Arbeitslosigkeit

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  1. I. Wirtschaftswissenschaftlich
  2. II. Soziologisch
  3. III. Sozialethisch

I. Wirtschaftswissenschaftlich

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A. entsteht prinzipiell aus Störungen im Wirtschaftsablauf und beruht auf einem Mangel an Arbeitsmöglichkeiten im Verhältnis zu Menge und Art der verfügbaren Arbeitskräfte bzw. der verfügbaren Arbeitsleistung. Der Arbeitsmarkt ist komplex und in der Realität existiert der Arbeitsmarkt genauso wenig wie es die A. gibt. Vielmehr lassen sich am Arbeitsmarkt verschiedene Formen von A. erkennen. Die Ursachen sind vielfältig, gehen oft ineinander über und liegen gleichzeitig vor. Trotz der Schwierigkeiten ihrer Abgrenzung ist eine systematische Unterscheidung der verschiedenen Arten der A. für ihre Bekämpfung wichtig. Empirisch gesehen liegen auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene meist mehrere Arten von A. vor und auch der Charakter der individuellen Beschäftigungslosigkeit ändert sich im Zeitablauf.

Arbeitsmarktungleichgewichte sind zum einen auf gesamtwirtschaftliche, makroökonomische Zusammenhänge zurückzuführen: Die Nachfrage nach Arbeit ist eine abgeleitete Nachfrage, abgeleitet aus der Nachfrage nach den Gütern und Dienstleistungen, die ein Unternehmen absetzen will und für deren Produktion es bestimmte Arbeitskräfte braucht. Ist es auf den Absatzmärkten nicht erfolgreich, so wird es auch keine Arbeitskräfte nachfragen bzw. Entlassungen vornehmen. Hierbei werden (sortiert nach den Fristigkeiten) drei Formen der A. unterschieden: die saisonale, konjunkturelle und niveaubedingte A. Zum anderen kann A. auch mikroökonomischer Natur sein, d. h. aus einem nicht funktionierenden Zusammenwirken beider Marktseiten, also von Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage, resultieren. Hierfür können zwei Haupterklärungen angeführt werden: Es liegen Informationsdefizite und damit eine friktionelle A. vor; es gibt regionale Disparitäten oder angebotene wie nachgefragte Qualifikationen stimmen nicht überein, d. h. es liegt strukturelle A. vor. Im Folgenden werden die verschiedenen Formen der A. näher beleuchtet.

1. Saisonale Arbeitslosigkeit

Die saisonale A. entsteht durch die unterschiedliche Auslastung einiger Sektoren der Volkswirtschaft und nimmt üblicherweise die gleichen regelmäßigen Jahresverläufe an. Damit ist die Höhe dieser Form von A. und ihrer Schwankungen weitgehend unabhängig von der gesamtwirtschaftlichen Situation auf dem Arbeitsmarkt. Die Möglichkeiten der Arbeitsmarktpolitik zur Verringerung dieser Form der A. sind daher von vornherein begrenzt. Durch Maßnahmen wie z. B. das Saison-Kurzarbeitergeld und die Subventionierung des Winterbaus können saisonale Schwankungen abgefedert werden.

2. Konjunkturelle Arbeitslosigkeit

Die konjunkturelle A. liegt vor, wenn eine unzureichende güterwirtschaftliche Gesamtnachfrage besteht. Damit ist sie eng mit der konjunkturellen Entwicklung der Wirtschaft verknüpft und weist einen antizyklischen Verlauf auf: sie steigt im Abschwung an und wird im Aufschwung wieder abgebaut. Da die Ursachen der konjunkturellen A. auf dem Gütermarkt liegen, sind die Möglichkeiten für Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik begrenzt. Als wirkungsvolles Instrument hat sich aber die Kurzarbeit erwiesen, eine Art zeitlich befristete und staatlich subventionierte Arbeitszeitverkürzung. Arbeitnehmer müssen durch Kurzarbeit nicht entlassen werden, da der (kurzzeitige) Nachfragerückgang durch die Reduzierung der Arbeitszeit ausgeglichen und die daraus folgende Lohneinbuße teilweise ausgeglichen wird. Die konjunkturelle A. kann aber mit nachfrageorientierten Beschäftigungspolitiken auf den Güter- und Geldmärkten (Geld- und Kapitalmarkt) bekämpft werden: Der Staat kann seine Ausgaben erhöhen oder die Steuern senken um die Konjunktur anzuregen. Die Notenbank kann zur Ankurbelung der Konjunktur die Geldmenge ausweiten bzw. die Zinsen (Zins) senken. Die Effektivität dieser Maßnahmen ist allerdings umstritten.

