Anthropologie

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  1. I. Philosophisch
  2. II. Theologisch
  3. III. Pädagogisch

I. Philosophisch

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Jegliches Unternehmen der A. ist das Resultat einer Einstellung, in der man aus dem mehr oder weniger unreflektierten Lebensvollzug heraus und in die Rolle des unbeteiligten Zuschauers schlüpft. Zu dieser Unterbrechung kann man durch verschiedene Ereignisse geführt werden. Entscheidend ist, dass sie möglich ist. Denn nur in der durch sie entstehenden Distanz sich selbst gegenüber kann jener Affekt entstehen, den man seit der Zeit eines Platon und eines Sophokles das „Staunen“ nennt. So gestimmt, werden wir fähig, das Seltsame und Rätselhafte unseres Daseins wahrzunehmen, das die Fragen „Was ist der Mensch eigentlich?“ und „Zu welchem Ende gibt es ihn?“ provoziert. Es sind Fragen, die nicht nur zu einer Fülle von Antworten führen, sondern auch zu immer neuen Fragen.

1. Bezeichnung

Die Bestandteile des Ausdrucks A., der erst im 16. Jh. auftritt, sind im Rückgriff auf die altgriechische Sprache entnommen. Seine Bedeutung ist: Vom Menschen (ánthropos) soll allgemeingültig gesagt werden (lógos), was er (als solcher) ist, mit anderen Worten, was sein Wesen ist. So verstanden ist A. eine philosophische Disziplin (Philosophie). Den Namen A. tragen aber auch zwei spezielle empirische Forschungszweige, die man der Deutlichkeit halber als physische (oder biologische) und Sozial- (oder auch Kultur-)A. unterscheidet. Im Hintergrund dieser Einteilung steht die klassische Unterscheidung von Körper und Seele. Die physische A. ist eine Naturwissenschaft. Sie untersucht u. a. menschliche Skelette, sei es gegenwärtige oder Fundstücke früherer, v. a. vorgeschichtlicher Zeiten, im Hinblick auf die darin dokumentierten Entwicklungen menschlicher Populationen. Die Sozial-A. hingegen ist eine Sozialwissenschaft, die die Strukturen und Gebräuche von (v. a. schriftlosen) menschlichen Gesellschaften (Gesellschaft) erforscht. Beide Forschungsformen bewegen sich zugl. auf zwei Ebenen. Vordergründig erforschen sie die physische oder soziale Seite bestimmter, einzelner menschlicher Populationen. Hintergründig aber hofft man auf diesen Wegen eine Erkenntnis dessen zu gewinnen, was den Menschen als solchen ausmacht. So kommt es zu ihrer Bezeichnung als A. einfachhin, die an sich etwas prätentiös klingen kann.

2. Anthropologie im umfassenden, philosophischen Sinn

a) Stellt man die Frage, was allen Menschen als solchen gemeinsam ist bzw. was der Begriff des Menschen sei, ausdrücklich und prinzipiell, so betreibt man A. im eigentlichen, d. h. im philosophischen Sinn. So verwenden auch wir im Folgenden den Ausdruck A. Dazu gehört der Versuch, einen Standpunkt zu gewinnen, der es gestattet, überlieferte Meinungen über das, was den Menschen ausmacht, im Lichte neuer Fragestellungen, Erkenntnisse und Ideale zu überprüfen. Dies soll in möglichst rationaler und methodisch durchsichtiger Weise geschehen. A. ist also die explizite Bemühung um ein systematisches und kritisch grundgelegtes Wissen vom Menschen. Dem Willen zu einem solchen Wissen muss nicht die Tatsache im Wege stehen, dass man faktisch nie zu einem völligen Neuanfang, sondern immer nur zu (mehr oder weniger tiefgreifenden) Modifikationen und Synthesen überlieferter Überzeugungen bzw. Einsichten kommen wird.

b) „Wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir?“ Solche Fragen nach dem Wesen, nach der Herkunft und der Bestimmung des Menschen sind wohl schon in irgendeiner vagen Weise gestellt worden, seit es überhaupt ein Denken gibt, das über die Befriedigung der vitalen Bedürfnisse (Bedürfnis) hinausgeht. Uralt ist die Abgrenzung der sterblichen Menschen von den unsterblichen Göttern. Der Versuch, das Wesen des Menschen zu definieren, indem man einen übergreifenden Gattungsbegriff ansetzte und eine spezifische Differenz angab, beginnt jedoch erst im Zuge der allg.en Klassifikationsbemühungen Platons und seiner Schule. Als Gattungsbegriff wird bei Aristoteles das Lebewesen (zoon) aufgestellt, welches seinerseits als beseelter Körper begriffen wird. Zum Programm einer eigenen anthropologischen Fragestellung kommt es jedoch bei Aristoteles nicht. Sie zerfällt bei ihm auf zwei verschiedenartige Untersuchungen: erstens die theoretische Lehre von der Seele und ihren gestuften Kräften, zweitens das praktische Fragen nach der rechten menschlichen Lebensführung („Ethik“). Immerhin setzt sich im Anschluss an ihn die rhetorisch-schulmäßige Definition durch, der Mensch sei ein denkendes Lebewesen (animal rationale). In diesem Rahmen halten sich einflussreiche Lehrbücher der A., wie z. B. „Über die Natur des Menschen“ des christlichen Neuplatonikers Nemesios von Emesa. Ein eigenes Programm anthropologischer Forschung tritt erst in der späten europäischen Neuzeit auf, z. B. bei David Hume. Bei Alexander Pope findet es auch gleich eine geprägte Fassung im theologiekritischen Satz: „The proper study of mankind is man“ (Pope 1734). Im 19. Jh. wird die A. so unter dem Einfluss Ludwig Feuerbachs z. T. zur umfassenden Optik der Philosophie überhaupt. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die Entwicklung der A. im 20. Jh., in einer Schulrichtung, die sich selbst „Philosophische A.“ nannte, bei Max Scheler, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen. Seit jeher spielten jedoch auch Theater und Lyrik und später Roman und Film eine enorme Vermittlungsrolle für die Selbsterkenntnis des menschlichen Wesens, die mit dem Prädikat „vorphilosophisch“ nicht genügend gewürdigt wird.

