersuchungsausschuss Art. 44 GG, Ausschuss Europäische Union Art. 45 GG, Ausschüsse für Auswärtiges und für Verteidigung Art. 45 a GG, Petitionsausschuss Art 45 c GG, Parlamentarisches Kontrollgremium der Nachrichtendienste Art. 45 d GG). Im Übrigen richtet er nach eigenem Ermessen Ausschüsse zur arbeitsteiligen Vorbereitung seiner Entscheidungen ein, insb. für die Beratung der Gesetzentwürfe. In der erforderlichen Spezialisierung folgt die fachliche Zuständigkeit der Ausschüsse der Ressortverteilung in der Regierung. Jedem Ministerium steht ein Ausschuss gegenüber, dem Innenministerium der Innenausschuss usw. Damit hängt auch die Befugnis der Ausschüsse zusammen, sich nicht nur mit der Durcharbeitung vom Plenum überwiesener Vorlagen (v. a. Gesetzentwürfe), sondern auch „mit anderen Fragen aus ihrem Geschäftsbereich“ zu befassen (§ 62 Abs. 1 Satz 2 GOBT). Dadurch können sie kontinuierliche Kontrolle des ihnen entspr.en Ressorts ausüben.

Das für die Arbeitsweise des B.s wichtigste Gremium ist der Ältestenrat. Obwohl nicht im GG, sondern in der GOBT vorgesehen (§ 6), verwirklicht und stabilisiert er in bes.r Weise die verfassungssystematischen Bedingungen der parlamentarischen Regierungsform. Er wird geleitet vom Präsidenten des B.s und besteht aus dessen Stellvertretern und 23 von den Fraktionen nach dem Verhältnis ihrer Mitgliederzahlen benannten Abgeordneten. Er legt den Sitzungsplan für jeweils ein Jahr fest, einigt sich auf die Tagesordnung jeder Plenarsitzung, verständigt sich über die Vorsitzenden der Ausschüsse, stellt den Haushaltsplan für den B. auf, setzt Kommissionen für Angelegenheiten der inneren Verwaltung ein (z. B. Bibliothek, EDV, Mitarbeiter der Abgeordneten) und unterstützt den Präsidenten in seinen Aufgaben. Diese bestehen nicht allein in der Leitung der Plenarsitzungen (im Wechsel mit den Vizepräsidenten), sondern auch in der politischen und rechtlichen Vertretung des B.s nach außen und innen (Ordnungsrecht, Hausrecht und Polizeigewalt, Bewirtschaftung des Haushalts, Beschaffungen und Verträge, Personal der Verwaltung des B.s u. a., vgl. § 7 GOBT).

6. Fraktionen

Die wichtigste Gliederung des B.s stellen die Fraktionen (Fraktion) dar, deren Bildung, Stellung und Befugnisse in der GOBT geregelt und durch eigene interne Satzungen (Satzung, sog.e Geschäfts- oder Arbeitsordnungen) ergänzt werden. Sie bestehen aus Abgeordneten (Abgeordneter) der jeweils selben politischen Partei, werden jedoch vom BVerfG nicht (mehr) aus der grundgesetzlichen Institutionalisierung der Parteien (Art. 21 GG) abgeleitet, sondern als freiwillige Zusammenschlüsse aufgrund der Mandatsfreiheit gedeutet. Nahezu alle Gestaltungs- und Antragsrechte sind in der GOBT den Fraktionen zugeteilt, indem die Verfahrensaktivitäten an ein Quorum von „einer Fraktion oder von fünf vom Hundert der Mitglieder“ des B.s gebunden sind. Da Fraktionen immer mindestens diesen Prozentsatz umfassen müssen (§ 10 GOBT), verfügen sie gleichsam automatisch über diese Rechte. Zugl. schafft diese Formel weitreichende Minderheitsrechte: Nicht nur kann sich jede oppositionelle Fraktion ihrer bedienen, sondern auch jede sich zusammenfindende Gruppierung von mindestens 5 % der Abgeordneten, sei es aus verschiedenen Fraktionen oder auch innerhalb einer größeren. Viele der so wahrzunehmenden Verfahrensrechte sind unentziehbar gestaltet – in der GOBT als „Verlangen“ bezeichnet (z. B. § 6 Abs. 1 oder § 62 Abs. 2) –, sodass der B. auch durch Mehrheitsbeschluss nicht abweichend verfahren darf.