3. Niveaubedingte Arbeitslosigkeit

Niveaubedingte A. liegt vor, wenn das Angebot an Arbeit dessen Nachfrage dauerhaft übersteigt. Dies kann zum einen ein Ergebnis des technologischen Wandels sein, aber auch auf das rationale Verhalten der Marktakteure zurückgeführt werden, die auf die bestehenden institutionellen Rahmenbedingungen des Arbeitsmarktes reagieren. Die institutionelle Erklärung ist hierbei mikroökonomischer Natur, denn es interessiert, wie sich die Individuen am Arbeitsmarkt unter dem Einfluss spezifischer arbeitsmarktpolitischer Regelungen verhalten.

Die Einführung neuer Produktionstechnologien führt zu steigender Produktivität je einzelnen Arbeitnehmer bzw. je Arbeitsstunde und damit auch zu steigendem Produktionsausstoß jedes einzelnen Arbeitnehmers. Steigt die Güternachfrage nicht ebenfalls entspr. an, so führt dies zu einer technologisch ausgelösten A. Bei einer derartigen Situation müsste im Bereich der Arbeitsmarktpolitik insb. über Maßnahmen der Arbeitszeitpolitik nachgedacht werden.

Verhaltensweisen der Arbeitsmarktakteure können ebenfalls zu A. führen, denn die unterstellten individuell rationalen Verhaltensweisen, also Kosten-Nutzen-Überlegungen, sind nicht nur vom Lohn abhängig, sondern auch der Arbeitsmarktorganisation und einer Fülle formeller sowie informeller Größen geschuldet. Organisationen sind z. B. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, formale Institutionen sind Gesetze (Gesetz), Tarifverträge, aber auch die BA. Informelle Institutionen sind kulturelle und traditionelle Einflüsse, die das Verhalten der Individuen beeinflussen. Exemplarisch sollen an dieser Stelle einige Einflussfaktoren beschrieben werden. Bspw. stehen Gewerkschaften annahmegemäß einer großen Zahl kleinerer Unternehmen, die der Tarifbindung unterliegen, ohne Markteinfluss gegenüber, sie können daher die Höhe des Lohnsatzes kontrollieren. Unternehmen können keine Arbeitnehmer unterhalb des Gewerkschaftslohns beschäftigen, sie können nur durch Festlegung der Beschäftigungsmenge auf die gewerkschaftliche Lohnsetzung reagieren. A. resultiert in diesem Modell also aus einem höheren Lohnsatz bedingt durch die Marktmacht der Gewerkschaften. Dass die gewerkschaftliche Verhandlungsmacht zu höheren Löhnen führt und damit ein Entstehungsgrund für A. ist, zeigt sich auch am Insider-Outsider-Modell: Insider (Erwerbstätige) sind grundsätzlich in einer stärkeren Verhandlungsposition als Outsider (Arbeitsplatzsucher), da sie nicht nur über unternehmensspezifisches Wissen und Fähigkeiten verfügen, sondern bei ihrer Entlassung für das Unternehmen Fluktuationskosten anfallen. Eine Kündigung und Einarbeitung von Outsidern lohnt in diesem Falle finanziell nicht, weshalb die Insider eine höhere Verhandlungsmacht bei den Lohnverhandlungen haben, womit der Lohn über den Marktlohn bei vollkommener Konkurrenz steigt und A. entsteht. Die Outsider können ihre Situation auch nicht durch ein weiteres Absenken ihrer Lohnforderungen verbessern, da die Insider durch strategisches Handeln gegenüber den Unternehmen und Arbeitslosen die Kosten für die Anstellung von Outsidern erhöhen können.

Weiterhin können institutionelle Regelungen Marktakteure zu einem Verhalten motivieren, das zu A. führt. Die prominentesten Beispiele hierfür sind der Kündigungsschutz, die Arbeitslosenversicherung sowie der gesetzliche Mindestlohn. Der Kündigungsschutz erschwert oder verzögert die Entlassung von Arbeitnehmern oder verteuert sie durch Abfindungen, womit die Entlassungskosten für die Unternehmen ansteigen. Dies hat einen negativen Einfluss auf Neueinstellungen, da künftige Entlassungen als Kostenfaktor mit eingerechnet werden. Die Unternehmen werden versuchen, diese Kosten im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten durch alternative Beschäftigungsformen zu vermeiden. Daher kann der Kündigungsschutz durch andere arbeitsmarktregulierende Instrumente wie Befristung und Leiharbeit teilweise umgangen werden.

