Behinderung

  1. I. Behinderung als soziale Kategorie
  2. II. Rechtlich
  3. III. Sozialethisch

I. Behinderung als soziale Kategorie

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Das Verständnis von B. als Ergebnis einer sozialen Zuschreibung (soziale Rolle) überwindet die Sicht von B. als einer individuellen Eigenschaft, wie sie sowohl im Alltag als auch in klinisch-therapeutischen Kontexten besteht. Auch materielle individuelle Schädigungen und hieraus folgende funktionelle Beschränkungen werden nicht als ursächlich für das Verhalten eines Menschen oder gar als sein Wesen angesehen, sondern dieses ergibt sich erst aus den Erfahrungen innerhalb der Gesellschaft, in der dieses Individuum lebt. Weltweite Anerkennung erhält diese Sicht von B. 1980 von der WHO in der ICIDH, in der B. (Handicap) als Ergebnis von sozialen Erfahrungen beschrieben ist. In der heute gültigen Klassifikation der WHO ICF wird dieser Ansatz ressourcenorientiert weiterentwickelt. Allerdings stehen diesen Systemen weiterhin bedeutende klinische Definitionssysteme entgegen, die die jeweiligen Pathologien, die sie klassifizieren, defektorientiert konstruieren.

1. Geschichte der B. als soziale Konstruktion

Vor dem Hintergrund der B. als einer sozialen Kategorie stellt sich die Frage nach den Kriterien, nach denen B. konstruiert wurde und wird. Vor der Aufklärung und in anderen Kulturräumen erfolgt die Konstruktion von B. auf der Basis der jeweiligen Religion. Nach der Aufklärung gerät das Individuum selbst mit seinen Voraussetzungen (Biologie) und Eigenschaften (Verhalten) in den Fokus. So findet sich die Auseinandersetzung um Anlage oder Umwelt als entscheidende Größe bei der Entwicklung von Menschen schon in der Auseinandersetzung von Jean Marc Gaspard Itard und Philippe Pinel (1800) um die Erziehung des „Wilden von Aveyron“. Die im 19. Jh. entstehenden Theorien und Institutionen für Behinderte repräsentieren zum einen den Aspekt der Hilfe, wobei diese in der Nächstenliebe (Caritas[[[Caritas/Diakonie|Caritas, Diakonie]]]) begründet war, aber auch schon egalitär gedacht wurde, d. h. dass Behinderten ermöglicht werden sollte, zu „Menschen der Menschheit“ (Seguin 1866) zu werden. In der zweiten Hälfte des 19. Jh. wurden mit den zunehmenden gesellschaftlichen Ansprüchen an die Individuen im Zuge der Industrialisierung (Industrialisierung, Industrielle Revolution) diese auch für die Konstruktion von B. bestimmend. Behinderte erschienen nun unter dem Aspekt des Nutzens als Last, als Ballastexistenzen. Die aus diesen Einschätzungen entstehenden Institutionen (Hilfsschulen) dienten so zum einen der gesellschaftlichen Nutzbarmachung der verbliebenen Fähigkeiten der Behinderten und zum anderen der Entlastung der Regelinstitutionen. Diese Nutzen-Logik führte zu dem Konzept der Entsorgung von Behinderten: der Euthanasie. Es wurde am Ende des 19. und Anfang des 20. Jh. in verschiedenen Positionen vertreten und von den Nationalsozialisten (Nationalsozialismus) ab 1940 offiziell, nach Protesten inoffiziell, in die Tat umgesetzt (70 000 Opfer).

