Biowissenschaften

Version vom 9. Juli 2018, 14:11 Uhr von Staatslexikon (Diskussion | Beiträge) (Biowissenschaften)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)

1. Begriffserläuterung

Unter den B. oder Lebenswissenschaften (griechisch bios: „Leben“) versteht man eine Gruppe von wissenschaftlichen Disziplinen mit ihren Forschungseinrichtungen und Studiengängen, die sich mit lebendigen Organismen, ihren Prozessen und Funktionen befassen. Dazu zählen auch biotechnische Anwendungen, in die Lebewesen oder Teile ihrer Funktionseinheiten integriert sind. Neben der Biologie und ihren Fächern wie etwa Zoologie, Botanik, Ökologie, Molekularbiologie oder Genetik werden auch nahestehende Forschungsfelder wie Medizin, Biomedizin, Neurowissenschaften, Biochemie, aber auch Bereiche der Landwirtschaft, Agrartechnologie, Ernährungswissenschaft oder Lebensmittelforschung mit zu den B. gerechnet. Einige der Fächer ragen zudem in Nachbardisziplinen aus den Geistes-, &pfv;Human-, &pfv;Wirtschafts- und Sozialwissenschaften hinein, wenn diese sich etwa mit bioökonomischen, bioethischen, biorechtlichen oder biopolitischen Fragestellungen befassen (Biopolitik).

2. Gegenstände und Forschungsfelder

Das Spektrum der Gegenstände und Themen bezieht sich nicht nur auf die rezenten Organismen selbst, sondern auch auf deren evolutionäre Entwicklung (Evolution), ihre Stellung in Lebensgemeinschaften und Ökosystemen, wie dies etwa die Biodiversitätsforschung verfolgt (Biodiversität). Entsprechend ihrer Gegenstände sind auch die Methoden der beteiligten biowissenschaftlichen Disziplinen divers. Mikroskopische und molekularbiologische Methoden finden genauso Verwendung wie biochemische oder statistische Verfahren. Bei der Erforschung der Welt des Lebendigen sind nicht nur Arbeiten im Labor relevant, sondern es werden bspw. im Bereich von Ökologie oder Agrarwissenschaften Verfahren der Feld- und Freilandforschung eingesetzt. Aufgrund der zahlreichen Überschneidungen zwischen den verschiedenen Disziplinen und den damit verbundenen synergetischen Effekten sind die Arbeitsweisen der B. hochgradig interdisziplinär ausgerichtet.

Die klassische Einteilung von Forschungsfragen in Grundlagenforschung und angewandte Forschung lässt sich für die B. nur eingeschränkt aufrechterhalten. Denn Grundlagenfragen etwa nach Mechanismen der genetischen Regulationen im Organismus und angewandte Fragen, wie in diese Regulationsmechanismen verändernd eingegriffen werden kann oder wie neue Gene in ein Genom integriert werden können, um Eigenschaften eines Lebewesens dauerhaft zu modifizieren, sind methodisch eng miteinander verschränkt. Die molekulargenetischen Erkenntnisse können genutzt werden, um biotechnisch Organismen zu entwickeln, die gegenüber dem Wildtyp neue Eigenschaften aufweisen (z. B. gentechnisch modifizierte Mikroorganismen für die Käse-, Wein- und Bierherstellung, aber auch transgene Pflanzen und Tiere in Landwirtschaft und medizinischer Forschung). Molekulargenetische Forschungsergebnisse dienen in der Medizin zur Entwicklung von gendiagnostischen oder gentherapeutischen Verfahren, um genetisch bedingte Krankheiten als solche zu erkennen, ihren Verlauf zu prognostizieren und ihre Ursachen zu behandeln (Gentechnik).

Auch in den Neurowissenschaften findet man fließende Übergänge zwischen Grundlagenfragen und Anwendungen. Die Untersuchung von kognitiven Leistungen von Personen und von den mit diesen Fähigkeiten verbundenen neuralen Korrelaten im Gehirn etwa mittels Magnetresonanztomographie oder Positronen-Emissions-Tomographie können in der Medizin Beiträge zur Demenzforschung liefern. Aufgrund der sehr komplexen Verfahren kooperieren in diesem Bereich Mediziner, Biologen, Psychologen und Physiker Disziplinen übergreifend.