Auch Lohnersatzleistungen haben aus theoretischer Sicht einen Einfluss auf die A. Das Arbeitslosengeld ist ein Ausgleich für das aufgrund der A. ausgefallene Einkommen, meist infolge einer Kündigung. Hierbei sind Bezug und Höhe vom vorherigen Einkommen abhängig. Durch den Erhalt der Lohnersatzleistung erfahren Arbeitslose eine finanzielle Absicherung. Somit haben sie Zeit, sich entspr. ihrer Qualifikation passende Arbeitsplätze zu suchen, was angesichts der bereits getätigten Bildungsinvestitionen individuell und gesamtwirtschaftlich sinnvoll ist. Dies führt zu einer längeren Suchdauer nach qualifikationsadäquaten Arbeitsplätzen, womit sich die durchschnittliche Dauer der A. verlängert. Einfluss auf die Dauer der A. haben die gewährte Höhe und die Bezugsdauer der Lohnersatzleistung sowie die Festlegung von Zumutbarkeitsregeln für die Arbeitsaufnahme. Eine Erhöhung der prozentualen Lohnersatzleistung würde das Arbeitslosengeld erhöhen, womit für einen Arbeitslosen eine Beschäftigungsaufnahme unattraktiver wird – der Reservationslohn, d. h. der Lohnsatz, ab dem ein Arbeitsloser bereit ist zu arbeiten, steigt. Ein Abbau von A. kann demnach theoretisch über eine Senkung der Lohnersatzleistung gelingen. Vergleichbar wirkt die Bezugsdauer der Lohnersatzleistung, denn wird diese reduziert, so erhalten Arbeitslose ihre Lohnersatzleistung über einen kürzeren Zeitraum und müssen schneller eine neue Beschäftigung finden. Schließlich drohen Arbeitslosen durch die Verschärfung der Zumutbarkeitsregeln strengere Sanktionen in Bezug auf ihre Lohnersatzleistung. Schlagen sie Beschäftigungsangebote aus, kann ihnen das Arbeitslosengeld gekürzt oder gesperrt werden. Dies impliziert eine Senkung der Löhne, die Beschäftigung steigt und die A. sinkt.

Theoretisch kann ein (gesetzlicher) Mindestlohn wie folgt zu A. führen: Liegt der Mindestlohn auf wettbewerblichen Arbeitsmärkten über dem Lohnsatz bei dem Nachfrage und Angebot im Gleichgewicht sind, kommt es zu einem Angebotsüberschuss auf dem Arbeitsmarkt, d. h. zu A. Hierbei sind aber nur die Arbeitnehmer von A. betroffen, deren Produktivität einem Lohnsatz entspr., der unterhalb des Mindestlohnes liegt. Diese Gruppe weist entspr. der Humankapitaltheorie (Humankapital) geringere Qualifikationen auf, daher sind im Ergebnis bes. die „schwachen“ Arbeitnehmergruppen wie Ungelernte, Jüngere und Ältere von A. betroffen. Arbeitnehmer mit einem hohen Lohnsatz aufgrund hoher Qualifikationen betrifft die Einführung eines Mindestlohns hingegen nicht, für sie bleibt er wirkungslos.

4. Friktionelle Arbeitslosigkeit

Friktionelle A. umfasst jenen Zeitraum, der zwischen der Aufgabe der alten und dem Beginn einer neuen Tätigkeit liegt. Sie wird daher auch als Fluktuations- oder Such-A. bezeichnet und ist eine temporär unvermeidliche Form der A., da sie auf Anpassungsvorgänge am Arbeitsmarkt zurückzuführen ist und somit auch in Vollbeschäftigungsphasen auftritt. Die Dauer von friktioneller A. wird durch das Verhalten der Arbeitnehmer (Suchintensität, Bereitschaft ein Stellenangebot anzunehmen) und der Arbeitgeber bestimmt (z. B. wenn es durch Veränderungen auf den Gütermärkten zu Verzögerungen bei der Stellenbesetzung kommt). Die Dauer und damit das tatsächliche Ausmaß der friktionellen A. hängen – unter der Voraussetzung, dass es eine entspr.e Anzahl qualifikationsadäquater freier Stellen gibt – auch stark von der Effektivität der Arbeitsvermittlung der Arbeitsagenturen ab. Je effizienter die Arbeitsvermittlung (Arbeitsverwaltung), desto schneller finden Angebot und Nachfrage zueinander und die friktionelle A. wird reduziert.