c) Wenn der Mensch eines der Lebewesen ist, so stellt sich die Frage nach seinen spezifischen Eigenschaften, die er aufweist, wenn man ihn mit den spezifischen Eigenschaften anderer Lebewesen vergleicht. Später, als man ihre evolutive Verwandtschaft erkannt hat, zieht man dafür bes. die sog.en Menschenaffen heran. Aber schon Aristoteles hatte beiläufig darauf hingewiesen, dass der Mensch durch die Gabe der Sprache und das Leben in Stadtstaaten ausgezeichnet sei. Als man vor der Frage stand, ob gewisse prähistorische Funde als menschliche oder noch äffische Zeugnisse zu interpretieren seien, traten als fundamentale Kriterien des Menschlichen ans Licht: der aufrechte Gang, der Gebrauch des Feuers, die Sorge um die Toten. Später wurde die Suche nach typisch menschlichen Eigenschaften weitergeführt, z. B. durch M. Scheler und Martha Nussbaum. Genannt werden: die Bekleidung, die kompliziert sein oder sich auf eine Schnur oder eine Bemalung reduzieren kann, aber immer die Regel ist, während die Nacktheit die Ausnahme ist. Die Sprachen sind verschieden. Aber jede menschliche Gemeinschaft hat ihre Sprache. Die Inhalte von Recht und Moral sind verschieden (obwohl es hier auch viele kulturübergreifende Gemeinsamkeiten gibt, wenn man nicht auf kontextabhängige Einzelvorschriften, sondern auf die Prinzipien schaut). Aber überall gibt es so etwas wie Recht und Moral. Überall bei den Menschen gibt es die Erfindung und den dauerhaften Gebrauch von Werkzeugen und technischen Geräten (Technik). Überall bauen sich die Menschen eigene Wohnungen in Hütten und Häusern, in Dörfern (Dorf) und Städten (Stadt). Im Menschen bezeugt sich ein Streben nach Erkenntnis, nicht nur da wo sie dem Überleben dient, sondern auch wo es um das reine Wissen geht. Im Menschen, als dem animal metaphysicum (Immanuel Kant), brechen immer wieder Fragen auf, die weit über die Grenzen des empirisch absicherbaren Wissens hinausgehen. Menschen leben in Geschichten, die sie erfinden und erzählen, denen sie zuhören und die aufgeschrieben werden. Es ist typisch für den Menschen, sich des Vergangenen zu erinnern und das Zukünftige gedanklich vorwegzunehmen. Dem Menschen eigen ist eine Freude am Schönen und auch die Kraft, es in neuen Formen hervorzubringen. Menschen können von maßlosem Hass oder von reiner Liebe ergriffen werden. Die Menschheit hat vielfältige Formen der Achtung der umgreifenden Mächte und der Verehrung des Heiligen entwickelt und sich ihnen gegenüber situiert. Nicht jeder Mensch freilich hat die Fähigkeit, Spitzenleistungen der Kultur zu schaffen, die gleichwohl die einzelnen Epochen der Menschheitskultur auszeichnen, von denen alle oder doch viele Zeitgenossen leben. Im Hinblick auf diese typischen Charakteristika kann man von einem bleibenden Wesen des Menschen sprechen, das zwar nicht ewig ist, aber doch spätestens seit dem Auftreten des modernen Menschen vor 200 000 Jahren bis heute bezeugt ist, wo er, angewachsen auf über sieben Mrd. Exemplare, die ganze Erde beherrscht.

3. Wissenschaftstheoretische Bemerkungen

3.1 Empirische und philosophische Elemente des anthropologischen Fragens

Im Lauf der Geschichte trat die Frage des Menschen nach seinem Wesen immer mehr in den Interessenkreis der Philosophie, die an sich, wie gesagt, seit ihren Anfängen ohne eine eigene Disziplin mit dem Titel A. existiert hatte. Eine analoge Bewegung spielte sich im Bereich der empirischen Wissenschaften ab, wo immer neue Weisen und Richtungen, das Menschliche zu erforschen, entstanden und sich entfalteten. Dabei gibt es ein lebhaftes Hin und Her zwischen den vielfältigen wissenschaftlichen und philosophischen Untersuchungen des Menschseins. Beide Weisen des Fragens wachsen ja gleichzeitig auf dem Boden der schlichten Lebenserfahrung und der dabei entstehenden Alltagsweisheit, so dass das Unternehmen A. niemals am Nullpunkt beginnt. Beide bemühen sich um ein begründetes Wissen, das auf einen Begriff des Menschlichen überhaupt abzielt. Beide sind folglich nur in einem gewissen Maß zu trennen; sie sind Teil eines einzigen, nie abzuschließenden Wissensprojekts. Ein Begriffspaar I. Kants aufgreifend, könnte man sagen: Im Hinblick auf dieses Ziel sind die anthropologisch relevanten empirischen Forschungsprojekte ohne die Klärungs- und Syntheseversuche der Philosophie „blind“, während diese weitgehend „leer“ bleiben, wenn sie sich nur in ihrem eigenen Felde bewegen.

3.2 Anthropologie als mögliche und naheliegende Zuspitzung, nicht aber als Fundament der Philosophie

Aber nicht nur auf die empirischen Forschungen bleibt die philosophische A. verwiesen; sie hängt auch von anderen philosophischen Disziplinen ab wie z. B. der Ontologie, Ethik, Naturphilosophie, Erkenntnislehre und Ästhetik. Gewiss hängt die Ausgestaltung philosophischer Fragebereiche zum Teil auch von anthropologischen Prämissen ab. Aber es gilt noch viel mehr das Umgekehrte, und zwar aus zwei Gründen.

a) Angenommen, es sei charakteristisch für den Menschen, dass er über die Welt nachdenkt, sich unter dem Anspruch der Wahrheit und anderen sittlichen Ansprüchen vorfindet und am Schönen hängt, dann muss, um zu einer vertieften Erkenntnis des Menschen zu gelangen, geklärt werden, was Denken, sittliches Urteil und ästhetische Freude eigentlich sind. Für die Klärung dessen, was das Denken sei, sein könne und solle, ist man aber v. a. auf die Logik und Erkenntnistheorie angewiesen. Sinn und Geltung sittlicher Urteile werden primär in der Grundlegung der Ethik, das Wesen des Schönen in der philosophischen Ästhetik untersucht, und nicht oder dann erst in der A.

b) Wenn in der A. vom menschlichen „Sein“ oder vom „Wesen“ des Menschen die Rede ist, bezieht man sich auf Grundbegriffe der Ontologie. Wenn man solche Begriffe nicht zulassen will, schließt man auch die Tür für die A. Deutet man sie in einem ausschließlich materialistischen Sinn (Materialismus), so ergibt sich eine verengte A. Vorentscheidungen im Felde der Ontologie sind also auch Vorentscheidungen für Form und Methode der philosophischen A. Und diese bleibt undurchsichtig, wenn ihre ontologischen Implikationen nicht aufgeklärt werden. Darauf hat bes. Martin Heidegger immer wieder energisch hingewiesen.