Vorsitzende und Stellvertreter werden nicht für die gesamte Wahlperiode gewählt, sondern nur für Abschnitte, z. B. zunächst für ein Jahr und dann noch zweimal für je eineinhalb Jahre. Darin verbirgt sich ein bedeutsamer Aspekt für die sog.e Fraktionsdisziplin: Sie ließe sich von Funktionsträgern, die auf Wiederwahl angewiesen sind, schwerlich mit unkollegialem Druck durchsetzen. Es muss daher für die notwendige Erkennbarkeit von Regierung und Opposition in der Arbeit des B.s in den Fraktionen geworben und überzeugt werden. Dass ein „Fraktionszwang“ von vornherein rechtlich ausgeschlossen ist, folgt aus der Freiheit und Gleichheit des Mandats (Art. 38 Abs. 1 GG).

7. Parlamentsfunktionen

Die hergebrachte Bezeichnung des B.s als „Gesetzgebungsorgan“ legt es nahe, ihm als wichtigste und erste Aufgabe die Beratung und Verabschiedung von Gesetzen (Gesetz) zuzuschreiben.

Verfassungssystematisch ist jedoch die Kreationsfunktion diejenige mit der wichtigsten und nachhaltigsten, alle anderen Aufgaben vorprägenden Bedeutung. Die Wahl des Bundeskanzlers ist kein isolierter Vorgang, nach welchem die Regierungsbildung und ihre programmatische Ausrichtung erst einsetzen würden. Vielmehr umfasst sie politisch die Bildung der Regierung in personeller und inhaltlicher Hinsicht, indem sie auf dem Konsens über das schon zuvor, i. d. R. in einem Koalitionsvertrag, vereinbarte Programm der künftigen Regierung aufsetzt. Der Koalitionsvertrag setzt seinerseits wesentliche Vorhaben und Ankündigungen um, die in den Programmen und Wahlaussagen der beteiligten Parteien und mithin von ihren nun im B. die Mehrheit bildenden Abgeordneten (Abgeordneter) vertreten und beworben wurden. Die Koalitionsvereinbarung enthält regelmäßig Gesetzesvorhaben, die später in der Regierungserklärung des Kanzlers konkretisiert und im Laufe der Wahlperiode in rechtstechnische Formen gebracht werden. Auf dieser Basis erfolgt die Kanzlerwahl. Sie beglaubigt das gemeinsame Projekt der B.s-Mehrheit und „ihrer“ Regierung. Die Parlamentsarbeit leitet sich aus dieser Grundentscheidung ab.

Folgerichtig wird die Gesetzgebungsfunktion geprägt von den Gestaltungsabsichten der Koalition. Die vorgesehenen Projekte werden, gleichsam im Auftrag oder zumindest im grundsätzlichen Einvernehmen der Mehrheit des B.s, von Seiten der Regierung eingebracht. Sie übernimmt die Vorbereitung und Ausformulierung der Mehrzahl der Vorlagen, und diese sind es v. a., die der B. am Ende in dieser oder einer geänderten Fassung beschließt. Vom Initiativrecht „aus der Mitte des Bundestages“ (Art. 76 Abs. 1 GG) wird ebenfalls Gebrauch gemacht, von oppositionellen Fraktionen (Fraktion) zur Präsentation alternativer Konzepte, auch von der Mehrheit zur Einsparung der bei Regierungsinitiativen vorgeschriebenen vorherigen Beteiligung des Bundesrates (Art. 76 Abs. 2 GG), sowie gelegentlich bei interfraktionellen Entwürfen oder solchen, die von Abgeordnetengruppen eingebracht werden, die sich jenseits von Regierungs- oder Fraktionsvorhaben für bestimmte Regelungsvorstellungen zusammenfinden. Den Regelfall bilden jedoch Gesetzesvorlagen der Regierung, deren Beratung den wichtigsten Anknüpfungspunkt für die Darstellung kontroverser politischer Positionen zwischen Regierung und Opposition bietet.