5. Strukturelle Arbeitslosigkeit

Wichtiger ist aber die strukturelle A., wobei es sich um einen Sammelbegriff für unterschiedliche Typen von A. handelt: Sie kann infolge regionaler Ungleichgewichte entstehen, d. h. Angebot und Nachfrage entsprechen sich räumlich nicht (mehr). Dahinter steht z. B. der Niedergang industrieller Monokulturen wie etwa der Stahl- und Kohleindustrie im Ruhrgebiet, der Schiffsbau- und Werftindustrie an den Küsten von Nord- und Ostsee oder auch der Porzellanindustrie in Nordbayern. Der Strukturwandel löst ökonomische Krisen (Krise) aus, den entlassenen Arbeitnehmern stehen keine alternativen Arbeitsplätze zur Verfügung. Hinzu kommen zwei weitere Probleme: Zum einen ist das Humankapital der Arbeitslosen stark auf die ehemaligen regionalen Arbeitgeber fokussiert und in anderen Regionen kaum entspr. einsetzbar. Zum anderen bestehen hohe Preisdifferenzen insb. bei Immobilien zwischen prosperierenden und nichtprosperierenden Gegenden, die die Mobilität der Erwerbslosen beeinträchtigen. Zusätzlich kann der sektorale Strukturwandel, also die Verschiebungen zwischen den drei großen Sektoren Landwirtschaft (Land- und Forstwirtschaft), produzierendes Gewerbe und Dienstleistungen sowie kleinteiliger zwischen Branchen zu struktureller A. führen. Auch damit ist eine Veränderung der qualifikatorischen Anforderungen an die Arbeitskräfte verbunden. Dies wäre kein Problem, wenn die notwendigen Qualifikationen von den jeweilig folgenden Generationen gestellt werden könnten. Der technische Fortschritt läuft jedoch schneller ab als die Generationenabfolge, so dass jeweils innerhalb der Generationen neue Qualifikationen erworben werden müssen. Daraus ergeben sich dann die Fragen nach Fähigkeit und Bereitschaft der Individuen und der Betriebe (Betrieb) hierzu, sowie nach den entspr.en Instrumenten und staatlichen Unterstützungsleistungen.

II. Soziologisch

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Der Begriff und die Realität der A. sind untrennbar mit der Ausbreitung der Lohnarbeit in kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsverhältnissen (Kapitalismus) verbunden. Das gilt ebenso für die Entwicklung eigenständiger Institutionen zum politischen und gesellschaftlichen Umgang mit der A. und für die bes.n sozialen Erfahrungen der Individuen und Haushalte, die mit A. konfrontiert sind. Deshalb ist der Arbeitslose zu unterscheiden vom Armen (Armut) der vorangehenden Gesellschaftsformationen. Diese historische Verankerung bedeutet, dass A. nicht als naturgegeben hingenommen werden darf und sich in ihren Formen und Auswirkungen verändert.

1. Schuld oder Risiko: Die Institutionalisierung der Arbeitslosigkeit in Deutschland

Die historische Qualität der A. soll am Beispiel Deutschlands verdeutlicht werden. Die Begriffe „Arbeitsloser“ und „A.“ kamen im Gefolge der Krise von 1892 in Umlauf und wurden Gegenstand öffentlicher Debatten. Sie markierten die Wahrnehmung einer neuen „sozialen Frage“, die sich sowohl in ihren Ursachen als auch in den Anforderungen an die gesellschaftlichen und politischen Akteure von der „sozialen Frage“ der ersten Hälfte des 19. Jh. unterschied. Letztere war noch immer von der Auflösung der Feudalbeziehungen (Feudalismus) und dem Verlust der Subsistenzmittel großer Teile der ländlichen Bevölkerung geprägt. Der sozial entwurzelte Arme, nicht der arbeitslose Arbeiter repräsentierte sie. Erst um die Jahrhundertwende wurde in der politischen Öffentlichkeit realisiert, dass Industrialisierung (Industrialisierung, Industrielle Revolution) und städtische Arbeitsmärkte nicht bereits die Lösung der „sozialen Frage“ darstellten, sondern ihrerseits mit der A. eine soziale Problematik eigener Art hervorbrachten, die nunmehr mit der „Arbeiterfrage“ verknüpft war. Die Auseinandersetzungen zwischen den Vertretern der Arbeiterbewegung, des liberalen bürgerlichen und des konservativen Lagers betrafen die bis heute zentralen Regelungsbedarfe im Umgang mit der A.: die statistische Erfassung und den rechtlichen Status der Arbeitslosen, die Arbeitsvermittlung, die finanzielle Unterstützung und die Arbeitsbeschaffung.

