Bundesregierung

  1. I. Rechtlich
  2. II. Politikwissenschaftlich

I. Rechtlich

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1. Allgemeines

Die B. der BRD ist ein oberstes Verfassungsorgan des Bundes. Ihr Status und ihre wesentlichen Kompetenzen werden folglich unmittelbar durch das GG konstituiert. Dieses weist der B. entscheidenden Anteil an der politischen Staatsleitung zu und bestimmt sie zudem zur gubernativen Spitze der vollziehenden Gewalt (Gewaltenteilung). Das GG ist es auch, das die verfassungsgeberische Entscheidung für ein parlamentarisches Regierungssystem (Regierungssysteme) parteienstaatlicher Prägung zu erkennen gibt, was v. a. in seinen Bestimmungen über die Abhängigkeit der Regierungsbildung und des Regierungsbestandes vom Vertrauen des Parlaments sowie über die parlamentarische Verantwortlichkeit der B. zum Ausdruck gelangt. Die verfassungsrechtlichen Bestimmungen über die B. werden ergänzt durch Vorschriften, die den Geschäftsordnungen der obersten Bundesorgane sowie einer Reihe einfacher Bundesgesetze entstammen.

2. Zusammensetzung und Rechtsstellung ihrer Mitglieder

Die B. ist ein Kollegialorgan, das sich gemäß Art. 62 GG aus dem Bundeskanzler und den Bundesministern zusammensetzt. Bei Entscheidungen des Bundeskabinetts sind ausschließlich sie stimmberechtigt. Sowohl beamtete als auch parlamentarische Staatssekretäre (Staatssekretär) gehören der B. nicht an, auch nicht, sofern diese in Vertretung eines Bundesministers an Kabinettssitzungen teilnehmen oder Letztere die Bezeichnung Staatsminister führen. Die statusrechtliche Stellung der Mitglieder der B. ist Gegenstand des BMinG. Nach § 1 dieses Gesetzes stehen der Bundeskanzler und die Bundesminister in einem öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis. Aus Art. 66 GG i. V. m. § 5 BMinG folgt, dass sie kein anderes besoldetes Amt, kein Gewerbe und keinen Beruf ausüben und ohne Zustimmung des Bundestages auch nicht dem Vorstand, Aufsichtsrat oder dem Verwaltungsrat eines auf Erwerb gerichteten Unternehmens angehören dürfen. Indemnität und Immunität stehen ihnen nur zu, sofern sie zugleich Mitglieder des Deutschen Bundestages sind (Abgeordneter).

3. Regierungsbildung

3.1 Zweistufige Regierungsbildung

Die Bildung der B. erfolgt zweistufig. Erste Stufe und zugleich Herzstück der Regierungsbildung ist die Wahl des Bundeskanzlers durch den Bundestag, die diesem die erforderliche demokratische Legitimation verleiht. Zweite Stufe ist die Ernennung der Bundesminister, deren Auswahl der Kanzler durch Ausübung seines materiellen Kabinettsbildungsrechts dirigiert. Auch wenn beide Stufen rechtlich voneinander zu unterscheiden sind, sind sie in der Staatspraxis eng miteinander verbunden, weil einer Regierungsbildung jedenfalls im Falle einer Mehrparteienregierung i. d. R. Koalitionsvereinbarungen zugrunde liegen, die auch die Kabinettsbildung betreffen. Durch sie wird die bestimmende Einflussnahme des Bundeskanzlers auf die Auswahl der Minister faktisch ebenso modifiziert wie durch dessen regelmäßig anzutreffende Einbindung in eine politische Partei (Parteien).