Damit erweist sich die Gesetzgebungsfunktion, einschließlich der ebenfalls durch Gesetz auszuübenden Budgethoheit, als wesentlicher Anwendungsfall der parlamentarischen Kontrollfunktion. Diese Aufgaben gehen ineinander über: Die Regierung legt ihre Regelungsvorschläge vor, der B. überprüft und beurteilt sie und entscheidet schließlich, ob oder inwieweit er zustimmt. Ihm obliegt die Endkontrolle praktisch aller Vorhaben der Regierung, welche im Rechtsstaat, zumal unter der Geltung des verfassungsgerichtlichen „Wesentlichkeitsprinzips“, der Gesetzesform oder einer gesetzlichen Ermächtigung bedürfen.

Gesetzentwürfe werden im B. durch die Ausschüsse bearbeitet, oft unter Einbeziehung externen Sachverstands und Interesses mittels Anhörungen. In den Ausschüssen sind die Fraktionen gemäß ihrer Mitgliederstärke vertreten. Dadurch wird gewährleistet, dass die Ausschüsse dem Plenum Beschlussempfehlungen vorlegen, die dort angenommen werden können, ohne nochmals von Grund auf überarbeitet werden zu müssen. Regierungsvorlagen werden in den Ausschussberatungen häufig geändert, nicht selten weitreichend, sodass dem Plenum Synopsen aus dem Regierungsentwurf und der vom Ausschuss erarbeiteten Textfassung vorgelegt werden. Angesichts der Mehrheit der Koalition (auch) in den Ausschüssen bedeutet dies, dass die Abweichungen vom Regierungsentwurf von der Regierungsmehrheit vorgenommen oder, falls seitens der Opposition eingebracht, von ihr akzeptiert und am Ende beschlossen wurden. Die Mehrheit übt mitsteuernde Kontrolle gegenüber der Regierung aus, eben weil sie diese politisch trägt, während die Opposition ihre Kontrolle ausübt, weil sie sie nicht trägt. Gemäß der Logik des parlamentarischen Regierungssystems ist auch die Kontrollfunktion des B.s nach Zielen und Methoden gespalten.

Die oppositionelle Kontrolle entspr. mehr der herkömmlichen Vorstellung einer Überprüfung fremden Handelns. Sie nutzt bes. auch die formellen Rechte der GOBT wie Große und Kleine Anfragen, Änderungsanträge, Fragestunde und Aktuelle Stunde. Ihre Kontrolle ist kontrovers und alternativ. Sie richtet sich insb. an Öffentlichkeit, Wähler und interessierte Akteure außerhalb und im Umfeld des Parlaments. Damit erweist sich die als Öffentlichkeitsfunktion geläufige Aufgabe der dauernden Kommunikation mit Bürgern, gesellschaftlichen Organisationen, Medien und der gesamten politischen Öffentlichkeit ebenfalls als wesentlicher Faktor der Kontrollfunktion. Sie ist eine Querschnittsaufgabe des gesamten B.s, ohne die die anderen Funktionen nicht wirksam, unter den heutigen Bedingungen der Mediengesellschaft nicht einmal denkbar wären. Erst mit dieser Vermittlung kann das Parlament einlösen, was mit dem Begriff der parlamentarischen Repräsentation umschrieben wird. Es handelt sich nicht (mehr) nur um die Repräsentation des Volkes im Parlament, sondern um eine solche durch das Parlament in der gesamten Staatswillensbildung einschließlich des Regierungshandelns. Das vom GG bewirkte Regierungssystem ist damit in bes.r Weise, historisch erstmalig, an den Pluralismus, den hohen Grad sozialer Binnenorganisation, die medialen Bedingungen und die Partizipationserwartungen einer modernen Gesellschaft angepasst. Dadurch ist es dem B. möglich, in der Doppelaufgabe der verbindlichen Normsetzung einerseits und der kommunikativen Einbindung des repräsentierten Volkes andererseits die Staatswillensbildung in grundsätzlicher Übereinstimmung mit der gesellschaftlichen Meinungsbildung zu halten.