3.3 Die Anthropologie ist ihrer Fragestruktur nach selbstreflexiv

Es versteht sich von selbst, dass sich die Fragenden selbst zu den Menschen rechnen, mag es auch zunächst offen bleiben, welche begegnenden Wesen sonst noch als Menschen gelten mögen. Es geht in der A. also immer um „uns“, um uns, die nie nur „sind“, sondern immer schon so und so handeln und auf dem Sprung sind, ihr Handeln zu revidieren. Deswegen konnte I. Kant, in dessen Werk sich die Denkstraßen der Neuzeit kreuzen, eine Neugründung der A. ins Auge fassen, die nicht mehr das Lebewesen als ihren umfassenden Gattungsbegriff ansetzt, sondern das handelnde Ich. Er meinte, dass die Frage „Was ist der Mensch?“ beantwortet sei, wenn man die folgenden drei Fragen beantwortet habe: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich – über den Tod hinaus – hoffen? Dabei ist es eine zunächst beirrende Einsicht, dass keine dieser drei Fragen, die I. Kant stellt, empirisch beantwortet werden kann: weder unmittelbar durch Erfahrung, noch mittelbar durch eine mit Erklärungshypothesen arbeitende Erfahrungswissenschaft. Nur das, was ein Mensch faktisch weiß und tut und hofft, kann neutral beschrieben und inventarisiert werden: teilweise von anderen besser als von ihm selbst, teilweise umgekehrt, im Ganzen sicher nie vollständig, aber im Prinzip doch. Daraus folgt auf der einen Seite, dass eine Theorie des Menschen, an der nicht nur ablesbar sein soll, was der Mensch durchschnittlich ist, sondern auch, wozu er fähig ist und was er sein soll – und eben das erwartet jedermann von einer philosophischen A. –, keine empirische Theorie nach dem Vorbild der statistisch arbeitenden Natur- und Sozialwissenschaften sein kann.

4. Die fragliche Einheit als Grundproblem der Anthropologie

Das Grundproblem einer philosophischen A. ist wohl die Einheit des menschlichen Wesens, sowohl im Sinne der inneren Einheit jedes menschlichen Individuums wie auch im Sinne der Einheit der Art (d. h. der Menschheit). Zunächst wird diese Einheit wie etwas Selbstverständliches vorausgesetzt, dann aber kann sie für den Nachdenklichen zum Problem oder zum Mysterium werden.

a) Ein Mensch ist entweder Frau oder Mann. Lange Zeit wurde in den meisten Kulturen der Mann als typischer Mensch angesehen, die Frau wurde von ihm her und auf ihn verstanden. Auch heute wirkt diese, z. T. in der Sprache verankerte, Auffassung weiter, obwohl man versucht, eine gesellschaftliche und politische Gleichrangigkeit und Gleichberechtigung der beiden Geschlechter durchzusetzen (Geschlechtergerechtigkeit). Inzwischen ist aber auch das Entweder-oder der beiden Geschlechter ins Wanken geraten, da man psychische und selbst physische Zwischenformen entdeckt hat (Gender).

b) Als Lebewesen durchläuft jeder Mensch eine Entwicklung. Schon am Anfang ist er ganz Mensch, und am Ende ist er nicht darüber hinaus gekommen. Er wächst aus der Vereinigung der elterlichen Keimzellen heran, zunächst im Mutterleib und dann im Quasi-Uterus seiner Familie, bis hin zum Alter der Vernunft (etwa 6 Jahre). Dort überschreitet er die erste Schwelle, dann in der Pubertät die zweite zum ausgewachsenen Zustand, in dem er sich einige Jahrzehnte hält, bis er von der fortschreitenden Schwäche des Alters erfasst wird und schließlich stirbt. Sein Leben lang ändert sich der Mensch. „Dennoch“ hält sich seine individuelle Identität durch: Vorname, Nachname. Er ist auch als Erwachsener unabstreifbar der, der er als Embryo, als Kind und als Jugendlicher war.

c) Jeder Mensch findet sich als Glied seiner Familie und seines Volkes vor, und vollzieht diese Zugehörigkeit in verschiedenen Graden und Mischungen der Identifikation. Ohnehin hat kein Volk eine so abgegrenzte Identität, das diese nicht gemischt sein könnte. In diesem Zusammenhang kann die Frage aufkommen, ob sich jemand primär bzw. exklusiv mit seinem Volk identifiziert oder noch einen Raum für die – existenzielle, nicht nur abstrakte – Identifikation mit dem Menschsein in seiner Weite lässt. Man sieht dann im anderen und auch in sich selbst nicht in erster Linie einen Franzosen usw. oder einen Angehörigen der weißen Rasse, sondern in erster Linie als einen Menschen. Die Einstellung des Humanismus mitsamt dem Blick für die Menschenwürde ist geboren. Nun ist auch Platz für die Frage nach der inneren Einheit der Menschheit, die über die Schicksalsgemeinschaft des Menschengeschlechts in seiner heutigen Lage hinausgeht und alle verstorbenen Ahnen und noch kommenden Menschengenerationen mit einbegreift. Mit ihnen können wir uns verwandt fühlen. Mit einem großen Teil von ihnen können wir durch Bande der Sympathie und des Verstehens verbunden sein. Auch die frühen Formen des homo sapiens, die z. B. durch seine Höhlenmalereien zu uns sprechen, stehen uns näher, als es die ehemals populären Zeichnungen der affenartigen Herden von Frühmenschen (nach dem Modell der DDR-Publikation „Weltall-Erde-Mensch“) nahelegten.

d) So wie jeder und jede eine Mutter und einen Vater hat, so sind auch diese die Kinder von Eltern und so zurück in die graue Vergangenheit. So stammen Menschen von Menschen, bis zurück zum ersten Menschenpaar oder den ersten Menschenpaaren. Darüber nimmt man heute, aufgrund paläologischer Forschungen und gestützt auf die allg.e Evolutionstheorie an, dass sich die Menschheit aus tierischen Vorfahren entwickelt hat, von denen auch die heutigen Menschenaffen abstammen (Evolution). Die Trennung der Linien soll sich vor etwa sechs Mio. Jahren vollzogen haben. Es bleibt freilich ein Rätsel, wie man den evidenten Unterschied zwischen der tierischen und menschlichen Wesensgestalt zusammendenken kann mit der gesicherten Tatsache der Abstammung der letzteren von der ersteren.