3.2 Kanzlerwahl und Ministerernennung

Art. 63 GG unterscheidet drei Wahlphasen. In der ersten Phase erfolgt die Wahl gemäß Art. 63 Abs. 1 GG ohne Aussprache auf Vorschlag des Bundespräsidenten. Der Bundespräsident wird aus dem Kreise der Bewerber jenen Kandidaten vorschlagen, von dem er aufgrund der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse annimmt, dass er die erforderliche Stimmenanzahl für sich wird gewinnen können. In der ersten Wahlphase ist gewählt, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt. Der Gewählte ist vom Bundespräsidenten zu ernennen. Erreicht der Vorgeschlagene die erforderliche Mehrheit nicht, beginnt die zweite, innerhalb von 14 Tagen abzuschließende Wahlphase, für die Art. 63 Abs. 3 GG maßgeblich ist. In ihr geht die Befugnis zur Auswahl des Kandidaten auf den Bundestag über, wobei für dessen Wahl wiederum die absolute Stimmenmehrheit erforderlich und der Bundespräsident zur Ernennung des Gewählten verpflichtet ist. Wird die erforderliche Mehrheit auch innerhalb der genannten Frist nicht erreicht, tritt die dritte Wahlphase ein. In ihr findet unverzüglich ein neuer Wahlgang statt, in dem gewählt ist, wer die meisten Stimmen erhält. Vereinigt der Gewählte hierbei zugleich die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich, hat ihn der Bundespräsident nach Art. 63 Abs. 4 S. 2 GG binnen sieben Tagen zu ernennen. Erreicht er diese Mehrheit nicht, steht es gemäß Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG im Ermessen des Bundespräsidenten, ihn binnen sieben Tagen entweder zu ernennen oder den Bundestag aufzulösen. Die Bundesminister werden gemäß Art. 64 Abs. 1 GG auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsidenten ernannt. Der Bundespräsident ist zur Ernennung der Vorgeschlagenen verpflichtet, ein materielles Prüfungsrecht steht ihm nicht zu. Einer Bestätigung durch den Bundestag bedürfen die Bundesminister nicht.

4. Innere Regierungsverfassung und Kabinettsorganisation

4.1 Zentralstellung des Bundeskanzlers

Zentrale Vorschrift für die Ausgestaltung der inneren Regierungsverfassung ist Art. 65 GG, der Kanzler-, Ressort- und Kollegial- bzw. Kabinettsprinzip miteinander kombiniert. Die herausgehobene Stellung des Bundeskanzlers resultiert aus dem Umstand, dass er als einziges Mitglied der B. direkt vom Parlament gewählt und diesem gegenüber unmittelbar verantwortlich ist. Zudem steht nur ihm das Kabinettsbildungsrecht zu. Dieses umfasst nicht nur die Befugnis, die Minister zu bestimmen (materielles Kabinettsbildungsrecht, Personalgewalt), sondern auch die vorgelagerte Kompetenz, Anzahl, Geschäftsbereiche und Denomination der Ministerien festzulegen (organisatorisches Kabinettsbildungsrecht, Organisationsgewalt). Freilich wird der Bundeskanzler in dieser Kompetenz dadurch eingeschränkt, dass sowohl das GG als auch die GOBReg einige Minister voraussetzen: in Art. 65a GG den Bundesminister der Verteidigung, in Art. 96 Abs. 2 S. 4 GG den Bundesminister der Justiz, in Art. 112 S. 1 und 114 Abs. 1 GG den Bundesminister der Finanzen, in der GOBReg u. a. den Bundesminister des Innern. Gemäß Art. 69 Abs. 1 GG ernennt der Bundeskanzler einen Bundesminister zu seinem Stellvertreter (Vizekanzler).

4.2 Richtlinien-, Ressort- und Kabinettskompetenz

Emanation des Kanzlerprinzips ist Art. 65 S. 1 GG, demzufolge der Bundeskanzler die Richtlinien der Politik bestimmt und hierfür gegenüber dem Parlament die Verantwortung trägt (Richtlinienkompetenz). Diese Richtlinien stellen v. a. allg.e, ausfüllungsbedürftige Grundsätze des politischen Regierungshandelns dar. In ihrem Rahmen leitet gemäß Art. 65 S. 2 GG jeder Minister seinen Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung (Ressortkompetenz). Dies verleiht ihm ein Letztentscheidungsrecht in Sach-, Organisations-, Personal- und Haushaltsfragen, dessen Ausübung lediglich durch Kanzlerrichtlinien und Kabinettsbeschlüsse gebunden werden kann. Über Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bundesministern entscheidet gemäß Art. 65 S. 3 GG die B. als Kollegium (Kabinettskompetenz). Diese Kompetenz ist ebenso wie die in Art. 65 S. 4 GG normierte Zuständigkeit zum Erlass einer vom Bundespräsidenten zu genehmigenden Geschäftsordnung der B. Ausdruck des Kollegial- bzw. Kabinettsprinzips.