Im Kern ging es darum, ob A. als gesellschaftliches, durch Lohnabhängigkeit (Lohn) und Arbeitsmärkte (Arbeitsmarkt) erzeugtes Risiko gesehen wird und dementsprechend abgesichert werden muss, oder nach wie vor im kategorialen Rahmen der Armenfürsorge von Bedürftigkeit und individueller Schuldzuweisung zu behandeln sei. Damit wurde zur entscheidenden Frage, wer als arbeitslos gelten konnte. Die Abgrenzungskriterien – unfreiwillige A., Arbeitsfähigkeit und Arbeitssuche – waren ihrerseits nicht eindeutig und blieben moralischen Urteilen und politischen Auseinandersetzungen unterworfen. Umstritten blieb auch, wer für die finanzielle Unterstützung der Arbeitslosen und die Arbeitsnachweise zuständig sein sollte und ob dabei das Berufs- oder Territorialprinzip in Anschlag zu bringen sei.

Erst die Weimarer Republik schuf einen politischen Raum, innerhalb dessen eine Arbeitslosenversicherung auf nationalstaatlicher Ebene durchgesetzt werden konnte. Die Auseinandersetzungen über Fürsorge oder Versicherung waren damit aber nicht beendet. Der Rückzug der Reichsregierung von der Defizitfinanzierung in der Wirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre bedeute faktisch den Ruin der Versicherung und eine „Rückwendung zum Fürsorgeprinzip“ (Schmid u. a. 2001: 272). Der Nationalsozialismus beseitigte die paritätische Selbstverwaltung, führte die Arbeitspflicht ein und stellte sie in den Dienst der Kriegsvorbereitung. Erst in der BRD wurde das Versicherungsprinzip erneut gestärkt und die Finanzierung durch Beiträge und Bundeszuschüsse gewährleistet. Seit der Rückkehr der Langzeit-A. in den 1980er Jahren, der Ausbreitung eines Niedriglohnsektors und unterbrochener Erwerbsbiographien sind allerdings immer mehr Arbeitssuchende und selbst Erwerbstätige auf das der Arbeitslosenversicherung nachgelagerte, steuerfinanzierte Sicherungssystem angewiesen. Sie unterliegen damit den aus der Fürsorge bekannten diskriminierenden Praktiken der Bedürftigkeitsprüfung, verschärften Sanktionsdrohungen und Zumutbarkeitskriterien für die Arbeitsaufnahme („Hartz IV“).

2. Der Einfluss von politischem Willen und institutionellen Regelungen auf die Arbeitslosigkeit

Der versicherungsrechtliche Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung bildet einen elementaren Bestandteil der sozialen Rechte (Sozialrecht), mit denen nach dem Zweiten Weltkrieg der Bürgerstatus auf die lohnabhängigen Bevölkerungen in den hochentwickelten Industriegesellschaften (Industriegesellschaft) Europas ausgeweitet und gestärkt wurde. Ein individuell einklagbares, soziales Recht auf Arbeit allerdings wurde nicht durchgesetzt. Damit bleibt die Verwundbarkeit durch A. in kapitalistischen Marktwirtschaften (Kapitalismus) auch für diese Länder bestehen.

Ausmaß, Formen und Auswirkungen der A. variieren allerdings von Land zu Land entspr. der Unterschiede in der Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik, der Höhe, Dauer und Zugangskriterien der Versicherungsleistungen und der institutionellen Verknüpfung von Arbeitsmarkt, Geschlechterverhältnissen und sozialstaatlichen Sicherungssystemen (Sozialstaat). In Deutschland erhöht bspw. die enge Abhängigkeit der Leistungen aus der beitragsfinanzierten Arbeitslosenunterstützung, Kranken- und Rentenversicherung von der Erwerbsbiographie und der Höhe des Erwerbseinkommens das Risiko, dass prekäre Beschäftigung und A. Teufelskreise der sozialen Entsicherung und Verarmung anstoßen. Die am Modell des Familienernährers ausgerichteten Sozialversicherungen und Steuergesetze verstärken den hohen Frauenanteil in nach Beschäftigungssicherheit und Einkommen prekären Arbeitsverhältnissen. Im Vergleich dazu reduzieren Arbeitsmarktpolitik und Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme in den skandinavischen Ländern bislang sowohl die Risiken des sozialen Abstiegs durch A. als auch das Ausmaß prekärer Beschäftigung, bei einer hohen Erwerbsbeteiligung von Frauen.