e) Betrachtet man die Phasen der Geschichte der Menschheit, so wandelt sich die A. zur Geschichtsphilosophie (Geschichte, Geschichtsphilosophie). Die Sippen des homo sapiens besiedeln der Reihe nach die Kontinente der Erde, bis kein menschenleerer Raum mehr bleibt und die gegenseitige kämpferische Verdrängung einsetzt. Wirtschaftlich gesehen, ernährt man sich durch Sammeln und Jagen, bis vor ca. 10 000 Jahren, in der sog.en neolithischen Revolution, die Seßhaftwerdung, der Bau von Dörfern (Dorf) und der Ackerbau hinzutreten und mehr und mehr dominieren. Bald treten zu den Dörfern Städte (Stadt) und mehr und mehr auch Großstädte. Um 1910 lebten, global gesehen, mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Heute ist die Entwicklung darüber hinausgegangen und geht weiter. Dem festen Sitz korrespondieren neue Formen der (immer gesteigerten) Mobilität auf dem Land (Automobil und Schnellzug), zu Wasser (auf Flüssen, an Küsten, quer über die Ozeane) und in der Luft, bis hin, dass der irdische Bereich ganz transzendiert wird in der Raumfahrt. Die Technik bleibt nicht auf das Handwerk begrenzt, sondern wird Industrie und Großindustrie, zunächst auf der Basis des Eisens und der Kohleenergie, dann von elektrischer Energie und elektronischer Steuerung. Zu den Trägern der Entwicklung werden zunächst europäische Nationen. Doch verlieren diese, durch zwei Weltkriege äußerlich wie innerlich geschwächt, einen großen Teil ihrer Führungsrolle an die USA, wenn nicht an die (seinerzeit) kommunistischen Mächte Russland und China. Von den USA und Ostasien her breiten sich auf dem ganzen Globus die elektronischen Medien aus, die sowohl die öffentlichen wie die privaten Medien der Kommunikation tiefgreifend verändern, so sehr, dass zahlreiche junge Menschen sich ohne ihr Smartphone nicht nur nackt, sondern sogar amputiert vorkommen. Auf diesem Weg wandeln sich die getrennten Lebenswelten von ehemals einigermaßen homogenen Bevölkerungen zu einer Mischung von verschiedenen Kulturen, nicht ohne große Spannungen und Kämpfe, aber, wie es scheint, doch unaufhaltsam. Eine globale Weltkultur deutet sich an, die in Wissenschaft und Kunst das Erbe der Einzelkulturen antritt und es in ein humanistisches „Welterbe“ einbringt. Als ihr Instrument versteht sich die UNESCO, in deren Dokumenten immer wieder ausdrücklich von „der Menschheit“ die Rede ist. V. a. aber werden die Menschen dazu gezwungen, sich dadurch als Handlungssubjekt „Menschheit“ zu verstehen, die dabei sind, die natürlichen Grundlage ihres Daseins auf der Erde zu zerstören (Klimawandel), wenn sie nicht Gegenmaßnahmen ergreifen.

5. Grundstruktur und Sinn des Mensch-Seins

Jegliches Ding „ist“ das, was es seiner Natur nach faktisch nun einmal ist oder werden kann. Auch das „sein“, womit der Mensch sich identifiziert: womit er sich beschäftigt, wofür er seine Zeit ausgibt, was er liebt. Er „entwirft“ sein eigenes Sein auf Möglichkeiten hin. In diesem Entwerfen realisiert er die Freiheit seines Willens. Der Bezug zwischen Natur und Freiheit, zwischen Bestimmtsein und Selbstbestimmung, ist die fundamentale Spannung, die das Mensch-Sein ausmacht und die im Laufe seiner Entwicklung progressiv hervortritt. Dabei ist die Natur nicht nur die Grenze seiner Freiheit, sondern auch deren konkrete Ermöglichung. Mehr noch: Wir sind grundlegend von Natur aus frei, und werden es erst in zweiter Linie durch die freie Zuwendung anderer Menschen, die zu uns „du“ sagen. Erst in dritter Linie werden wir frei durch das eigene Ergreifen unserer Spontaneität, welches Johann Gottlieb Fichte erkannt, aber dann wohl etwas übertrieben als „Selbstsetzung“ charakterisiert hat. Doch dürfte die ergriffene und in guten Werken realisierte Freiheit der Sinn des Menschseins sein.

II. Theologisch

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Die theologische A. stellt die Frage nach dem Menschen, zwar gestützt auf Quellen der Offenbarung, aber doch aus menschlicher Sicht. Dabei kann sie sich auf die Einsicht des vierten Laterankonzils (1215) stützen, die im Blick auf alle theologischen Aussagen festgestellt hat: „Inter creatorem et creaturam non potest tanta similitudo notari, quin inter eos maior sit dissimilitudo notanda.“ (Denzinger/Hünermann 2005: 806) („Zwischen Schöpfer und Geschöpf kann keine solche Ähnlichkeit festgestellt werden, dass nicht zwischen ihnen eine größere Unähnlichkeit festgestellt werden muss.“) Aus dieser Einsicht resultiert das methodische Prinzip einer Vorsicht aller theologischen Aussagen über den Menschen, die nicht von Aussagen über Gott getrennt werden können. So ist theologische A., v. a. in Sprache und Abschätzung der Konsequenzen, auf die Human- und Sozialwissenschaften wie auch auf die philosophische A. angewiesen.

1. Der Mensch ist von Gott in Freiheit und zur Freiheit geschaffen

In der jüdisch-christlichen Tradition wird ein mächtiges Wort über den Menschen gesagt: Der Mensch ist von Gott geschaffen; die Schöpfung ist Ausdruck des freien Willens Gottes; das wird in einer bestimmten theologischen Tradition, etwa der franziskanischen Theologie des Mittelalters, so diskutiert, dass Gott die Welt auch anders hätte schaffen können. Die Kontingenz der Welt ist mit der Freiheit Gottes zusammenzudenken. Der jüdische Schöpfungsgedanke, von dem das Christentum zehrt, hält fest, dass der Mensch nach dem Abbild Gottes geschaffen wurde. Es ist bemerkenswert, dass die jüdische Tradition (Judentum), die konsequent ein Bilderverbot formuliert (Ex 20,4: „Du sollst dir kein Gottesbild machen“) diese Rede vom „Abbild“ in Gen 1,16 f. zulässt. Nach dem jüdischen Schöpfungsbericht wurde der Mensch am sechsten Schöpfungstag nach allem anderen (wenn auch nicht als einziges Werk Gottes an diesem Tag) geschaffen; in der Tradition wird der Mensch daher als „Krone der Schöpfung“ bezeichnet. Die im Schöpfungsbericht zu findende Aussage, dass Gott den Menschen als Mann und Frau geschaffen hat, kann auch so gelesen werden, dass die Abbildhaftigkeit das ganze Spektrum des Menschseins tangiert. Aus der Glaubensüberzeugung, dass der Mensch als Abbild Gottes zu verstehen sei, kann die theologisch einflussreichste Begründung der Menschenwürde gefunden werden; damit ist nämlich aufgrund der Unergründlichkeit Gottes auch ausgesagt, dass der Mensch ein unausschöpfbares Mysterium darstellt. Menschenwürde ist Ausdruck der Überzeugung, dass Menschsein nicht bis ins Letzte analysiert und vermessen werden kann. Der Mensch wird damit zu etwas Heiligem; dies trifft auf alle Menschen zu, unabhängig von religiöser Ausrichtung oder äußerem Erscheinungsbild. Aus dem Geschaffensein des Menschen folgt eine bestimmte Form der Identitätszuschreibung: Die Identität des Menschen ist nicht in erster Linie konstruiert oder ausgehandelt oder durch Leistungen und Errungenschaften konstituiert; sondern: Identität ist geschenkt. Identität ist Gabe und Aufgabe zugl. In der Wirkungsgeschichte dieses Gedankens von der Kreatürlichkeit des Menschen zeigt sich ein Ringen um das Verständnis der Position des Menschen im Kosmos, v. a. seine Rolle im Umgang mit der Tierwelt und der Erde.