4.3 Kabinettsorganisation

Beratung und Beschlussfassung im Kabinett erfolgen i. d. R. in gemeinschaftlichen Sitzungen. Für diese sind die Bestimmungen des Art. 65 GG und der GOBReg maßgeblich. Die Geschäfte leitet der Bundeskanzler. Dieser führt auch den Vorsitz im Kabinett. Ist er verhindert, so übernimmt den Vorsitz der Vizekanzler als sein Stellvertreter. An den Kabinettssitzungen dürfen außer den Mitgliedern der B. weitere Amtsträger teilnehmen. Hierzu können auf Einladung des Kanzlers oder des Kabinetts im Einzelfall auch die Vorsitzenden der Mehrheitsfraktionen im Bundestag zählen, denen indes kein Stimmrecht eingeräumt werden darf. Beschlussfähig ist die B. gemäß § 24 Abs. 1 GOBReg, wenn einschließlich des Vorsitzenden die Hälfte der Bundesminister anwesend ist. Die Beschlussfassung erfolgt nach § 24 Abs. 2 GOBReg mit Stimmenmehrheit, wobei jedes Mitglied der B. grundsätzlich über das gleiche Stimmrecht verfügt, bei Stimmengleichheit jedoch die Stimme des Vorsitzenden, im Regelfall mithin die des Bundeskanzlers, entscheidet. Besonderheiten resultieren aus der Widerspruchsbefugnis einzelner Minister gegen Kabinettsbeschlüsse. So können wegen ihrer Unvereinbarkeit mit dem geltenden Recht gemäß § 26 Abs. 2 GOBReg sowohl der Bundesminister der Justiz als auch der Bundesminister des Innern Widerspruch gegen Maßnahmen der B. erheben. In diesem Fall ist über die betreffenden Angelegenheiten erneut abzustimmen. Ihre Durchführung muss unterbleiben, wenn sie nicht in der neuen Abstimmung von der Mehrheit sämtlicher Bundesminister beschlossen werden und der Bundeskanzler mit der Mehrheit gestimmt hat. Gleiches gilt gemäß § 26 Abs. 1 GOBReg, wenn der Bundesminister der Finanzen Widerspruch gegen Beschlüsse der B. in Fragen von finanzieller Bedeutung erhebt. Sofern dessen Zustimmung zu über- und außerplanmäßigen Ausgaben gemäß Art. 112 GG in Frage steht, kann diese gemäß § 37 Abs. 1 S. 1 i. V. m. § 116 Abs. 1 S. 1 BHO nicht, auch nicht durch Kabinettsbeschluss, ersetzt werden.

5. Kompetenzen

Die Kompetenzen der B. sind grundgesetzlich nicht umfassend geregelt. Sie ergeben sich aus der Zusammenschau explizit normierter Einzelaufgaben, der Analyse der aufgabenrelevanten Stellung der B. sowie deren Einordnung in die Funktionszusammenhänge des parlamentarischen Regierungssystems (Regierungssysteme).

5.1 Explizite Kompetenzzuweisungen

Zuständigkeiten der B. bestehen zunächst bei der Rechtsetzung. So verfügt sie gemäß Art. 76 Abs. 1 GG über das Gesetzesinitiativrecht und gemäß Art. 77 Abs. 2 S. 4 GG über die Befugnis zur Einberufung des Vermittlungsausschusses beim Erlass zustimmungspflichtiger Gesetze. Zudem steht ihr die Kompetenz für die Vorlage von Gesetzen zu völkerrechtlichen Verträgen i. S. v. Art. 59 Abs. 2 GG (Völkerrecht) und für das Haushaltsgesetz gemäß Art. 110 Abs. 2 und 3 GG zu. Gesetze, welche die von der B. vorgeschlagenen Ausgaben des Haushaltsplanes (Staatshaushalt) erhöhen oder zu Einnahmeminderungen führen, bedürfen gemäß Art. 113 Abs. 1 GG ihrer Zustimmung. Hinzu kommt gemäß Art. 80 Abs. 1 S. 1 GG im Falle gesetzlicher Ermächtigung ihre Zuständigkeit zum Erlass von Rechtsverordnungen, zu der ihre Kompetenz für den Erlass von Verwaltungsvorschriften gemäß Art. 84 Abs. 2, 85 Abs. 2, 86 GG hinzutritt. Diese Rechtsetzungskompetenzen werden ergänzt durch administrative Aufsichts- und Weisungsrechte, wie sie für den Bereich der Ausführung von Bundesgesetzen und der Bundesverwaltung (Verwaltung) etwa in Art. 84 Abs. 3 bis 5 und Art. 85 Abs. 3 bis 4 GG enthalten sind. Zudem sind dem Kabinett nach der Generalklausel des § 15 GOBReg alle Angelegenheiten von allg.er innen- oder außenpolitischer, wirtschaftlicher, sozialer, finanzieller oder kultureller Bedeutung zur Beratung und Beschlussfassung zu unterbreiten. Gemäß Art. 58 GG zeichnen der Bundeskanzler oder der zuständige Bundesminister die Anordnungen und Verfügungen des Bundespräsidenten gegen.