2. Konstruktionsbedingungen von B.

Es dauerte bis in die Mitte der 70er Jahre des 20. Jh., dass mit der grundsätzlichen Schulpflicht für ausnahmslos alle Kinder die These von der Bildungsunfähigkeit Behinderter (RSG 1938) formell überwunden war. Der in diesem Zusammenhang erfolgte massive Ausbau des Sonderschulenwesens stand schon früh in der Kritik aufgrund der stigmatisierenden Wirkung des gesellschaftlichen Ausschlusses, den die Sonderschulen realisierten. Eine erste umfassende Kritik findet sich bei Wolfgang Jantzen, der B. als ein Sozialisationsprodukt ausgehend von der Qualifizierung von Behinderten als „Arbeitskraft minderer Güte“ (Jantzen 1974: 100) bezeichnet (Sozialisation). Als weiterer Aspekt der Konstruktion von B. wird die „Fremdheit“ als Anlass und Folge von Ausschluss benannt. Außerdem wird auf die entlarvende Wirkung von B.en für die Vision einer technologisch herstellbaren glücklichen Gesellschaft hingewiesen.

Insb. seit dem „Jahr der Behinderten“ 1981 unter dem Motto „Selbstbestimmt leben!“ findet eine zunehmend deutliche und politisch wirksame Selbstartikulation Behinderter im gesellschaftlichen Raum bis hin zu eigenen Disability Studies statt. Unterstützt von entsprechenden Elternverbänden entstand Ende der 1970er Jahre eine Bewegung für Integration und innerhalb des Schulwesens für den Gemeinsamen Unterricht. Den individualisierend selektierenden Konstruktionen von B. traten so egalitäre Konstruktionen entgegen, die versuchten B. zu bewältigen, indem sie jegliche Benennung und Diagnose ablehnten, was zu immer artifizielleren Bezeichnungen von Sonderschulen und B.en führte, ohne allerdings systematisch etwas zu ändern.

3. Heute: Das Inklusions – Exklusions– Dilemma

Die so entstandene Situation stellt sich als außerordentlich disparat dar. Zum einen verlangt die Inklusion die „Einheit in der Vielheit“ und den ausschließlich individuellen Blick auf selbstbestimmte Menschen, die grundsätzlich als gleichwertig anzuerkennen sind. Zum anderen definieren sich die Menschen in der modernen Leistungsgesellschaft heute nicht allein im Bereich der Arbeit, sondern insgesamt hoch konkurrent über ihre Leistungen: Arbeitsfähigkeit, Fitness, Gesundheit, Attraktivität usw. B. realisiert sich so paradoxerweise als Inklusion in eine sich spaltende Gesellschaft. Diese Problematik ist durch drei Aspekte bestimmt:

a) Die Inklusion setzt eine Gesellschaft mit egalitärem Menschenbild, hoch demokratischer Organisation und Zugang aller zu allen Ressourcen voraus, wobei die heutigen Gesellschaftsprozesse mit der zunehmenden Marginalisierung demokratischer Institutionen und der Konzentration von Ressourcen bei nur noch einem kleinen Bruchteil der Gesellschaft diesen Voraussetzungen völlig entgegenstehen.

b) Das mit der Inklusion gesetzte Bild des selbstbestimmten Individuums übersieht, wie viele Voraussetzungen und Fähigkeiten hierfür angenommen werden, die häufig nicht vorhanden sind; d. h. auch diese Konstruktion setzt Leistung voraus, die von dem Menschen erst einmal erbracht werden muss, womit Inklusion letztlich nicht für alle gilt.

c) Soziologisch ist Inklusion nicht ohne Exklusion denkbar. Jedes Innen hat ein Außen und jede Gruppe, die als solche erkennbar ist, unterscheidet sich durch irgendetwas von den Menschen, die nicht dazugehören.

Insb. der letzte Punkt macht klar, dass eine ausnahmslose Inklusion sich nicht an Individualeigenschaften, sondern nur an der Gattungszugehörigkeit orientieren kann: Inklusion gilt für alle Menschen. Damit stellt sich die Frage, was das Gemeinsame aller Menschen unabhängig von den Individualeigenschaften ist. Dies kann nur die spezifische, aus der Kultur heraus und in die Kultur hinein wirkende Sozialität der Menschen sein: der dauernde kooperative Austausch um die Bedeutung der Welt und die eigene Rolle in ihr. Inklusion gelingt und B. wird aufgehoben da, wo eine vollständige Teilhabe (Partizipation) an diesen Prozessen gelingt. Das ist in dieser theoretischen Totalität sicher eine Utopie; als solche aber wert, Erziehungs- und Bildungsprozessen heute als normativ wirksame Referenz abverlangt zu werden.