2. Der Mensch ist durch eigenes Verschulden aus der urspr.en Schöpfungsganzheit gefallen

Der Umstand, dass die Conditio Humana trotz der Vollkommenheit Gottes nicht-ideal ist, wird mythisch durch den Sündenfall beschrieben und theologisch durch die Kategorie Erbschuld (Schuld) ausgedrückt. Damit soll einerseits am Glauben an einen perfekten und gerechten Gott festgehalten werden, andererseits ein Realismus entfaltet sein, der den schwierigen Lebensumständen der Menschen gerecht wird. Urspr. hat Gott die Welt und den Menschen in Ordnung und Harmonie geschaffen und in eine Beziehung der Integrität gesetzt; aus dieser Integrität ist der Mensch durch eigenes Verschulden herausgefallen, was die Realität des Bösen im Leben des Menschen vor Augen führt, gerade auch, weil eine Macht des Bösen bereits im jüdischen Schöpfungsmythos (die Schlange als Versucherin) angenommen wurde. Augustinus hat den theologischen Gedanken der Erbschuld in Auseinandersetzung mit dem Römerbrief (Röm 9,10–13) entfaltet – erst in seiner Schrift „Expositio quarundam propositionum ex epistola ad Romanos“ von 394, dann in seinem Werk „Ad Simplicianum“ von 396. Die Kategorie der Erbsünde ist verbunden mit der Sünde des ersten Menschenpaares, das sich aus Stolz dem Willen Gottes widersetzt hat, weswegen in der frühchristlichen Literatur der Stolz immer wieder als Wurzelsünde angenommen wurde. Diese Sünde als Bruch in der Beziehung zwischen Mensch und Gott hatte eine Veränderung der für alle Menschen geltenden Conditio Humana zur Konsequenz; das bedeutete (Motiv der Vertreibung aus dem Paradies) ein Leben in Mühe (Arbeit) und Sterblichkeit. Der Mensch wird erlösungsbedürftig. Das Konzil von Trient (1545–1563) hat in seinem „Decretum de Peccato Originali“ festgehalten, dass alle Menschen (mit Ausnahme der Gottesmutter) von der Erbsünde betroffen sind. Damit sind zwei anthropologisch gewichtige Aussagen gemacht: Erstens sind alle Menschen erlösungsbedürftig und angewiesen auf die Initiative Gottes, da der Mensch von sich aus die Beziehung zu Gott und seine Beziehung zur göttlichen Ordnung nicht heilen kann; zweitens zeigt sich im bes.n Status Mariens die Heilsmacht Gottes, der einen Menschen aus der Verstrickung des Bösen herauslösen und damit einen neuen Weg zwischen Mensch und Gott erschließen kann. Die unbefleckte Empfängnis (conceptio immaculata) von Maria, der Mutter Jesu – der auf dem Konzil von Ephesus (431) der Titel „Gottesgebärerin“ zugesprochen wurde –, sagt auch in anthropologisch relevanter Weise etwas über die Empfänglichkeit des Menschen auf göttliches Heilshandeln hin aus; dies wird in der katholischen Tradition durch die beiden Mariendogmen von 1854 (Unbefleckte Empfängnis, erklärt durch Pius IX.) und 1950 (Aufnahme Mariens in den Himmel, erklärt durch Pius XII.) noch vertieft.

Durch den mit Maria begonnenen Weg der Menschwerdung Gottes wird die Beziehung zwischen Mensch und Gott zur Ganzheit versöhnt, was freilich das Mysterium des Bösen nicht mindert. Seit dem Erdbeben von Lissabon 1755 stellt sich das Theodiezeeproblem (die Frage nach der Vereinbarkeit von Gottes Macht und Güte einerseits und dem Bösen in der Welt andererseits) auf eindringliche Weise. Es entspricht der christlichen Theologie, davon auszugehen, dass der Mensch zur Freiheit geschaffen wurde und diese Freiheit auch zum Bösen benützen kann.

3. Der Mensch ist charakterisiert durch Innerlichkeit: durch eine von Gott geschaffene, unsterbliche Seele, durch die Stimme des Gewissen in seinem Innersten

In der jüdisch-christlichen Tradition wird der Mensch als Wesen beschrieben, das Tiefe und Innerlichkeit hat. Bereits in den Psalmen findet sich eine Sprache der Innerlichkeit, die tiefe Regungen und Bewegungen im Herzen des Menschen ausmacht. Das Herz als Mitte des Menschen ist das Organ, mit dem der Mensch sein Verhältnis zum Leben und zur Mitte des Lebens bestimmt. Das Innere ist Ort der Daseinsgewissheit und der Lebenssicherheit, es tritt uns in zumindest dreifacher Hinsicht entgegen, nämlich als Organ und Gegenstand, der behütet sein will und der beeinflusst und geformt wird; als Ort, an dem sich Bewegungen und Regungen zeigen, auch im Widerspruch und im Ringen; als Subjekt, das handelt, das auch die innere Anteilnahme an menschlichem Tun und Engagement bestimmt. In den Evangelien können wir eine bestimmte Wende nach innen beobachten, wenn etwa Ehebruch in der Bergpredigt von innerer Einstellung und nicht von äußerer Tat her definiert wird (Mt 5,28). Gott kennt das menschliche Herz (Lk 16,15) und er sieht, wie es in der Bergpredigt im Zusammenhang mit dem Fasten benannt wird, ins Verborgene. Jesus akzentuiert auch nachdrücklich die Bedeutung des Inneren, wenn er darauf hinweist, dass das, was aus dem Inneren kommt, den Menschen verunreinigt: „Nicht das, was durch den Mund in den Menschen hineinkommt, macht ihn unrein, sondern was aus dem Mund des Menschen herauskommt, das macht ihn unrein“ (Mt 15,11). Aus dem Inneren, so erfahren wir in den Erläuterungen für die Jünger, kommen die bösen Gedanken. Hier wird ein Primat des Inneren vor dem Äußeren formuliert, wie er auch die Bergpredigt durchzieht. Diesen Primat der Bewahrung des Inneren deutet die Mahnung an, sich nicht vor denen zu fürchten, die den Leib töten können, aber sonst nichts zu tun vermögen (Lk 12,4). Damit wird die Erforschung des Inneren und der inneren Haltung sowohl für die Selbstbeurteilung wie auch für die Beurteilung anderer Menschen zum Schlüsselaspekt. Jesus wirft konsequenterweise den Schriftgelehrten vor, wie Gräber zu sein, die eine Fassade pflegen, äußerlich gerecht, aber innerlich voll Heuchelei und Ungehorsam sind (Mt 23,27 f.). Eigenschaften des Inneren, wie wir sie in den Psalmen gesehen haben, finden sich auch in den Evangelien, wo wir auf die Bezeichnung eines verstockten Herzens (Mk 3,5) oder auch auf eine betrübte Seele (Mt 26,38) stoßen. Das Herz möge sich nicht „verwirren“ oder „beunruhigen“ lassen und möge nicht „verzagen“ (Joh 14,1.27).