5.2 Implizite Kompetenzzuweisungen – Regierung als politische Staatsleitung

Unter dem Aspekt ihrer aufgabenrelevanten Stellung im Verfassungsgefüge nimmt die B. die Funktionen der politischen Staatsleitung, des Regierens (Gubernative) sowie des Verwaltens (Administrative) wahr. Merkmale der politischen Staatsleitung sind die vorausschauend-planende Festlegung der Ziele und Aufgaben des Gemeinwesens, die richtungsweisende Gestaltung der staatlichen Verhältnisse, die frühzeitige Erkennung und Artikulation sich abzeichnender Problemlagen einschließlich der initiativen Ausarbeitung und Auswahl von Lösungen, die Abwehr von Krisen (Krise) sowie das Einwirken auf die europäische und internationale Politik. Auch wenn die politische Staatsleitung zentrale Aufgabe der B. ist, haben an ihr nach Maßgabe der Zuständigkeitsverteilung auch andere Verfassungsorgane, namentlich der Bundestag, Anteil. In diesem Sinne wird sie von Regierung und Parlament zur gesamten Hand wahrgenommen. Zugriffsfeste Kernbereiche im Sinne sachgebietsbezogener Vorbehaltsbereiche der B. bestehen nicht, wohl aber zugriffsfeste Rand- bzw. Annexkompetenzen, die die Wahrnehmung der vielfältigen Regierungsaufgaben erst ermöglichen und die Funktionsfähigkeit der Regierungsorgane bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben schützen. Hierzu zählt u. a. der grundsätzlich nicht ausforschbare interne Beratungs-, Initiativ- und Handlungsbereich der Regierung.

6. Kontrolle

Der Kontrolle der B. durch den Bundestag dient das parlamentarische Regierungssystem (Regierungssysteme). Ihr unterliegen Bundeskanzler und Bundesminister. Auch wenn unmittelbar nur der Kanzler dem Parlament verantwortlich ist, tragen mittelbar auch die Bundesminister parlamentarische Verantwortung. Für Gestalt und Wirksamkeit der Kontrolle durch den Bundestag ist bedeutsam, dass das parlamentarische Regierungssystem des GG ein System parteienstaatlicher Prägung ist, das der Synchronisation von Parlamentsmehrheit und Regierung dient. In der Konsequenz dieser Prägung verläuft die eigentliche Frontstellung bei der parlamentarischen Kontrolle der B. zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktion(-en) (Fraktion, Opposition). Instrumente der Kontrolle sind auf der einen Seite Rechenschaftspflichten, etwa das Zitierrecht des Bundestages gemäß Art. 43 Abs. 1 GG, das damit in Zusammenhang stehende Interpellationsrecht oder das Recht zur Einsetzung parlamentarischer Untersuchungsausschüsse gemäß Art. 44 GG. Mittel der Parlamentskontrolle sind auf der anderen Seite auch Einstandspflichten. In ihrer rechtsverbindlichen Form richten sich diese, wie das konstruktive Misstrauensvotum im Sinne von Art. 67 GG belegt, allein gegen den Bundeskanzler, nicht aber gegen die Bundesminister, weil das Parlament sein Misstrauen durch Wahl eines Nachfolgers nur dem Bundeskanzler aussprechen kann. Zudem kann nur dem Bundeskanzler im Rahmen der von Art. 68 GG geregelten Vertrauensfrage das Vertrauen des Parlaments verweigert werden, mit der Folge, dass der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers den Bundestag auflösen kann. Die Minister indes können nicht unmittelbar durch den Bundestag gestürzt werden, sondern lediglich durch Missbilligungs- und Tadelsbeschlüsse kritisiert werden. Doch auch wenn sie nicht formal zur Demission gezwungen werden können, ist ihre informelle politische Abhängigkeit von der eigenen Regierungsfraktion oder der Regierungsmehrheit erheblich. Soweit ihr ein Bundesminister nicht mehr tragbar erscheint, wird der Bundeskanzler diesen zum Rücktritt bewegen oder aber beim Bundespräsidenten dessen Entlassung veranlassen.