II. Rechtlich

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1. Behinderung als Rechtsbegriff

B. ist erst nach 1945 Rechtsbegriff geworden und hat in deutschen Gesetzen ältere Begriffe wie Beschädigung, Gebrechen oder Verkrüppelung abgelöst. Im einfachen Recht hat sich B. endgültig mit dem SchwbG von 1974 im Arbeits- und Sozialrecht durchgesetzt (heute: SGB IX). Übergreifend bedeutend wurde es mit dem Benachteiligungsverbot im GG 1994 und der CRPD.

2. Internationales Recht und EU-Recht

Die CRPD wurde 2006 von der UN-Generalversammlung beschlossen und bislang von 172 Staaten ratifiziert (Stand: Januar 2017); von der BRD 2008, von der EU 2010. Die CRPD knüpft am IpbpR und am IpwskR an und hat das Ziel, dass Menschen mit B. in den vollen Genuss aller Menschenrechte kommen. Grundsätze sind Nichtdiskriminierung, Teilhabe, Inklusion und Zugänglichkeit. Zu den Menschen mit B. gehören nach Art. 1 CRPD solche, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe hindern können. Die CRPD kann Auslegungshilfe für das GG und andere Gesetze sein, als Diskriminierungsverbot kann sie auch unmittelbar anwendbar sein (BSGE 110, 194). Über die Umsetzung wird einem UN-Ausschuss berichtet. Innerstaatlich besteht ein Monitoring beim Deutschen Institut für Menschenrechte.

Seit dem Amsterdamer Vertrag 1997 kann die EU Vorschriften gegen die Diskriminierung wegen B. erlassen (heute: Art. 19 AEUV). Die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie RL 2000/78/EG verbietet Diskriminierung im Arbeitsrecht. Die CRPD wird zur Auslegung herangezogen. Nichtdiskriminierung ist Querschnittaufgabe (Art. 10 AEUV), so dass die EU auch Barrierefreiheit z. B. im Flug- und Eisenbahnverkehr sowie der Telekommunikation verlangt.

3. Deutsches Recht

Seit 1994 gebietet Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG, niemanden wegen seiner B. zu benachteiligen. In den meisten deutschen Landesverfassungen sind Gleichstellung und Teilhabe bei B. erwähnt, oft auch als Staatsziel (Staatszielbestimmungen). Insb. im Sinne von Art. 5 CRPD ausgelegt, verlangt Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG auch angemessene Vorkehrungen, d. h. Nichtdiskriminierung durch Tun, z. B. gegen Barrieren im Einzelfall (BverfGE 96, 288; BSGE 110, 194).

Für Staat und öffentliche Körperschaften gelten die Behindertengleichstellungsgesetze von Bund und Ländern. Sie verlangen insb. Barrierefreiheit und Zugänglichkeit von Um- und Neubauten der öffentlichen Hand, von deren Internetseiten, Formularen und Vordrucken sowie Gebärdensprachdolmetscher und Kommunikationshilfen im Verfahren, auch vor Gericht. § 4 BGG definiert Barrierefreiheit. Darauf nehmen auch Bau- und Infrastrukturrecht Bezug. Die Behindertengleichstellungsgesetze sind Rechtsgrundlage der Behindertenbeauftragten von Bund und Ländern.

Unter Privaten verbietet das AGG Diskriminierung wegen B., insb. bei Massengeschäften (§ 19 AGG). Für das Mietrecht gilt § 554a BGB, für AGB § 305 Abs. 2 Nr. 2 BGB.

Wer wegen B. seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen kann, wird durch gesetzliche Betreuung unterstützt (§ 1896 BGB), die vom Betreuungsgericht angeordnet wird. Die Betreuung muss die Selbstbestimmung von Menschen mit B. unterstützen (§ 1901 Abs. 3 BGB; Art. 12 CRPD).

