Berufsständische Ordnung

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„B. O.“ bezeichnet eine gesellschaftliche Reformidee, die Papst Pius XI. in seiner im Jahr 1931 veröffentlichten Sozialenzyklika „Quadragesimo anno“ (Sozialenzykliken) unterbreitet hat. In unmittelbarem Kontext mit dem in ders.n Enzyklika als gravissimum principium eingeschärften sozialphilosophischen Grundsatz der Subsidiarität – und gleichsam als Beitrag zu seiner Konkretisierung – bildet sie den sozialreformerischen Kern des päpstlichen Rundschreibens und dessen schon im Titel genannten Programms der Wiederaufrichtung der gesellschaftlichen Ordnung (de ordine sociali instaurando). Beide Reformansätze verdanken sich, wie man einer Mitteilung des Verfassers der Enzyklika entnehmen konnte, umfangreichen Vorarbeiten katholischer Sozialwissenschaftler („Königswinterer Kreis“), wobei dem Einfluss der Sozialphilosophen Gustav Gundlach und Oswald von Nell-Breuning bes.e Bedeutung zukommt.

Mit dem Konzept einer B.n O. verbindet sich näherhin ein dreifaches Ziel: Es geht zunächst um die Überwindung der Klassengesellschaft und des Interessengegensatzes zwischen Arbeit und Kapital durch das Zusammenwirken beider in Berufsständen. Es zielt zweitens auf die Wiederherstellung von gesellschaftlicher Vielfalt und die Stärkung der Kompetenzen des intermediären gesellschaftlichen Bereichs zwischen Individuum und Staat, die infolge des individualistischen Zeitgeistes, einer überbordenden Staatstätigkeit oder totalitär beanspruchten Staatsallmacht verloren gegangen schienen. Damit ging drittens die Intention einher, den Staat zugunsten seiner originären Funktionen als Rechtsgemeinschaft und seiner Gemeinwohlaufgabe (Gemeinwohl)zu entlasten.

Der im Rahmen der päpstlichen Sozialverkündigung bemerkenswert originäre und konkrete Vorstoß zur Neuordnung der Gesellschaft durch die Einrichtung von Berufsständen beruht auf einer ganz spezifischen Zeitdiagnose: Die Industriegesellschaft sei zutiefst gespalten. Der Grund der Spaltung liege darin, dass sich die Parteien des Arbeitsmarktes, diejenigen, die über das Kapital und diejenigen die nur über ihre Arbeitskraft verfügten, in einem unversöhnlichen Gegensatz gegenüberstünden und zunehmend auch die Politik in diese Auseinandersetzung hineinzögen. Auf Dauer müssten die Gesellschaften an diesem Gegensatz zerbrechen. In den modernen nationalen Gemeinschaften stünden sich ferner zunehmend nur noch die Individuen und der Staat gegenüber – die Wirkung eines anhaltenden liberal-individualistischen Denkens. Der gesellschaftliche, intermediäre Bereich sei zunehmend strukturell und funktional ausgetrocknet und seiner kulturellen Wertschöpfungspotenziale beraubt worden. Und schließlich, der Ruf nach dem Staat werde immer umfassender. Dies überfordere und schwäche einerseits den Staat selbst und fördere bei den Menschen zugl. die Neigung zu autoritären oder diktatorischen politischen Lösungen.

Inhaltlich sieht der Entwurf einer B.n O. vor, dass die Menschen, die von Berufs wegen an der Produktion bestimmter von der Gesellschaft benötigter Güter und Dienstleistungen beteiligt sind und damit ohnehin in einer natürlichen Verbindung stehen, sich zu Körperschaften zusammenschließen, so etwa im Gesundheitswesen, in der Rechtspflege, in Kunst, Bildung und Wissenschaft sowie in den wirtschaftlichen Sektoren der industriellen Güterfertigung, des Handwerks und der Landwirtschaft (Land- und Forstwirtschaft), im Finanzwesen, im Handel usw. In der Ausgestaltung der Berufsstände, was deren Zahl, deren gegenseitige Abgrenzung und deren Rechtsform betrifft, spricht sich die Enzyklika für Gestaltungsfreiheit aus, sofern nur der „Gerechtigkeit und den Erfordernissen des Gemeinwohls“ genüge getan sei („Quadragesimo anno“: Nr. 86). Sie beschränkt sich auf zwei verbindliche Vorgaben: Die Körperschaften sollten mit einem hohen Maß an Eigenständigkeit und Selbstregulierungsbefugnis ausgestattet sein und es müssten in ihnen – im Gegensatz zu den bei freien Berufen oft vorzufindenden Kammern – sowohl die leitend Tätigen wie auch die abhängig Beschäftigten, sowohl die Unternehmer und Arbeitgeber als auch die Arbeitnehmer, vertreten sein.

Die Idee der B.n O. war von Anfang an Fehldeutungen ausgesetzt. Ausgelöst wurden diese zum einen durch den Begriff „Stände“ (Stand). Um dem Missverständnis zu begegnen, die B. O. strebe eine Rückkehr zum Stände- und Zunftwesen der traditionalen Gesellschaft an, übersetzen die maßgeblichen Interpreten der Enzyklika den entscheidenden lateinischen Begriff der Originalfassung ordines nicht mehr mit dem deutschen Wort „Stände“ sondern mit „Leistungsgemeinschaften“ und sprechen demnach statt von berufsständischer von leistungsgemeinschaftlicher Ordnung. Zum anderen bemächtigte sich das politische Interesse der päpstlichen Lehre. Vertreter des österreichischen Ständestaates und des italienischen Faschismus beriefen sich auf sie, um die autoritäre, antidemokratische und antiparlamentarische Ausrichtung ihrer politischen Ordnung zu rechtfertigen. B. O. versteht sich jedoch dezidiert als Teil einer Gesellschaftsordnung, nicht einer Staatsordnung. Sie setzt die in der Moderne vollzogene Ausdifferenzierung von Staat und Gesellschaft voraus, lehnt deren Nivellierung in totalitären Systemen entschieden ab und ist als Versuch zu begreifen, den vorstaatlichen, gesellschaftlichen Bereich zu stärken und zu strukturieren.

Wirkungsgeschichtlich ist nüchtern festzustellen, dass der Idee der B.n O. – anders als dem Prinzip der Subsidiarität – kein nachhaltiger Erfolg beschieden war. Zunächst war die Zeit nicht danach, sozialen Reformgedanken nachzugehen. Die Auseinandersetzung mit etablierten und sich etablierenden Totalitarismen (Totalitarismus) des 20. Jh. und mit dem drohenden und dann wütenden Zweiten Weltkrieg stellten die Nationen vor andere, ungeahnte politisch-ethische Herausforderungen. Nach dem Krieg erholten sich die freien Gewerkschaften sehr rasch als bestimmende Kräfte in Wirtschaft und Arbeitsmarkt und erzwangen parallel die verbandliche Solidarisierung auf Seiten der Unternehmen. Die so entstandene Tarifpartnerschaft ließ für Berufsstände als Ort, an dem sich Kapital und Arbeit treffen sollten, keinen Raum. Heute stehen, auch im Blick auf die Internationalisierung der Probleme, andere Fragen an, insb. ob es national gelingt, eine Entsolidarisierung der Arbeitnehmer und Unternehmer zu vermeiden, international auf beiden Seiten Solidaritätsstrukturen zu entwickeln und sich von einer bloß tariflichen zu einer gemeinwohlorientierten Sozialpartnerschaft durchzuringen.