Interdisziplinär bes. anspruchsvoll gestalten sich die Forschungsfelder in der Ökologie und Biodiversitätsforschung. Diese sind nur begrenzt im Labor untersuchbar und müssen mit den komplexen und mannigfaltigen Faktoren des Freilands umgehen. Hier werden nicht nur verschiedene biologische Daten, sondern auch Daten aus der Klimaforschung, der Geologie oder der Ökonomie integriert. Diese biowissenschaftlichen Forschungszweige sind bedeutend für nachhaltige Umgangsformen mit der Natur und Umwelt insb. im Rahmen von Städte- und Landschaftsplanung (Stadtplanung), Industrieentwicklung, Land- und Forstwirtschaft.

3. Theorie der Biowissenschaften

Mit der gestiegenen Bedeutung der B. innerhalb der naturwissenschaftlichen Disziplinen durch neuartige Anwendungen etwa in Biotechnik oder Biomedizin zählen die wissenschaftsphilosophischen und naturphilosophischen Aspekte der B. seit einigen Jahrzehnten in der Wissenschafts- und Naturphilosophie (Natur) zu ihren zentralen Gegenständen. Eine Philosophie oder Theorie der Biologie und der B. konnte sich auf diesem Hintergrund in den 70er Jahren des 20. Jh. als eigenständiger Forschungsbereich etablieren. War die klassische Wissenschaftstheorie vornehmlich auf die Physik und ihre Methoden konzentriert und wurde die Biologie nur als ihr Anhängsel mit prinzipiell gleichen Vorgehensweisen und Gesetzlichkeiten angesehen, erkannte man mit steigender Bedeutung der Biologie und der anderen Lebenswissenschaften auch deren eigene wissenschaftsphilosophischen Probleme.

Vornehmlich sind es die Konzepte von „Leben“ und „Organismus“, die Naturgeschichte von Arten und Lebensräumen (Evolution), aber auch ihre Nähe zur Medizin und ihren Anwendungen am Menschen, die es notwendig machten, eine eigene wissenschaftsphilosophische Herangehensweise für die B. zu entwickeln. Zunehmende wissenschaftstheoretische Zweifel daran, ob die Erklärungsmodelle der Biologie auf Erklärungsmodelle der Physik reduzierbar seien, haben die Entwicklung von Theorien der B. forciert.

Der Anwendungscharakter der B. verbindet in der philosophischen Betrachtung die theoretische Perspektive der Wissenschaftsphilosophie und der Anthropologie mit der praktischen Perspektive der Bioethik. Daher sind die praktischen Bedingungen etwa von Feldforschung und klinischer Forschung in Bezug zur Arbeit im Labor von hoher wissenschaftstheoretischer Relevanz. Das Verhältnis von technischem Anteil und natürlichem Anteil in lebenswissenschaftlicher Forschung ist bes. klärungsbedürftig. Genau dieser Punkt steht auch im Mittelpunkt der wissenschaftstheoretischen Betrachtung der neuen Forschungsfelder innerhalb der synthetischen Biologie, in denen durch Kooperationen zwischen den B. und den Ingenieurswissenschaften hybride Gebilde entstehen, die sowohl poietische Eigenschaften von Maschinen als auch autopoietische Eigenschaften von Organismen aufweisen. Die bes. Herausforderung liegt darin, die Abgrenzung zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem in den Erklärungsmodellen und den Statuszuschreibungen herauszuarbeiten.

Schließlich ist in den vergangenen Jahren durch die Digitalisierung auch eine neue Herausforderung für die Methodik und damit auch für den theoretischen Status der Lebenswissenschaften entstanden. Zunehmend werden Prozesse über Computermodelle simuliert und es werden große Datenmengen erhoben und gespeichert, für die noch keine geeigneten Erklärungsmodelle existieren. Der Umgang mit Biobanken und Biodatenbanken stellt hier ein eigenes wissenschaftstheoretisches und ethisches Problemfeld dar.

4. Ethik der Biowissenschaften

Da die B. in ihren unterschiedlichen Anwendungsprofilen eine hohe gesellschaftliche Relevanz etwa für Gesundheit und Ernährung haben, sind viele ihrer Bereiche auch mit normativen Fragestellungen verknüpft. So spielen etwa bei der ethischen Bewertung von embryonaler Stammzellenforschung oder den Gegenständen der synthetischen Biologie auch Statusargumente eine gewichtige Rolle, die ohne einen wissenschaftstheoretischen Zugang (Wissenschaftstheorie) zu Zell- und Organismusentwicklung nicht beantwortet werden können. Mit diesen praktischen Fragen steigt auch die lebensweltliche Bedeutung einer Philosophie oder Theorie der B. (Bioethik).