II. Leistung und Herausforderung im Legitimationsprozess

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1. Legitimation durch Kommunikation

Nach dem GG ist der Deutsche B. rechtlich und substantiell das Zentrum demokratischer Legitimation im politischen System Deutschlands. Dass die demokratische „Legitimationskette“ zwischen dem Volk und seinem Repräsentationsorgan in keinem Fall gesprengt werden darf, gehört zu den nicht zuletzt auch im Kontext von EU-Entscheidungsprozessen ständig wiederholten Kernsätzen der Rechtsprechung des BVerfG. Legitimität entsteht formal durch rechtlich korrektes, Transparenz gewährendes Verfahren, substantiell durch funktionierende Kommunikation zwischen Parlament und Öffentlichkeit sowie politisch durch sachgerechte Problemlösung und angemessene Erfüllung sozialstaatlicher Leistungsansprüche (Sozialstaat). Die dem B. zugeschriebenen Funktionen (Kreation, Gesetzgebung, Kontrolle, Öffentlichkeit) zielen auf Effizienz und Evidenz ab, um der verfassungsmäßigen Zielvorstellung zu entsprechen. Da aber auch parlamentarische Leistungsentfaltung den Bürgern vermittelt werden muss, lässt sich die Gesamt- und Kernaufgabe des B.s definieren als Legitimation durch Kommunikation.

Eine derart zentrale Position war den historischen Vorläufern und zeitgenössischen Gegenbildern des B.s verwehrt geblieben. Im monarchischen Konstitutionalismus gründete Legitimität auf der Krone, und das Parlament blieb – auch dies revozierbar – auf die Teilhabe an untergeordneten Sektoren staatlicher Machtentfaltung beschränkt, während die WRV im Reichspräsidenten eine konkurrierende Legitimitäts- und Machtquelle institutionalisierte. Leitnorm der DDR-Verfassung war der Führungsanspruch der Partei der Arbeiterklasse, dem sich die sozialistische Vertretungskörperschaft zu unterwerfen hatte. Mit dem Einzug der ostdeutschen Abgeordneten in den B. 1990 repräsentiert dieser nun das ganze deutsche Volk im Kontext der Legitimitätsdoktrin des modernen Parlamentarismus.

Gegen historisch begründete Skepsis hat sich der B. diese von Beginn an zu eigen gemacht – mit ausgeprägter Bereitschaft der in Weimar noch versagenden Parteien zu Macht und Verantwortung, auf welcher die Fähigkeit beruht, Regierung zu bilden und zu stabilisieren. Soweit sich überhaupt Krisen entwickelten, stellten sich Wille, Wege und Techniken ein, sie zu überwinden. Diese Intention parlamentarischer Mitregierung indiziert die entschiedene Wende zur Moderne: Auf die Kompatibilität von Amt und Mandat gestützt, rekrutiert i. d. R. der B. die Kabinettsmitglieder, die infolgedessen parlamentarisch sozialisiert, politisch und kommunikativ an die Regierungsfraktionen rückgebunden und an autoritärer Verselbständigung gehindert sind. Selbst die frühe Tendenz zur Kanzlerdemokratie hat diese Grundsätze nicht prinzipiell außer Kraft gesetzt, aber mit wachsender Komplexität, Supranationalisierung und Globalisierung sowie der Beschleunigung der Entscheidungsmodi nicht unerheblich modifiziert. Doch die Opposition ohnehin, aber auch die Regierungsfraktion(en) bestehen prinzipiell auf Rechtfertigung und Einfluss.