In den um Erwerbsarbeit zentrierten Gesellschaften (Gesellschaft) stellt die Erwerbsarbeit nicht nur die primäre Einkommensquelle dar, sondern sie wirkt prägend auch auf andere Lebensbereiche und Erfahrungen. Die Pionierin der Arbeitslosenforschung, Marie Jahoda, unterscheidet fünf „latente Funktionen“ der Erwerbsarbeit, die durch die A. berührt oder in Frage gestellt werden: „Sie gibt dem wach erlebten Tag eine Zeitstruktur; sie erweitert die Bandbreite der sozialen Beziehungen über die oft stark emotional besetzten Beziehungen zur Familie und zur unmittelbaren Nachbarschaft hinaus; mittels Arbeitsteilung demonstriert sie, dass die Ziele und Leistungen eines Kollektivs diejenigen des Individuums transzendieren; sie weist einen sozialen Status zu und klärt die persönliche Identität; sie verlangt eine regelmäßige Aktivität“ (Jahoda 1983: 136). In den Erfahrungen der Arbeitslosen kommen aber auch die Fremdbestimmung und Belastungen in der Erwerbsarbeit zum Tragen. Dennoch gilt, dass die A. in den von M. Jahoda genannten Dimensionen schädigend wirkt je stärker und anhaltender sie in die Erwerbsbiographien eingreift, eigene Lebensentwürfe untergräbt, Einkommensverluste und Diskriminierungen (Diskriminierung) nach sich zieht.

Seit dem Ende der 1980er Jahre wird in Europa die Gefahr der sozialen Ausgrenzung thematisiert. Gemeint ist damit der Verlust kulturell angemessener Teilhabemöglichkeiten am gesellschaftlichen Leben durch A. und prekäre Beschäftigung. Der Vorrang der Integration der Märkte vor der wirtschafts-, fiskal- und sozialpolitischen Integration bei der Gestaltung derEU hat die Mitgliedsstaaten in ihren beschäftigungs- und sozialpolitischen Handlungsmöglichkeiten geschwächt ohne auf europäischer Ebene angemessene Mechanismen der sozialen Absicherung und des Ausgleichs zu schaffen. Die Folge sind eine zunehmende soziale Ungleichheit, auch in der Verteilung der A., zwischen den Regionen in Europa, eine zunehmende Ungleichheit innerhalb der Mitgliedsstaaten und eine Zunahme sozialer Ausgrenzungen. Die Märkte werden es nicht richten, so wenig wie ein Staatenverbund nach Hayekschem Muster, der stark sein soll in der Absicherung der Märkte und sich aus der Intervention in die Märkte heraushält. Ob die EU als demokratisches, sozial unterbautes Gemeinwesen existieren kann, hängt von Sozialstaatlichkeit (Sozialstaat) ab, die es als historische Errungenschaft gegen das Hayeksche Muster zu verteidigen gilt.

III. Sozialethisch

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A. wird von den meisten der davon Betroffenen nicht freiwillig gewählt und von diesen zumeist negativ erfahren. Für gewöhnlich wird sie in der politischen Öffentlichkeit, von den meisten Akteuren und auch von den kirchlichen Institutionen, negativ beurteilt.

1. Arbeitslosigkeit in der Arbeitsgesellschaft

In Arbeitsgesellschaften werden Menschen ohne ausreichendes Vermögen zur Erwerbstätigkeit und dabei zumeist zur Aufnahme einer Beschäftigung angehalten, um ein eigenständiges Einkommen zu beziehen und daraus ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Dieses Einkommen fällt als Folge von A. aus. Sofern man bei der ethischen Beurteilung von A. diesen Verlust von Erwerbseinkommen in den Blick nimmt, wird man auf dessen Kompensation durch ein staatlich gewährleistetes Sozialeinkommen drängen.