B. besteht nach § 2 Abs. 1 SGB IX, wenn die körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit länger als sechs Monate vom für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und dadurch die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Leistungen zur Teilhabe zum Ausgleich und zur Minderung von B. erbringen Krankenkassen, Rentenversicherung, Unfallversicherung, BA, Versorgungsamt, Kinder- und Jugendhilfe und Sozialhilfeträger. Das SGB IX enthält gemeinsame Regeln für diese Rehabilitationsträger. Wichtig bei B. kann auch die Pflegeversicherung sein. Führt B. zur Erwerbsminderung, leistet die Rentenversicherung Erwerbsminderungsrente, die Sozialhilfe Grundsicherung. Nach § 2 Abs. 2 SGB IX ist eine Anerkennung als schwerbehindert mit einem GdB durch das Versorgungsamt möglich. Das Integrationsamt leistet dann begleitende Hilfen im Arbeitsleben, dazu können Steuerfreibeträge und andere Leistungen kommen.

Für Schwerbehinderte gibt es Förder- und Schutzrechte auf Gestaltung von Arbeitsplatz und Arbeitsbedingungen (§ 81 SGB IX), bes.n Kündigungsschutz (§ 85 SGB IX) und eine Schwerbehindertenvertretung (§ 95 SGB IX). Die Betriebe sind zur Beschäftigung von 5 % schwerbehinderten Menschen verpflichtet (§ 71 SGB IX), ansonsten zahlen sie eine Ausgleichsabgabe, aus der das Integrationsamt begleitende Hilfen finanziert. Für behinderte Menschen ohne GdB gilt im Arbeitsrecht das AGG (BAGE 147, 60).

Die Schulgesetze regeln die inklusive Teilnahme von Kindern mit Förderbedarf an allg.en Schulen und die bes.n Schulen (Förderschulen, Sonderschulen). Umstritten ist, ob aus Art. 24 CRPD ein unbedingtes Recht auf inklusive Schulteilnahme folgt. Sozialhilfe und Jugendhilfe unterstützen die inklusive Beschulung, die BA die berufliche Ausbildung.

III. Sozialethisch

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B. als genuin sozialethischer Begriff beschreibt nicht nur einen Sachverhalt (funktionale Schädigung, barrierereiches Leben, Gefahr sozialer Ausgrenzung/Exklusion usw.), sondern deutet ihn normativ und impliziert individuelle wie gesellschaftliche Handlungsoptionen, die auf die Lebenslage der von B. betroffenen Menschen erhebliche Auswirkungen haben.

1. Deutungsmuster

Das selbst im jüdisch-christlichen Kulturkreis wirkmächtigste Deutungsmuster von B. ist die Dämonisierung: Körperliche, geistige oder psychische Gebrechen sind Ausdruck einer Besessenheit „von fremden Mächten und Gewalten“, die als Strafe Gottes für begangenes Unrecht gewertet wurde. Damit wurde dann die soziale Ausgrenzung der betroffenen Menschen aus der alltäglichen Gemeinschaft gerechtfertigt. Obwohl die neutestamentlichen Heilungserzählungen diese Sichtweise durchbrechen und die soziale Exklusion von kranken und behinderten Menschen im Zeichen der heilsamen Nähe Gottes überwinden, hat erst die moderne Medizin diese Dämonisierung „entzaubern“ (Max Weber) können durch die nüchterne Deutung als „irreversible und dauerhafte Beeinträchtigung der Leistungen eines Menschen als Folge der somatischen Verursachung“ (Mattner/Gerspach 1997: 25). Die Medizinierung von B. ist ambivalent: Einerseits hat sie mit ihren diagnostischen und therapeutischen Verfahren die Lebensführungskompetenzen und die Lebenslage behinderter Menschen enorm verbessert. Andererseits begünstigt sie eine Konzentration allein auf die medizinisch indizierbaren Schädigungen und funktionalen Ausfälle. Körperliche Ausstattungs- oder seelisch-geistige Verhaltensbesonderheiten werden auf gestörte Funktionsabläufe des Organischen reduziert und als negative Abweichung von einer biologischen Norm interpretiert. B. wird infolgedessen zur Minus-Variante eines „normalen“, vollfunktionsfähigen Lebens mit eingeschränkter Lebensqualität.