7. Amtsende

Das Amt des Bundeskanzlers und der Bundesminister endet gemäß Art. 69 Abs. 2 Halbs. 1 GG in jedem Fall mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestages. Hierin gelangt der zeitlich nur begrenzte Auftrag der B., ihr Mandat auf Zeit, zum Ausdruck. In die Wahlen zum Bundestag darf die B. nicht parteiisch eingreifen. Daher trifft sie in ihrer grundsätzlich statthaften Öffentlichkeitsarbeit insofern auf Restriktionen. Indessen können die Ämter des Bundeskanzlers und der Bundesminister auch aus anderen Gründen an ihr Ende gelangen. Beendigungsgründe sind etwa die Wahl eines neuen Kanzlers im Wege des konstruktiven Misstrauensvotums gemäß Art. 67 GG oder nach verlorener Vertrauensfrage gemäß Art. 68 Abs. 1 S. 2 GG. Nicht ausdrücklich positiviert, aber verfassungsgeberisch für selbstverständlich gehaltener Beendigungsgrund ist zudem der Rücktritt des Bundeskanzlers. Das Amt eines Bundesministers (Minister) endet gemäß Art. 69 Abs. 2 Halbs. 2 GG mit jeder Erledigung des Amtes des Bundeskanzlers, weshalb die Amtsdauer der Bundesminister vom Amt des Bundeskanzlers abhängig ist (Akzessorietätsprinzip). Indes kann es auch unabhängig davon zur Beendigung des Amtes eines Bundesministers kommen. Das ist der Fall, wenn ein Bundesminister aufgrund des bindenden Vorschlags des Bundeskanzlers oder aufgrund seines Rücktritts durch den Bundespräsidenten entlassen wird. Um Vakanzen in der B. im Falle der Beendigung des Amtes einer oder sämtlicher ihrer Mitglieder zu vermeiden, regelt Art. 69 Abs. 3 GG die geschäftsführende B. Hiernach ist der Bundeskanzler auf Ersuchen des Bundespräsidenten, ein Bundesminister auf Ersuchen des Bundeskanzlers oder des Bundespräsidenten verpflichtet, die Geschäfte bis zur Ernennung eines Nachfolgers weiterzuführen.

II. Politikwissenschaftlich

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1. Regierungsstruktur

Die Geschichte der BRD hat gezeigt, dass der Wunsch des Parlamentarischen Rates in Erfüllung ging: Deutschland hatte bislang stabile Regierungen. Verantwortlich dafür war neben den verfassungsrechtlichen Regelungen des parlamentarischen Regierungssystems (Regierungssysteme) vor allem ein stabiles Parteiensystem (Parteiensysteme).

Im Mittelpunkt des politikwissenschaftlichen Interesses (Politikwissenschaft) stand von Anfang an der Bundeskanzler als Kopf der B. sowie Dreh- und Angelpunkt des politischen Prozesses. Die zentralen Fragen galten dem Verhältnis von Kanzlerprinzip, Kabinetts- und Ressortprinzip, der Fähigkeit des Kanzlers, seine Kompetenzen zu nutzen und Stellung in seiner Partei (Parteien), als wichtigste Machtressource (Macht).

Relevanz gewannen diese Themen erst mit der Kanzlerschaft Ludwig Erhards. Den wichtigsten Beitrag leistete damals der Politologe Wilhelm Hennis mit seiner Schrift „Richtlinienkompetenz und Regierungstechnik“ (1964). Während der Begriff „Kanzlerdemokratie“ für Konrad Adenauers Regierungsweise in den 1950er Jahren durchaus kritisch benutzt wurde, zeigte Hennis, dass der Begriff für das politische System der BRD gerechtfertigt sei, und dass Adenauer Kompetenzen und Ausstattung seines Amtes vortrefflich handhabte. Bei Erhard wurde Adenauers Regierungstechnik nämlich schmerzlich vermisst.

Der Bundeskanzler wäre recht machtlos, wenn er nur über die Richtlinienkompetenz gegenüber den mit großen Verwaltungsapparaten ausgestatteten Ressortministern, die ja nicht seine Untergebenen sind, verfügte. Sein wichtigstes Instrument für Lenkung und Moderation der Entscheidungsprozesse der B. ist das Bundeskanzleramt mit 544 Planstellen (2016). „Im Kabinett treffen sich heute, von Ausnahmen abgesehen, viel beschäftigte Ressortchefs, die dort besiegeln, was in langen, vom Kanzleramt federführend gesteuerten Verhandlungen zwischen den einzelnen Ressorts, dem Kanzler selbst und seinem Staatssekretär ausgehandelt worden ist.“ (Hennis 1964:20) Diese 1964 getroffene Feststellung gilt im Kern bis heute.