Zur ethischen Beurteilung von A. wird auch auf die Nicht-Teilnahme an der Erwerbsarbeit oder mangelnde gesellschaftliche Zugehörigkeit infolge fehlender Erwerbsarbeit Bezug genommen. Jenseits des Erwerbsinteresses wird dann der Erwerbsarbeit ein eigener Wert zugesprochen: Über Erwerbsarbeit werden die Erwerbstätigen am gesellschaftlichen Leistungsausgleich beteiligt; sie sind in sozialen Zusammenhängen von Betrieben (Betrieb) und ähnlichen Einrichtungen integriert, ihr Alltag wird strukturiert. Ihr Arbeitsvermögen wird über Erwerbsarbeit genutzt – und verkümmert hingegen durch die Nichtnutzung infolge ihrer A. Zudem werden Menschen über ihre Erwerbsarbeit gesellschaftlich, etwa in die Systeme der sozialen Sicherung, integriert; hingegen bleibt ihre gesellschaftliche Zugehörigkeit durch A. unvollständig oder ist bedroht.

Der Eigenwert von Erwerbsarbeit hat allerdings einen arbeitsgesellschaftlichen Hintergrund: Auch jenseits von Erwerbsarbeit bestehen Bedarfe und Möglichkeiten, vielleicht sogar bessere Möglichkeiten für sinnvolle und gesellschaftlich notwendige Arbeit – etwa in der Versorgung und Erziehung von Kindern. Um Menschen dennoch zu Erwerbsarbeit anzuhalten, wird sie zur Bedingung der gesellschaftlichen Zugehörigkeit gemacht. Im Gegenzug wird den Erwerbstätigen soziale Absicherung und soziale Anerkennung, mehr noch: die vollwertige gesellschaftliche Zugehörigkeit „versprochen“. Aus diesem arbeitsgesellschaftlichen Arrangement fallen die von A. Betroffenen heraus – insb. dann, wenn ihre A. lange andauert oder immer wiederkehrt. In dem Maße, in dem Erwerbsarbeit zur Bedingung gesellschaftlicher Zugehörigkeit gemacht wird, besteht ein „Recht auf Arbeit“ – und in dessen Folge eine gesellschaftliche Verpflichtung, den von A. Betroffenen einen Weg in die Erwerbsarbeit und d. h. v. a. in Beschäftigung zu eröffnen. Der Staat entspr. dieser Verpflichtung durch aktive Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik.

2. Individuelle oder soziale Verantwortung

Auf den Arbeitsmärkten stehen zunächst vereinzelte Arbeitnehmer der Nachfrage von Unternehmen u. a.n Einrichtungen gegenüber. Ohne Beschäftigung bleiben sie, wenn ihre Arbeitskraft nicht zu ihren Konditionen nachgefragt wird und sie deshalb keinen Arbeitgeber finden. Besteht dieser Zustand episodenhaft, billigt man den Betroffenen für gewöhnlich einen Übergang und damit die Suche einer passenden Beschäftigung zu. Sozialstaatliche Unterstützung (Sozialstaat) hilft ihnen, diese Episode zu überbrücken, und sorgt damit für vergleichbare Verhandlungspositionen auf dem Arbeitsmarkt.

Besteht der Zustand dauerhaft oder kehrt er immer wieder, dann wird dies den Betroffenen häufig als ihr Manko zugesprochen, so als ob sie wegen mangelnder Qualifikationen, fehlender Bereitschaft, fehlender Mobilität oder anderer, die Nachfrage störender Eigenschaften auf dem Arbeitsmarkt scheitern. Folgt man bei der ethischen Beurteilung von A. dieser „Schuld“-Zuschreibung, liegt es in der öffentlichen Verantwortung, die Betroffenen zu marktgängigen Qualifikationen, zur notwendigen Bereitschaft und Mobilität sowie zu realistischen Erwartungen etwa hinsichtlich der Einkommen zu verhelfen und sie in ihrer Beschäftigungsfähigkeit (employability) zu „fördern“. Zugl. sollen sie unter Druck gesetzt werden, die angebotene Förderung wahrzunehmen und sich dem Arbeitsmarkt mit der notwendigen Bereitschaft und Mobilität zur Verfügung zustellen. Dieses Programm von „Fördern und Fordern“ dominiert die Beschäftigungspolitik seit Anfang dieses Jahrhunderts (nicht nur) in der BRD.