2. Priorität der Expertise: Arbeitsparlament

Speziell die Teilhabe an der Staatsleitung setzt jenseits rhetorischen Glanzes zunehmend sachrationale Arbeitsfähigkeit als Grundlage von „Diskussion und Öffentlichkeit“ (Schmitt 1969: 5) voraus. In Selbstverständnis und Arbeitsstil folgen daraus fachliche Spezialisierung und Arbeitsteilung der Abgeordneten (Abgeordneter) in ihren Fraktionen (Fraktion), die in den ersten beiden Jahrzehnten zögerlich, dann aber zunehmend durch den Aufbau moderner Hilfsdienste auf Abgeordneten-, Fraktions- und Parlamentsebene unterstützt worden sind. Politische Folge ist wenigstens bei wichtigen Gesetzesprojekten oft die Bildung von „Fachbruderschaften“ zwischen den „zuständigen“ Abgeordneten und Ministerialbeamten, um durch frühzeitige Mitbestimmung die Realisierung der politischen Leitideen der regierenden Mehrheit zu gewährleisten. Die alle Fraktionen übergreifende Ausschussarbeit tritt hinzu. Der B. hat sich durchaus auch im Sinne der früheren Traditionen der „Arbeit am Gesetz“ im Kontext gesteigerter Komplexitäten frühzeitig und konsequent zum Arbeitsparlament entwickelt, dessen Selbstverständnis sich nicht primär auf die Debatte (Redeparlament, z. B. Unterhaus) richtet. I. d. R. ist ausgewiesene Expertise und mit ihr Nützlichkeit für die arbeitsteilige Fraktionsarbeit auch zur Voraussetzung für parlamentarische Karrieren im B. geworden.

In dessen Praxis dominiert Legitimation durch Leistung. Diese Akzentuierung unterstützt grundsätzlich die Konkurrenzfähigkeit des B.s gegenüber Regierungsapparat und Interessenvertretern (Interessengruppen). Andererseits tangiert sie im Komplexitätsgeflecht des modernen Sozial-, Rechts- und Bundesstaates mit überlagernder europapolitischer Orientierung sowie eines ebenso kooperierenden wie konkurrierenden Mehrebenenentscheidungssystems (Mehr-Ebenen-Regieren) sowohl zuordenbare Verantwortlichkeit wie Transparenz und Kommunikation als wesentliche Glieder der postulierten Legitimationskette. Im Ergebnis beschränkt die relativ erfolgreiche Etablierung als Arbeitsparlament aufgrund der damit verbundenen Verdichtung und Verfachlichung seiner Diskurse die kommunikative Dimension des Legitimationsprozesses. Als „Forum der Nation“ ist der B. kaum wahrzunehmen. Seinem i. d. R. kooperativen Arbeitsstil öffnen sich weder Medienlogik noch Aufmerksamkeitskriterien der Öffentlichkeit, beide mehr am Agonalen als am Normalen interessiert. Die Öffentlichkeit des B.s differenziert sich sektoral, wie die Gesellschaft auch, nach Themen und Interessen. Soziale Medien (Social Media) befördern diese Tendenz. Reformüberlegungen, ihr entgegenzutreten, sind Legion, ohne dass es je ein Rezept gegeben hätte, das Verhältnis zwischen Arbeits- und Kommunikationsleistung zu optimieren. Angesichts der oben definierten Gesamtaufgabe des B.s lassen sich zwar keine rechtlichen, aber doch praktische Defekte des Legitimationsprozesses konstatieren.