Die Stellung des Kanzlers zeigt sich zu allererst im Verhältnis von Kanzler- und Ressortprinzip. Die Richtlinienkompetenz setzt den Rahmen, in dem die Minister eigenverantwortlich handeln. So bestimmt z. B. die Geschäftsordnung der B., dass der Bundeskanzler „Abordnungen nur in bes.n Fällen“ empfangen darf, i. d. R. jedoch der federführende Fachminister (GOBReg § 10). Verhandlungen mit dem Ausland oder im Ausland dürfen nur mit Zustimmung des Auswärtigen Amtes (Auswärtiger Dienst), auf sein Verlangen auch nur unter seiner Mitwirkung geführt werden (GOBReg § 11). Andererseits müssen die Minister den Kanzler über ihre Politik laufend unterrichten, da er für die „Einheitlichkeit der Geschäftsführung in der B.“ zu sorgen hat (GOBReg § 2).

2. Regierungsstile

Die tatsächliche Machtstellung des Bundeskanzlers hängt von sich wandelnden Rahmenbedingungen, von seinem Regierungsstil und seiner persönlichen Autorität ab. Der mächtigste Bundeskanzler in der Geschichte der BRD war Konrad Adenauer (1949–1963) in den Jahren 1949 bis 1961, der nach der Neugründung des Auswärtigen Amtes 1951 sogar bis 1955 zugl. Außenminister war. Er nutzte organisatorisch und personalpolitisch die Chance des Neuanfangs als erster Interpret seiner Kompetenzen und Konstrukteur der institutionellen Instrumente seines Amtes. Mit Staatssekretär Hans Globke hatte er einen Chef des Kanzleramts, der mit seinen Beziehungen in die Ministerien hinein die Ministerialbürokratie (Verwaltung) virtuos koordinierte und i. S. d. Kanzlers lenkte. Die noch stark obrigkeitsstaatlich geprägte politische Kultur, die bipolare Struktur der Weltpolitik sowie das konfrontative Verhalten der SPD-Opposition (Opposition) schufen ein klares Koordinatensystem, in dem Adenauer fast autoritär regieren konnte. Seine Position als Vorsitzender der CDU war unumstritten. In seinen letzten beiden Amtsjahren 1961–1963, als die Nachfolgediskussion aufflammte, er die absolute Mehrheit verloren und die FDP ihn nur widerwillig für zwei weitere Jahre akzeptiert hatte, war er geschwächt. Aus den eigenen Reihen zeigten sich Außenminister Gerhard Schröder und bis zu seinem Sturz auch Verteidigungsminister Franz Josef Strauß zunehmend selbstbewusst und widerborstig.

Ludwig Erhard (1963–1966) hatte wenig Sinn für den politischen Prozess in einer Parteiendemokratie. Den Vorsitz der CDU übernahm er erst 1966. Interessengruppen verachtete er. Volkskanzler wollte er sein, gleichsam über den Parteien und Interessengruppen stehend. Mit der Ablehnung „einsamer Beschlüsse“ distanzierte er sich vom strengen Regiment Adenauers. Seine Schwäche offenbarte sich in einer aus heutiger Sicht unbedeutenden wirtschaftlichen Rezession (Konjunktur), als der Koalitionspartner FDP und seine eigene Partei ihn fallen ließen.

Die Kanzlerschaft von Kurt-Georg Kiesinger (1966–1969) bedeutete einen Einschnitt. Die Große Koalition beider fast gleich starken Volksparteien setzte die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers gleichsam außer Kraft. Kiesinger, spöttisch als „wandelnder Vermittlungsausschuss“ etikettiert, musste sich auf das Schmieden von Kompromissen (Kompromiss) beschränken, flankiert von den beiden mächtigen Fraktionsvorsitzenden Rainer Barzel (CDU/CSU) und Helmut Schmidt (SPD). Bes. Bedeutung kam dem Koalitionsvertrag bei der Regierungsbildung zu, der mit Ausnahme einer Wahlrechtsreform präzise abgearbeitet wurde. Förmliche Koalitionsverträge wurden seit 1961 geschlossen.

