Bundesfreiwilligendienst

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1. Entstehung und Zielsetzung

Mit dem Aussetzen der Allg.en Wehrpflicht und dem damit verbundenen Wegfall des obligatorischen Zivildienstes für Kriegsdienstverweigerer wurde der B. am 1.7.2011 ins Leben gerufen. Als Einrichtung des Bundes zur Förderung freiwilligen zivilgesellschaftlichen Engagements von Frauen und Männern aller Altersgruppen im sozialen, ökologischen und kulturellen Bereich sowie im Bereich des Sports, der Integration und des Zivil- und Katastrophenschutzes (Zivilgesellschaft; Katastrophenschutz) entwickelt er die Erfahrungen aus dem bisherigen Zivildienst als Ort sozialen und persönlichen Lernens konsequent fort und versucht explizit die Lebens- und Berufskompetenzen der älteren Generation gesamtgesellschaftlich fruchtbar zu machen. Nicht nur in diesem Punkt versteht sich der B. als Ergänzung und Stärkung der etablierten Landesfreiwilligendienste, d. h. des seit 1964 bestehenden Freiwilligen Sozialen Jahres (FSJ) und des seit 1993 existierenden Freiwilligen Ökologischen Jahres (FÖJ), welche ausschließlich von jungen Menschen ab Vollendung der Vollzeitschulpflicht bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres bei anerkannten Trägern im In- bzw. Ausland einmal im Leben absolviert werden können. Der B. ist zwar nur in Deutschland leistbar, kann aber mehrfach nach jeweils fünf Jahren wiederholt werden.

2. Rechtliche Rahmenbedingungen

Das BFDG regelt die rechtlichen Rahmenbedingungen. Aufgrund der Übernahme der bestehenden Strukturen aus dem Zivildienst ist der B. stärker staatszentriert als die deutlich subsidiärer organisierten Landesfreiwilligendienste. Kritiker sehen darin die allg. beobachtbare Tendenz zur Reglementierung und Indienstnahme freiwilligen zivilgesellschaftlichen Engagements (Zivilgesellschaft) durch den Staat bestätigt. So schließen die Freiwilligen nicht mit dem Träger der Einrichtung, sondern mit dem Bund, vertreten durch das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben, der Rechtsnachfolgerin des Bundesamtes für den Zivildienst, eine schriftliche Vereinbarung auf gemeinsamen Vorschlag des/der Freiwilligen und der vom Bundesamt anerkannten Einsatzstelle. Dies begründet einen öffentlichen Dienst des Bundes sui generis. Das Engagement ist in der Regel für ein Jahr in Vollzeit zu absolvieren; die Minimaldauer beträgt sechs, die Maximaldauer 18 (in Ausnahmefällen sogar 24) Monate. Ab Vollendung des 27. Lebensjahres ist der Dienst auch in Teilzeit bei mindestens 20 Wochenstunden möglich. Die Freiwilligen sind vollumfänglich sozialversichert bei freier Unterkunft, Verpflegung und Arbeitskleidung; die gängigen arbeits(schutz)rechtlichen Bestimmungen (Arbeitsrecht) sind entsprechend anzuwenden; eine angemessene und mit anderen Freiwilligendiensten vergleichbare steuerfreie Entschädigung in Höhe von maximal 6 % der in der allg.en Rentenversicherung geltenden Beitragsbemessungsgrenze (das entspricht 363 Euro im Jahr 2015) darf gezahlt werden. Ferner besteht Anspruch auf Urlaub und – bei Freiwilligen bis zum 25. Lebensjahr – Kindergeld. Freiwillige im B. werden in den Einsatzstellen pädagogisch begleitet und nehmen darüber hinaus verpflichtend an einer vorgegebenen Anzahl an Bildungstagen (darunter ein fünftägiges Seminar zur politischen Bildung) aktiv teil. Der Freiwilligendienst wird so zu einem Ort formeller und informeller Bildung, in dem soziale, ökologische, kulturelle und interkulturelle Kompetenzen vermittelt und Verantwortungsbewusstsein für das Gemeinwohl gestärkt werden sollen. Daneben haben die Freiwilligen die Möglichkeit, zusätzliche fachliche Qualifizierungsangebote auf Zertifikatsbasis (z. B. als Übungsleiter im Sport, Rettungshelfer oder Jugendgruppenleiter) wahrzunehmen.