3. Legitimationsdefekte

Zumindest drei Faktoren dynamisieren diese Herausforderung. Zum einen ist im 21. Jh. fraglich, ob die Entwicklung der Expertise im B. mit dem technologischen, gesellschaftlichen und ethischen Wandel trotz des Willens zur politischen Selbstbehauptung Schritt halten kann. Denn selbst die Regierung und ihr Apparat offenbaren mit der Vergabe komplizierter Problemlösungen an Kanzleien und Unternehmen sowie mit der befristeten Eingliederung externer Experten aus Wirtschaft und Verbänden in die Ministerien, an Grenzen ihrer Kapazität zu stoßen. Zudem ist ein neuer Typus der Aufgabenwahrnehmung durch einen verhandelnden und paktierenden Staat getreten, in dem Absprachen zwischen diesem und mit Verhinderungspotential ausgestatteten gesellschaftlichen Kräften Verbindlichkeit beanspruchen, und die noch zu durchlaufenden institutionellen Prozeduren als Störquelle empfunden werden. Der B. gerät hier in eine so gut wie ausweglose Ratifikationssituation. Staatsrecht wie Politikwissenschaft kritisieren warnend Entwicklungslinien, jedoch (noch) keinen allgemeingültigen definitiven Zustand, vor dem allerdings eine vielfältig übersehene inhärente Grenze schützt: die Parlamentarisierung der Regierung, deren politische Führung der Ministerialbürokratie sowie ihre Rechtfertigungszwänge gegenüber der B.-Mehrheit. Letztere unterliegen allerdings auch Loyalitäts- und Opportunitätserwägungen der Abgeordneten hinsichtlich des Schadens oder Nutzens von Herausforderungen eigener Minister und Kanzler im Machtspiel.

Der zweite Faktor ergibt sich aus der Europäisierung des Entscheidungssystems und den partiell selbstläufigen Kompetenzerweiterungen und -ergreifungen der EU. Weite Bereiche der Gesetzgebung sind durch Gemeinschaftsrecht veranlasst oder festgelegt, ohne dass dem B. effektive Mitgestaltungs- und Kontrollrechte gegenüber der supranational agierenden Bundesregierung zukämen. Das BVerfG sah sich in seinen Urteilen zu den Verträgen von Maastricht (1993) und Lissabon (2009) veranlasst, Kernbereiche parlamentarischer Zuständigkeiten zu begründen und zu verteidigen. Im Urteil zum Euro-Rettungsschirm (2011) wurden künftige Finanzhilfen zwingend der Zustimmung des B.s unterworfen, um Kompetenzaushöhlungen zu unterbinden, die eine Verwirklichung des Willens der Bürger rechtlich oder praktisch unmöglich machen. Die historisch damals (1949) beispiellose Ermächtigung des GG zur Abtretung nationaler Hoheitsrechte an supranationale Institutionen ist nicht als Preisgabe von Legitimation zu verstehen.

Ein dritter – interner – Faktor ist der Föderalismus, der auch noch nach den Reformen (Reform)von 2009 durch die Einspruchs- und Zustimmungsrechte der Länder den B. unter subnationalen Druck nimmt, speziell unter den Bedingungen unterschiedlicher Mehrheiten in B. und Bundesrat. Die Verfahrensstrukturen einer informellen großen Koalition und die Diskretion des im Ernstfall wirksamen Vermittlungsausschusses verwischen Verantwortlichkeit und Transparenz. Allerdings folgt dies im Wesentlichen aus der Verfassungskonstruktion, die Föderalismus und Bundesrat von Beginn an kontinuierlich als Legitimationsquelle neben dem B. etabliert hat.

Verfestigen sich insb. die beiden erstgenannten Tendenzen, verlöre der B. in der Praxis nicht nur seine Fähigkeit zur Teilhabe an politischer Führung und Staatsleitung, sondern auch das Vertrauen der Bürger: eine nicht überraschende Folge der skizzierten Defekte.