Der geistesgeschichtliche Wendepunkt ist mit den „Confessiones“ des Augustinus erreicht, der über die innere Tiefe des Menschen nachsinnt. Die „Confessiones“ zeigen ein Menschenbild auf, das die Seele in den Mittelpunkt der Rede vom Menschen rückt, Gott als oberstes Ordnungsprinzip der Seele darstellt, dem menschlichen Willen und dem menschlichen Erinnern eine genuine Rolle in der Seele des Menschen zuerkennt und die Selbstsorge zum Prinzip der Lebensgestaltung erhebt. Durch diese bei Augustinus angelegten Strukturen des Selbst entsteht eine Konzeption des Selbst auf der Grundlage von drei Vermögen – „das der desengagierten Vernunft – samt der damit verbundenen Ideale der selbstverantwortlichen Freiheit und Würde –, das der Selbsterkundung und das der Bindung durch persönliche Entscheidung“ (Taylor 1994: 373). Das Gefühl der Innerlichkeit wird konstitutiv für das Verständnis des menschlichen Selbst. „Wir sind Geschöpfe mit innerer Tiefe, mit einem Inneren, das zum Teil unerforscht und dunkel ist“ (Taylor 1994: 207). Augustinus beschreibt das Innere als den Ort, an dem Gott dem Menschen begegnet. Das Innere des Menschen hat eine bestimmte Struktur. Das Innere ist der Sitz distinkter Vermögen, aber auch distinkter Gemütsbewegungen. Augustinus nennt vier elementare Gemütsbewegungen (Begierde, Freude, Furcht und Trauer) und drei elementare Vermögen (Wille, Vernunft und Gedächtnis). Gerade das Gedächtnis wird von Augustinus im zehnten Buch der „Confessiones“ entfaltet. Der Mensch ist das Wesen, das von Innerlichkeit gekennzeichnet ist; diese Innerlichkeit ermöglicht eine bes. Beziehung zu Gott.

Die Bedeutung von Innerlichkeit in der theologischen A. wird auch an einem anderen Zentralbegriff deutlich: dem Begriff des Gewissens. Der Begriff des Gewissens (Gewissen, Gewissensfreiheit) wird mit diesem „Innersten“ des Menschen in Verbindung gebracht. Im Konzilsdokument GS ist die Rede vom Menschen, der „im Innersten“ ein Gesetz entdeckt, das er sich nicht selbst gegeben hat (GS 16). Das Gewissen wurde vom englischen Theologen Joseph Butler im 18. Jh. als „sentiment of the understanding“ bzw. als „perception of the heart“ (Butler 1736: § 1) bestimmt; es wird damit zu einem verstehenden Fühlen oder auch einem Gespür für das Verstehen, einem sensus (moralis), und gleichzeitig zu einer Form der inneren Wahrnehmung vom Kern der Person aus, den man mit Begriffen wie Herz oder Innerstes bestimmt. Dadurch wird der Mensch als Mensch beschrieben.

4. Gott bietet dem Menschen Erlösung an, v. a. und unwiderruflich durch die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, durch Christi Menschsein, Leiden, Sterben und Auferstehung

Gott bietet dem Menschen Erlösung an, v. a. und unwiderruflich durch die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, durch Christi Menschsein, Leiden, Sterben und Auferstehung. Damit sind zwei große Aussagen gemacht, wie sie nach William James von jeder Religion gemacht werden: Die Welt ist nicht in Ordnung; es gibt jedoch einen Weg zum Heil. Die Rede von Erlösung setzt voraus, dass der Mensch fähig ist zur Sünde. Sünde ist eine Kategorie, die das Herausfallen aus einer Beziehungsordnung meint. Der Mensch fällt durch innere Fehlhaltungen aus jenem Ordnungsgefüge heraus, das ein Leben in Harmonie und im Gleichgewicht ermöglicht. In religiösen Traditionen (Tradition) sind dies v. a. die Beziehung zu Gott und die gottgestiftete Ordnung. Die Fähigkeit zur Sünde und die Freiheit sind untrennbar miteinander verbunden.

Die christlich-theologische A. geht davon aus, dass sich Natur des Menschen und Gnade Gottes in einer Weise zueinander verhalten, die das Wesen der jeweiligen Größe nicht aufhebt. Gnade setzt die Natur voraus. Jesus Christus ist ganz Gott und ganz Mensch und eröffnet durch die in seiner Person vollzogene Menschwerdung Gottes einen neuen Weg zum Heil. Dieser Weg kann im gewöhnlichen Leben von allen gefunden werden. Die christliche Theologie geht davon aus, dass durch die Menschwerdung Gottes in Jesus von Nazaret eine neue Würdigung der Conditio Humana gegeben ist, hat Jesus doch den Großteil seines Lebens unauffällig als Handwerker verbracht; gleichzeitig legen Leben und Botschaft Jesu eine Zuwendung zu den bes. verwundbaren Mitgliedern der Gesellschaft nach Mt 25,31–46 nahe. Diese Position ist auch politisch relevant: Der Umgang mit Verwundbarkeit kann als entscheidender Lackmustest für den Status der Menschenwürde in einer Gesellschaft erkannt werden. Auf dieser Grundlage verbindet sich die A. mit der Ethik und versteht den Menschen als Wesen, das zu Liebe und Barmherzigkeit und ethischem Wachstum gerufen ist. Hier finden sich auch Grundlagen für Wertevorstellungen wie Gleichheit und Solidarität, die in dieser Form weder im griechischen noch im römischen Kulturkontext artikuliert wurden.