3. Gesellschaftspolitische Relevanz

Nach ersten Erfahrungen bildet der B. ein Medium gesellschaftlicher Inklusion, das Selbsthilfe bei Zäsuren in der eigenen Biographie ebenso aktivieren kann wie zwischenmenschliche Solidarität.

Gegenwärtig engagieren sich dort vorwiegend Menschen in Phasen beruflicher und persönlicher Um- und Neuorientierung. Während Jüngere den geschützten Raum des B.s zwischen Schulabschluss und Studium bzw. Berufseinstieg als Test-, Lern- und Erfahrungsphase nutzen, stellt er für Langzeitarbeitslose oft eine weitere Maßnahme der Qualifizierung bzw. der Tätigkeit jenseits des ersten Arbeitsmarktes dar.

Allerdings zeigen sich erhebliche Ungleichheiten hinsichtlich der Beteiligung. Zwar ist die Mitbestimmung der Freiwilligen bei der Ausgestaltung des Dienstes noch einigermaßen gewährleistet. Doch ergibt sich bei den Alterskohorten ein deutlicher Überhang jüngerer Teilnehmer unter 27, während ältere ab dem 65. Lebensjahr kaum vertreten sind, so dass intergenerationelles Lernen zu wenig stattfinden kann. Dass ältere Freiwillige nicht nur Erfahrung zur Verfügung stellen können, sondern auch selbst Lernbedarfe haben, ist weder strukturell noch inhaltlich hinreichend eingelöst. Selbst für die sehr heterogene Kohorte der 27- bis 64-Jährigen fehlen adressatenbezogene Bildungskonzepte, die gerade den Kern des B. (bspw. im Unterschied zu Minijob und Freiwilligenarbeit) ausmachen.

Die Zugangschancen zum B. differieren entsprechend der finanziellen Ressourcen der Interessierten. Ist Freiwilligendienst aber eine Frage ökonomischer Leistbarkeit, so wird dadurch soziale Ungleichheit eher reproduziert und verstärkt. Dabei böte der B. die Chance, den im Allgemeinen gesellschaftlich weniger engagierten Angehörigen sozial schwacher Milieus eine Basis für stärkere Partizipation zu eröffnen. Die Zahlung eines Taschengeldes kann zwar finanzielle Hürden mildern, birgt aber die Gefahr, dass Freiwillige in die Rolle von Erwerbstätigen auf Billiglohnniveau geraten und dieser Sektor sich unter dem Ökonomisierungsdruck, dem inzwischen auch die Wohlfahrtsverbände ausgesetzt sind, dauerhaft etabliert. Manche Einrichtungen befördern diese Tendenz zusätzlich dadurch, dass sie Interessierte mitunter gezielt nach Vorkenntnissen für bestimmte Einsatzbereiche im Alltagsgeschäft auswählen. Es wird eine wichtige Zukunftsaufgabe sein, den B. in der Balance zwischen Freiwilligenarbeit und Erwerbstätigkeit zu halten und für alle gleichermaßen zugänglich und attraktiv zu gestalten. Dann wird er auch zu einer gemeinwohlförderlichen Solidarkultur in der Gesellschaft beitragen können.

Soll er langfristig zu einer „Stärkung der Zivilgesellschaft und der Demokratie“ (BT-Drs. 17/4803, 12) führen, so wird er aus der Klammer des reaktivierbar gehaltenen Zivildienstes gelöst und analog zu den Jugendfreiwilligendiensten stärker subsidiär organisiert werden müssen, damit er sich als ureigenes Produkt der Zivilgesellschaft profilieren kann. Als solches darf er jedoch nicht auf eine soziale Dienstleistungsfunktion in der Tradition eines Pflichtdienstes zur Abfederung sozialstaatlicher Defizite reduziert werden, sondern wird sich als im Kern politisches, d. h. frei gewähltes, aktiv mitgestaltetes und reformorientiertes, bisweilen auch widerständiges Engagement gegen einseitige Indienstnahme zur Wehr setzen und menschenrechtlich begründete Solidarpflichten der Gemeinschaft, die der Sozialstaat vorhalten muss, nicht einfach ersetzen, wohl aber sinnvoll ergänzen und ggf. auch politisch einfordern. Wenn der Staat diese korrektive Funktion der Zivilgesellschaft ernst nimmt und fördert, kann der B. zur Entwicklung der erwünschten prosozialen „Kultur selbstverständlicher Freiwilligkeit“ und aktiver Mitverantwortung beitragen.