Die Führungskraft von Willy Brandt (1969–1974) in der sozialliberalen Koalition von SPD und FDP war schillernd. Während das Kanzlerprinzip in der neuen Ostpolitik das Auswärtige Amt in den Hintergrund drängte, lebten andererseits das Ressort- und das Kabinettsprinzip auf. Brandt führte mit lockerer Hand. Die zahlreichen Stars unter den Ministern trugen ihre Streitigkeiten oft im Kabinett aus. Versuche von Kanzleramtsminister Horst Ehmke (SPD), das Amt als Planungszentrale der Regierung zu gestalten, scheiterten am Widerstand der Ressortminister (Minister), die an ihrer Verantwortung nicht rütteln ließen. Brandts Autorität als Kanzler – seit 1971 Friedensnobelpreisträger – wurzelte nicht zuletzt in seiner Reputation, Politik, Moral und Geist zu versöhnen. In seiner zweiten Legislaturperiode zerbröselte diese Autorität recht schnell bis zu seinem Sturz aus Anlass der Guillaume-Affäre.

Helmut Schmidt (1974–1982) übte Führung durch überragende Kompetenz, Meisterung der Administration (Verwaltung)und Fähigkeit zum Krisenmanagement aus, bis ihn seine eigene Partei in der Nachrüstungsfrage und in der Sozialpolitik im Stich ließ und daran die Koalition mit den Liberalen zerbrach. H. Schmidt war nicht Vorsitzender seiner Partei.

Helmut Kohl (1982–1998) war als Kanzler das genaue Gegenteil. Zuallererst verstand er sich als Parteivorsitzender und stützte seine Macht auf die CDU. Den Ministern machte er die Eigenverantwortlichkeit für ihre Ressorts nicht streitig und konzentrierte sich auf den Zusammenhalt der Koalition, zumal er bis 1988 im CSU-Vorsitzenden F. J. Strauß (CSU) einen bes. schwierigen Partner hatte. Nach anfänglichen Pannen funktionierte das Bundeskanzleramt seit 1984 als Scharnier zwischen den Ministerien und den Regierungsfraktionen (Fraktion) unter der Führung von Amtschef Wolfgang Schäuble hervorragend. Kohls große Stunde als Bundeskanzler kam mit der Wiedervereinigung (Deutsche Einheit): eine Renaissance der Kanzlerdemokratie, zumal die Deutschlandpolitik ohnehin im Bundeskanzleramt angesiedelt war. Der Begriff „System Kohl“ für die Kennzeichnung seines Regierungsstils hebt vor allem auf die informellen Beratungsrunden ab, aus denen die Meinungs- und Willensbildung des Bundeskanzlers herauswuchs, und die zugl. die unterschiedlichen Kräfte von B. und Koalition integrierten.

Auch Gerhard Schröder (1998–2005) verließ sich gerne auf informelle Runden. Zudem setzte er zu zahlreichen Themen Kommissionen ein, auch unter Vorsitz von Persönlichkeiten der Opposition. Er verließ sich eher auf die Zustimmung der Massenmedien (Medien) als auf die Regierungsparteien, die er mehr als jeder andere Kanzler mit Rücktrittsdrohungen und Vertrauensvoten bändigen musste. Letztlich scheiterte er wie Schmidt am Vertrauensverlust der SPD. Dabei ging es um die wichtigste Leistung Schröders, die Agenda 2010. Sie bewirkte Neustrukturierungen des Sozialstaates und des Arbeitsmarktes, die die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft verbessern sollten. Wie Kohl bei der Wiedervereinigung, demonstrierte G. Schröder auf diesem Feld, welche Gestaltungsfähigkeit ein Kanzler in der Krise entfalten kann.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (seit 2005) hat von allen Kanzlern die vielfältigste Koalitionserfahrung – mit der SPD (2005–2009 und seit 2013) und mit der FDP (2009–2013). Sie kennt die Zwänge der Großen Koalition und die Schwierigkeiten mit einem profilneurotischen liberalen Koalitionspartner. Ihr offenbar demoskopieorientierter (Demoskopie) Politik- und Regierungsstil zeichnet sich i. d. R. durch vorsichtige Schritt-für-Schritt-Entscheidungen unter behutsamem Abwägen der Folgen aus. Ressort- und Kabinettsprinzip erfuhren eine Aufwertung. Untypisch waren ihre Entscheidungen über die Abkehr von der Kernenergie nach der Katastrophe von Fukushima (2011)(Energiepolitik) sowie die Öffnung der Grenzen angesichts der Flüchtlingswelle (2015), da keine konkreten Pläne für die Bewältigung der Auswirkungen vorlagen. Merkels Regierungsstil wird häufig als präsidial charakterisiert. Obgleich sie seit 2000 der CDU vorsitzt, sieht sie sich nicht in der Weise Kohls als Parteipolitikerin.