4. Der Bundestag in der politischen Kultur

Tatsächlich setzte um die Jahrtausendwende ein anhaltender deutlicher Niedergang des zuvor über fünf Jahrzehnte parallel zum wirtschaftlichen und politischen Aufschwung gewachsenen Vertrauens in den B. wie in die Leistungs- und Gemeinwohlfähigkeit (Gemeinwohl) seiner Abgeordneten (Abgeordneter) ein: über Deutschland hinaus ein politische Eliten (Elite) wie Institutionen (Institution) erfassender internationaler Trend. Ursachen? In einer grundsätzlich saturierten und zunehmend individualisierten Gesellschaft sind differenziertere und speziellere Interessen und Ansprüche schwieriger zu aggregieren und zu befriedigen. Wenn Leistung Akzeptanz bewirkt, muss entsprechende Verunsicherung Kritik- und Distanzierungsbereitschaft nach sich ziehen. Im Verbund mit dem vorwärts drängenden Individualismus entsteht (oder wächst) im zweiten Schritt das unspezifische und im Kern antiinstitutionelle Bedürfnis nach Selbstbestimmung, ja Selbstregierung: eine sich stetig erneuernde emotionale Zustimmung zu plebiszitären Verfahren (Plebiszit) auf Kosten des B.s. Seit Jahrzehnten sprechen sich kontinuierlich mehr als 50 % der Bürger dafür aus.

Gleiche Kontinuität besitzt ein eher konstitutionalistisches Parlamentsverständnis, das den B. auf die „Legislative“ reduziert, ihn der „Exekutive“ konfrontiert und sich den gewaltenfusionierenden wie Machthemmung bewirkenden, vom GG konstituierten Funktionsprinzipien des parlamentarischen Regierungssystems (Regierungssysteme) verschließt. Fraktionssolidarität gilt dann als Fraktionszwang, die Kompatibilität von Amt und Mandat als Abfall von der Gewaltenteilung, Opposition als gemeinwohlfremd und die oft mühsam errungene Kohäsion der Mehrheit als Subordination unter die Regierung. Selbst im B. erscheint die Praxis vielen Abgeordneten als Abweichung von eigentlich klassischen Normen, während sie doch der Normativität des GG folgt. Sie wähnen sich in Konfliktlagen, wenn sie ihre Rollen gemäß der Funktionslogik des Systems ausüben: Der B. siedelt in einer gespaltenen politischen Kultur, was – zugespitzt – als latenter Verfassungskonflikt diagnostiziert worden ist. Für die zentrale Institution demokratischer Legitimation ist diese Situation prekär, aber am allerwenigsten selbstverschuldet.

5. Abseits der Perfektion: Legitimation in Spannungsfeldern

Gleichwohl ist der B. im internationalen Vergleich eines der mächtigsten Parlamente (Parlament), nicht zuletzt, weil eine verantwortungsstarke Parteiendemokratie stabile Regierungen hervorgebracht hat, deren Rückbindung an die sie tragenden Fraktionen (Fraktion) wohl in unterschiedlicher Intensivität, aber doch realiter stets existiert. Die durch den Föderalismus geförderte Konsensorientierung (Konsens) der B.s-Arbeit bezieht die Opposition weithin in den parlamentarischen Entscheidungsprozess ein, ohne ihre Position als Gegenmacht zu unterminieren. Größte Herausforderung wäre die substantielle Auswanderung der Entscheidung aus dem parlamentarischen Regierungssystem (Regierungssysteme), die nach dessen Logik auch eine Entmachtung der (parlamentarischen!) Regierung einschlösse. Gesellschaftliche, auch interessengebundene Partizipations- und Mitbestimmungsansprüche sind der Demokratie inhärent bis an die Schwelle der parlamentarischen Letztentscheidung.

Den B. als exklusives Zentrum politischer Willensbildung zu verstehen, widerspräche aufs Absurdeste dem Demokratieprinzip. Gleichwohl erfordern die erwähnten Defekte der Kommunikation hohe Aufmerksamkeit. Z. T. folgen sie aus der Komplexität von Modernisierung und Globalisierung und werden gerade auch deswegen als Defekte empfunden, weil der B. diese Herausforderungen im Grundsatz annimmt und um Positionsbehauptung kämpft. Führungs- und Kommunikationsstil lassen sich nicht abschließend normieren. Auch die Verfassung eröffnet weite Spielräume für einen Legitimationsprozess, dem angesichts der Vielfalt der gesellschaftlichen und politischen Interessen, supranationalen Verflechtungen und sachrationalen Komplexitäten Perfektion nicht gelingen kann.