Diese fundamentale Abwertung steigt gegenwärtig durch eine zunehmende Genetisierung (Gentechnik) von B. (ein erblich bedingtes Risiko einer Schädigung gilt bereits als pathologischer Tatbestand) sowie die Pathologisierung jedweder Auffälligkeit (jede nichtstörungsfrei verlaufende Lebensführung gilt als krankhafte und damit therapiebedürftige Anomalie). Die gesellschaftliche Akzeptanz einer prädiktiven Medizin, die durch präimplantations- bzw. pränataldiagnostische Verfahren (Pränataldiagnostik) die Geburt „risikobehafteter“ Kinder zu verhindern sucht, dokumentiert eine subtile, gleichwohl „effiziente“ Behindertenfeindlichkeit. Dagegen kann sich eine achtsam-differenzierende Wahrnehmung von Menschen mit B., die die Gleichwertigkeit unterschiedlicher Potentiale betont und die Rehabilitation versehrter Menschen fordert und fördert, nur schwer durchsetzen.

2. Gesellschaftliche Handlungsoptionen

Während Menschen mit B.en in der Zeit ihrer Dämonisierung wenn nicht aktiv verfolgt, so doch weitgehend sich selbst überlassen blieben, wechseln sich seit dem Ende des 19. Jh. verschiedene Optionen bzw. Leitparadigmen der (aufkommenden) beruflichen bzw. professionellen Behindertenhilfe ab.

Den Beginn machten die großen Einrichtungen überwiegend kirchlicher Träger, die den Betroffenen (in einer klassisch-caritativen Form) wenigstens ein sicheres Obdach und eine basale Versorgung sicherstellen wollten. Gegen diese Asylierung, die behinderte Menschen oftmals weitab vom dörflichen und städtischen Leben separierte, richtet(e) sich das Paradigma der Normalisierung, das seit den 1960er Jahren als sozialpolitisches Programm die gewöhnliche Rhythmisierung und Strukturierung des alltäglichen Lebens behinderter Menschen inmitten der „Normalbevölkerung“ vorantrieb. Allerdings birgt jede Normalisierung die Gefahr einer heimlichen Defizitorientierung: Um das alltägliche Leben in der vorfindlich normalen Form erfolgreich bewältigen zu können, müssen die funktionalen Leistungsdefizite kompensiert werden, die den Menschen mit Beeinträchtigungen von einer „normalen“ Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ausschließen. „Normalität“ erweist sich als doppelsinnig: Sie steht nicht nur für das durchschnittlich Erwartbare an Lebensführungskompetenzen eines Menschen; sie gilt auch als Sollmaß gelingenden Lebens. Bes. deutlich wird diese heimliche Defizitorientierung beim (überwiegend pädagogisch relevanten) Paradigma der Integration. Es steht für die konsequente Einbeziehung von Menschen mit B.en in die Gesellschaft, stellt den Einbezug aber unter einen grundsätzlichen Integrationsvorbehalt: So müssen „Integrationskinder“ dem normalen Unterricht einer Regelklasse im Prinzip folgen können.