3. Von der Kanzler- zur Koalitionsdemokratie

Das wichtigste Ergebnis der Analyse deutscher Kanzlerschaften ist die Erkenntnis, dass der Bundeskanzler sich dann am wirksamsten aus dem einschnürenden Geflecht der Konsensdemokratie befreien kann, wenn unvorhergesehene Herausforderungen rasches Handeln erfordern. Dies gilt allg., aber ganz bes. auf dem Feld der Außen- und Europapolitik (Außenpolitik), wo der Kanzler ohnehin den größten Handlungsspielraum besitzt.

Ansonsten ist das deutsche Regierungssystem (Regierungssysteme) am besten mit dem Begriff der Koalitionsdemokratie zu kennzeichnen. Soweit Politik planbar und vorauszusehen ist, werden alle wichtigen Entscheidungen schon bei der Regierungsbildung zwischen den Koalitionsparteien ausgehandelt. Auch die verfassungsrechtliche Kompetenz des Bundeskanzlers, die Minister zu bestimmen, ist ausgehöhlt. Die Koalitionsparteien entscheiden selbst über die von ihnen gestellten Minister. Der Kanzler ist hier auf seine eigene Partei (Parteien)beschränkt.

4. Neue Rahmenbedingungen des Regierens

Unbeschadet der Regierungsstile und der Entwicklung der Koalitionsarithmetik durch ein sich wandelndes Parteiensystem (Parteiensysteme) haben sich mit zunehmender Intensität grundsätzliche Rahmenbedingungen des Regierens verändert. Vor allem die Pluralisierung und Individualisierung der Gesellschaft sowie die Europäisierung der Politik gestalten das Regieren schwieriger. Die zu lösenden Probleme und die politischen Prozesse sind komplexer geworden. Mit der Pluralisierung der Gesellschaft sowie der wachsenden Zahl politischer Akteure und partikularer Ansprüche wird es immer mühsamer, Entscheidungen zu treffen, die gesellschaftliche Akzeptanz finden, eine wichtige Voraussetzung demokratischer Willensbildung (Demokratie). Akzeptanzprobleme ergeben sich insb. aus der mangelnden gesellschaftlichen Konzedierung von Verantwortlichkeit und dementsprechend nachlassender Glaubwürdigkeit der mit den politischen Ämtern betrauten Persönlichkeiten. Dazu trägt wesentlich bei, dass der Kommunikationsraum (Kommunikation), in dem sich im Diskurs öffentliche Meinung bildet, durch die Sozialen Medien (Social Media)zunehmend chaotische Züge aufweist.

Bes. schwer durchschaubar für den Bürger ist der politische Prozess im Zusammenwirken von B. und europäischen Institutionen (Institution). Die Europäisierung verlagerte einerseits nationalstaatliche Kompetenzen auf die supranationale Ebene, stärkte aber anderseits die B., an allererster Stelle den Bundeskanzler als Akteur im europäischen Entscheidungsprozess. Im Europäischen Rat treffen sich die Staats- und Regierungschefs der EU und im Rat der Europäischen Union in unterschiedlicher Zusammensetzung die Fachminister der nationalen Regierungen. In den beiden Räten fallen die Entscheidungen über die Ziele (Europäischer Rat) und die gesetzgeberischen Projekte (Rat der EU). Innerhalb der B. und zwischen den nationalen Regierungen finden auf Beamtenebene (Beamte) unzählige Abstimmungsprozesse statt. In Krisensituationen wie der Eurokrise spielen die nationalen Regierungen gegenüber den europäischen Institutionen eine herausragende Rolle. Zudem sind die Entscheidungsprozesse überaus intransparent. Die Europäisierung hat ein janusköpfiges Gesicht: hier Kanzlerdominanz, dort undurchsichtige bürokratische Prozesse (Bürokratie). Es war das BVerfG, das in mehreren Entscheidungen das Gewicht des Bundestages gegenüber der übermächtigen Stellung der B. im europäischen Institutionengefüge stärkte.