Erlösung nach diesem Verständnis ist weniger ein Tun als ein Empfangen, weniger eine Errungenschaft als eine Offenheit. Das verlangt die Tugend des Sich-Beschenkenlassens, was den Menschen zu jenem Wesen macht, das zur Dankbarkeit fähig ist.

5. Das Leben des Menschen hat nach dem Heilswillen Gottes das Ziel, zur ewigen Glückseligkeit in Gemeinschaft mit Gott zu führen

Die Existenz des Menschen weist über sich hinaus; der Mensch ist von seiner Natur her auf ein Du ausgerichtet – diese Charakterisierung ist Teil jener Aussagen der theologischen A., die den Menschen als Wesen beschreiben, das von seiner Natur her auf Gemeinschaftsleben ausgerichtet ist, wie es bereits im jüdischen Schöpfungsmythos in Gestalt des ersten Menschenpaares dargestellt wird.

Das menschliche Leben hat ein Ziel; theologische A. geht davon aus, dass der Mensch auf das Transzendente hin offen ist, angelegt ist auf eine Dimension, die das Sichtbare und sinnlich Fassbare wie auch Endliche und Vergängliche übersteigt. Das Leben hat Richtung, Sinn und Tiefe; das höchste Gut (summum bonum) des menschlichen Lebens ist die beglückende Schau Gottes, die Einheit mit Gott, ein Ziel, das allen menschlichen Entscheidungen Kontur verleiht. Dadurch bekommt das menschliche Leben Sinn, weil die Details dieses Lebens Gewicht haben, weil es einen signifikanten Unterschied macht, wie das Leben gelebt wird, zumal ein Zusammenhang zwischen diesem Leben und dem ewigen Leben dereinst angenommen wird. Die theologische A. sieht den Menschen als Bürger zweier Welten, als Bürger der Erde und als Bürger des Himmels; das macht den Menschen auch fähig, mit Symbolen (Symbol) und Sakramenten umzugehen. Edith Stein hat in ihrer theologischen A. den Menschen durch seine Fähigkeit und Berufung, sakramental zu leben, charakterisiert. Ein Sakrament ist ein sichtbares (natürliches) Zeichen einer unsichtbaren (übernatürlichen) Wirklichkeit. Ein religiöser Mensch (und nach theologischer A. sind alle Menschen auf diese religiöse Dimension, die jedoch in aller Freiheit angeeignet wird, angelegt) lebt auf ein göttliches Du hin und sieht die Wirklichkeit sakramental, also als symbolhaft auf Anderes zeigend.

Diese Aussagen zur theologischen A. haben eine politische Relevanz, die systematisch in der katholischen Soziallehre entfaltet wird. Ein zentraler Gedanke ist die Würde des Menschen (Menschenwürde), die den Angelpunkt der katholischen Soziallehre bildet. Damit sind die Verpflichtung auf Solidarität und eine bes. Aufmerksamkeit gegenüber den am meisten verwundbaren und am meisten benachteiligten Mitgliedern der Gesellschaft gegeben. Eine politische Konsequenz der theologischen A. ist die Forderung nach politischen Strukturen, die die transzendente Dimension des Menschen ernst nehmen und die Ausübung von Religion (Religionsfreiheit) ermöglichen.

III. Pädagogisch

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Pädagogische A. ist eine Sammelbezeichnung für Zugänge in der Erziehungswissenschaft, die sich mit impliziten oder expliziten Bildern des Menschen in Erziehung, Bildung und Sozialisation unter Bedingungen von Historizität, Kulturalität und Diversität beschäftigen. Als Theorie und Praxis ist sie historischem Wandel und kultureller Relativität unterworfen. Als Disziplin ist pädagogische A. umstritten. Ihre Systematizität gilt seit der Ausweitung humanwissenschaftlichen Wissens und dem postmodernen „Ende der großen Erzählungen“ als problematisch. Die europäische Bestimmung ist von der anglo-amerikanischen „Anthropology of Education“ zu unterscheiden, die eine ethnologische oder ethnographische Erforschung erzieherischer Praktiken einer fremden Kultur meint. Nach der radikalen A.-Kritik Ende des 20. Jh. treten an die Stelle universalistischer und essentialistischer Menschenbilder Differenz, Kontingenz und Diversität.

1. Die Sonderstellung des Menschen in antiker paideia und christliche Pädagogik

Die strukturelle Verknüpfung A. und Pädagogik findet sich schon in der antiken Philosophie sowie in christlich-abendländischen Menschenbildern. In der griechischen Antike wurden Erziehungs- und Bildungsprozesse an eine Dreiheit von natürlichen Voraussetzungen (physis), Lehre (mathesis) und der Übung (askesis) gebunden. Dieses Ternar wird bei Platon und Aristoteles einer ausdrücklichen Reflexion unterzogen. Bildung bzw. Lernen wird im Rahmen der paideia mit einer bildenden Umwendung (periagoge) bzw. einer Hinführung vom Einzelnen zum Allgemeinen (epagoge) bestimmt. Erziehung und Bildung sind ontologisch und kosmologisch verankert sowie teleologisch auf ein höchstes Ziel ausgerichtet. Paideia hat eine kosmisch-welthafte, eine politische und eine anthropologische Dimension. Sie ist, wie Platon in der „Politeia“ ausführt, Herzstück des Staates. Während für die niedrigen Stände (Stand) eine Erziehung ohne Wissenschaft (episteme) reicht, bleibt die nomothetische Vernunft den höheren Ständen vorbehalten. Nur dem Philosophenherrscher wird Vernunft (logistikon) zugesprochen. Triebhafte Begierde gehört zum Arbeiter, Mut zum Krieger, Vernunft dem Philosophenherrscher. Damit ist ein anthropologisches Schema vorgegeben, das von hierarchisch gestuften Schichten und Vermögen ausgeht. Die Schichten-A. zementiert die Minderwertigkeit der sinnlichen und körperlichen Dimensionen und die höhere Wertigkeit von Geist und Vernunft (Vernunft – Verstand), da diese den sinnlichen Täuschungen entkommen und sich im Erkennen der Wahrheit nähern sollen. Im Mittelalter wird dieses anthropologische Schema übernommen und mit der christlichen Sündenlehre korreliert. In der „Didactica magna“ des aus dem heutigen Tschechien stammenden europäischen Theologen, Philosophen und Pädagogen Johann Amos Comenius werden antike teleologische Ordnungsvorstellungen mit christlichen Heilsgedanken und modernen Aspekten zu Bildung und Erziehung verbunden. Die ständische politische Ordnung der Antike wird mittels der christlichen A. aufgebrochen. Alle Menschen sind unterschiedslos gemeinschaftlich zu erziehen, weil sie in „gleicher Weise Gottes Ebenbild sind“ (Comenius 1992: 53).