Hingegen wendet sich das Paradigma der Inklusion gegen das Abwertende und Ausgrenzende (Exkludierende), das die Leitbilder der Asylierung, der Normalisierung oder der Integration mehr oder minder faktisch befördern. Inklusion orientiert sich konsequent an der Bürger- und Menschenrechtsperspektive (Menschenrechte): vorbehaltlose Einbeziehung aller und folglich auch aller Menschen mit Beeinträchtigungen in die Gesellschaft auf der Basis realer Beteiligungsmöglichkeiten in allen menschenrechtlich relevanten Lebensbereichen. Dazu sind alle Barrieren abzubauen, die den Zugang erschweren oder sogar verunmöglichen. Inklusion fordert deshalb Veränderungen v. a. auf Seiten der „normalen“ Mehrheitsgesellschaft. Ihr perspektivisches Ziel ist die Enthinderung einer Gesellschaft, die durch umwelt- und einstellungsbedingte Barrieren die B. versehrter Menschen immer wieder neu entstehen lässt. Für den Abbau der einstellungsbedingten Barrieren sind deshalb reguläre Orte gemeinsamen (schulischen wie vor- und außerschulischen) Lernens bes. bedeutsam.

3. Ethische Bedeutung der CRPD

Leitbild wie konkrete Umsetzungsstrategien der Inklusion sind umstritten. Sie selbst wie das ihr zugrunde liegende soziale Modell von B. verdanken ihre fachpolitische wie öffentliche Prominenz der CRPD. Deren sozialethische Implikationen sind von erheblicher Tragweite: Die CRPD ist keine Inklusions-, sondern eine Menschenrechtskonvention, die mit Partizipation, Unterschiedlichkeit/Diversity (Diversität) und (assistenzbezogener) Differenzierung weitere Leitoptionen des gesellschaftlichen Umgangs mit B. zur Geltung bringt. Sie dienen der „Achtung der dem Menschen innewohnenden Würde, seiner individuellen Autonomie, einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen“ (Art. 3 CRPD). Die sich aus ihrer Würde ergebenden menschenrechtlichen Ansprüche können für Menschen mit B.en nur durch volle und wirksame Partizipation und Inklusion sowie durch die Achtung ihrer Unterschiedlichkeit (einschließlich der sich daraus ergebenden Unterstützungsbedarfe (Art. 5) und durch ihre Akzeptanz als Teil der menschlichen Vielfalt realisiert werden (Art. 3). Dieses umfassende Verständnis von Partizipation und Inklusion realisiert die CRPD bereits selbst: Erstmals wirk(t)en Betroffene (über ihre Verbände) an ihrer Entstehung und ihren nationalen Implementierungsprozessen mit. Damit fördert die CRPD unmittelbar das, was sie von Staaten und Gesellschaften insgesamt fordert: die Stärkung des Zugehörigkeitsgefühls („enhanced sense of belonging“) von Menschen mit B.en inmitten ihres alltäglichen Lebens als „außergewöhnlich normaler“ Teil der Gesellschaft.

Mit der CRPD ändert sich das normative Profil professioneller Behindertenhilfe. Nach wie vor ist ihre fachliche Expertise unverzichtbar. Allerdings überwindet sie die Grenze individueller Betreuung und Fürsorge und profiliert sich als doppelt umfassende Menschenrechtsassistenz: Über die Respektierung („respect“) und den Schutz („protect“) menschenrechtlicher Ansprüche unterstützt sie mit ihren professionellen Angeboten Menschen mit Beeinträchtigungen bei deren Verwirklichung („fulfil“). Und sie unterstützt sowohl die Verwirklichung von Wirtschafts-, Sozial- und Kulturrechten als auch die Wahrnehmung individueller Freiheits- wie politischer Partizipationsrechte – Bereiche, die lange Zeit aus dem fachlichen wie öffentlichen Bewusstsein ausgeblendet waren.

Professionelle Menschenrechtsassistenz ist durch staatliche Regelungen zu gewährleisten. Zudem steht die (Zivil-)Gesellschaft insgesamt in der Pflicht: community care und community living signalisieren das neue nachbarschaftliche Profil eines „selbstverständlichen Miteinander-Lebens von unterschiedlichsten Menschen in einem ‚friedensfähigen Gemeinwesen‘“ (Stein 2007: 19). Ziel ist eine enabling community, die alle Betroffenen und v. a. Menschen mit B.en unmittelbar beteiligt – im Sinne der Bürgerrechtsbewegung (Bürgerrechtsbewegungen) People first: „Nichts über uns ohne uns!“