Diese Sicht der Dinge ist, zumal in Zeiten einer verfestigten Massen-A., wenig plausibel. Zwar können in Einzelfällen individuelle Defizite Ursache dafür sein, dass einzelne mit ihrem Arbeitskraftangebot auf dem Arbeitsmarkt erfolglos bleiben. Diese lassen sich durch entspr.e Förderung bearbeiten. Aber im volkswirtschaftlichen Aggregat können Nachfragelücken auf dem Arbeitsmarkt den einzelnen Erwerbspersonen nicht zugerechnet werden. Deren Arbeitskraft, dabei v. a. deren Qualifikation kann nicht für kommende, zudem schwankende Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt ausgebildet werden. Dies gilt zumal dann, wenn Erwerbspersonen unter Bedingungen der Massen-A. gehalten werden, Beschäftigung auch unterhalb ihres Qualifikationsniveaus anzunehmen, dadurch die A. „nach unten“ sickert und deshalb v. a. diejenigen mit geringem Qualifikationsniveau trifft. Weil Arbeitskraft an Personen gebunden ist, müssen auf dem Arbeitsmarkt nicht nur die sich dort ausbildenden Erwartungen, sondern auch die in der Person der Erwerbstätigen begründeten Ansprüche geltend gemacht werden können. Von daher ist eine aktive Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik gefordert, die stärker auf strukturelle Förderung von Beschäftigung statt eine Förderung von individueller Beschäftigungsfähigkeit ausgerichtet ist.

3. Die Verantwortung der Politik

Marktwirtschaftliche Prozesse können in ihren Ergebnissen von keinem einzelwirtschaftlichen Akteur intendiert werden, weswegen diese Ergebnisse auch von niemandem verantwortet werden können. Würde dies für die (für eine Volkswirtschaft aggregierte) A. gelten, würde sich diese der sozialethischen Beurteilung entziehen. Für die A. gilt dies aber so nicht: Wenn auch nicht von den einzelnen Akteuren auf dem Arbeitsmarkt und wenn auch nicht der genaue Umfang der Beschäftigung, so lässt sich ein möglichst hoher Beschäftigungsstand und eine gleichmäßigere Verteilung der zur Verfügung stehenden Beschäftigung intendieren, nämlich durch die Gesamtheit der politischen Akteure, letztlich der Bürger, ihrer gesellschaftlichen Organisationen (z. B. Verbände und Gewerkschaften) und staatlichen Institutionen. Deren gemeinsamer Verantwortung obliegt die Ordnung des Arbeitsmarktes und der dort erfolgenden Koordination von Arbeitskräfteangebot und -nachfrage sowie die gesellschaftliche und insb. staatliche Steuerung von Arbeitskräfteangebot und -nachfrage, auch Umfang und Art der Beschäftigung in öffentlichen Einrichtungen. Weil in diesem Sinn ein möglichst hoher Beschäftigungsstand und eine gleichmäßige Verteilung der zur Verfügung stehenden Beschäftigung intendiert werden kann, kann (und muss dann auch) jede strukturelle A. als Verletzung des politisch Möglichen beurteilt werden.

4. Arbeitslosigkeit als Exklusion

Nach einer langen Zeit der verfestigten Massen-A. Mitte der 1970er bis Mitte der 2000er Jahre zeigt sich A. in der BRD inzwischen stärker in der strukturellen Ausgrenzung bestimmter Personengruppen aus der Beschäftigung. Hinzu kommt eine zunehmende Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse, bei der die Betroffenen zwar eine Beschäftigung finden, diese aber außerhalb der für die Mehrheit der Erwerbspersonen üblichen Beschäftigung sowie der damit verbundenen sozialen Absicherung und gesellschaftlichen Integration bleiben. Insofern die davon betroffenen Problemgruppen identifiziert werden können, ist eine Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik gefordert, die deren Benachteiligungen kompensieren hilft und dadurch den Betroffenen den Zugang zur Beschäftigung erleichtert.

Um in bestimmten Konstellationen, etwa als Alleinerziehende, Familien- und Fürsorgearbeit leisten zu können, müssen sich allerdings Erwerbspersonen zumindest zeitweise vom Arbeitsmarkt zurückziehen können. Eine Schlechterstellung dieser Personengruppe etwa bei der sozialen Absicherung oder gesellschaftlichen Anerkennung sind, soweit wie politisch möglich, zu verhindern. Bei Menschen mit Behinderungen oder anderen dauerhaften Einschränkungen hingegen, bei denen die Förderung in eine reguläre Beschäftigung für viele trotz aller Anstrengungen wenig wahrscheinlich ist, ist eine Förderung von Beschäftigung jenseits des „ersten Arbeitsmarktes“ sinnvoll – und zwar v. a. dann, wenn diese langfristig orientiert wird.