Antike und christliche Ordo-Weltbilder verorten den Menschen einerseits als Teil eines Ganzen. Als soziales Tier wird er als zoon politikon bestimmt. Andererseits beansprucht der Mensch darin eine Sonderstellung, insofern er als zoon logon echon (lateinisch: animal rationale), als vernunftbegabtes Tier bzw. als Ebenbild Gottes bestimmt wird. Mit der Sonderstellung des Menschen zwischen Natur und Vernunft bzw. zwischen Gottesnähe und Gottesferne unter dem Zeichen der Endlichkeit und dem schichtenanthropologischen Modell kündigt sich ein Dualismus an, der mit René Descartes’ wirkungsmächtiger Abspaltung des vernünftigen Teils (res cogitans) vom körperlich-welthaften Teil (res extensa) die Reflexion über Menschen bis heute begleiten.

2. Bildung zwischen Natur und Freiheit in Aufklärung und Humanismus

Der antike und christliche Ordo-Gedanke zerbricht mit dem Aufkommen der (Human-)Wissenschaften und der Aufklärung. Der Mensch, auf sich selbst gestellt, gerät in die Ambivalenz von Selbstbestimmung und Selbstverlust.

Für die Pädagogik des 18. und 19. Jh. lassen sich fünf wirkungsmächtige anthropologische Modelle extrapolieren: das perfektionsorientierte (Jean-Jacques Rousseau), das geschichtsphilosophische (Johann Gottfried Herder), das transzendentale (Immanuel Kant), das psychologische (Johann Friedrich Herbart) und das empirisch-spekulative (Wilhelm von Humboldt). Alle sind bestrebt, A. als Grundlage eines bildenden Selbst- und Weltverhältnisses auszuweisen. Sie stoßen dabei auf unterschiedliche Weise auf das „Kardinalproblem der Anthropologie“ (Loch 1980: 198), nämlich einerseits sich gegen den naturhistorischen Determinismus zu positionieren und andererseits einen Begriff von Freiheit zu konzeptionieren, der die faktischen Bedingtheiten von Bildung und Erziehung nicht aus dem Blick rückt. Die Bestimmung des Menschen als Geschöpf der Natur und Kultur und als Schöpfer von Kultur und Geschichte (Geschichte, Geschichtsphilosophie), d. h. zwischen Natur einerseits und Freiheit andererseits soll nicht die Idee der Bildung des Menschen preisgeben, sich als Individuum und Gattung verbessern und vervollkommnen zu können.

J.-J. Rousseaus Bemerkung im Vorwort des zweiten Diskurses „Über die Ungleichheit“ (1755) bringt die Ambivalenz der anthropologischen Forschung auf den Punkt. Die „Kenntnis des Menschen“ sei eine „der interessantesten Fragen“, aber auch eine der „dornenreichsten“, weil „wir uns in gewissem Sinne durch das viele Studieren des Menschen außerstande gesetzt haben, ihn zu erkennen“ (Rousseau 1984: 43). Diese Ambivalenz gilt nicht nur für den Fortschritt der Wissenschaften (Wissenschaft) und der Kultur, sondern auch für die anthropologische Auszeichnung des Menschen. Die Perfektibilität als unbestimmte Lernfähigkeit erlaubt es dem einzelnen Menschen, sich zum Werk seiner selbst zu machen, und der Gattung, sich zu vervollkommnen. Das kann aber im moralisch guten wie im schlechten Sinn erfolgen. Im Konzept der Vervollkommnung nistet sich eine Dialektik ein: Einerseits dem Universalismus von Aufklärung und Humanismus verpflichtet, besteht in seinem Kern die Möglichkeit, sich gegen den Menschen selbst zu richten und ihn in seinen kulturellen, wissenschaftlichen und technischen „Werken“ verschwinden zu lassen. Andererseits aber muss sich der Mensch vervollkommnen, weil er imperfekt ist.

J. G. Herder erhebt in seinem Hauptwerk „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (1784–1793) die Imperfektheit zu einer anthropologischen Konstante und zum Ursprung von Kultur und Zivilisation: Der Mensch als „erster Freigelassener der Schöpfung“ (Herder 1966: 144) ist als instinktreduziertes Wesen im Unterschied zum Tier auf vermehrte Pflege und besonderen Schutz angewiesen. Er muss sich aus Not zur „Verfeinerung und Kultivierung“ Werkzeuggebrauch und Symbole „lernend“ (Herder 1966: 142) aneignen.

Während J. G. Herder Vernunft (Vernunft – Verstand) als etwas „Vernommenes“ (Herder 1966: 142), d. h. naturhistorisch aus der Sinnlichkeit herleitet, wird sie bei I. Kant prinzipientheroetisch, d. h. transzendental bestimmt. Nicht der aufrechte Gang, so I. Kant in der Rezension von J. G. Herders Schrift, habe die Vernunft, sondern umgekehrt, die Vernunft habe den aufrechten Gang ermöglicht. Deshalb ist der „Mensch das einzige Wesen, das erzogen werden muss“ (Kant 1977, Bd. 12: 697), wie es in der Vorlesung „Über Pädagogik“ (1803) heißt. Gerade weil der Mensch imperfekt ist, kann die Vernünftigkeit des Einzelnen und die Vervollkommnung der Gattung möglich werden. Die sich in der Erziehung artikulierende Vernunft erwirkt über Disziplinierung, Kultivierung und Zivilisierung hinaus eine Moralisierung und damit eine Überwindung des Tierischen und Natürlichen im Menschen. Der Mensch wird einerseits bestimmt als natürliches Wesen, das triebhaft und gesellschaftlich determiniert ist, und andererseits als autonomes und freies Subjekt, das sich letztlich nur als Gattung durch Erziehung und in Bildung und Wissenschaft – vergeblich – selbst transzendiert und vervollkommnet. Als das vernünftige Tier ist er in einem doppelten Zirkel eingespannt – sowohl zwischen determinierender Natur und vernünftiger Freiheit als auch zwischen autonomer Individualität (Autonomie) und der Totalität der Gattung. Diese doppelte zirkuläre anthropologische Möglichkeitsbedingung von Erziehung und Bildung führt „in eine subjekttheoretische Aporie“ (Ricken 2012: 334) der Pädagogik, nämlich das Subjekt weder bloß voraussetzen zu können, noch es durch Erziehung „herstellen“ zu können. Sie offenbart darüber hinaus die ethisch-moralische Ambivalenz des Humanismus und der Humanwissenschaften zwischen individualisierendem Relativismus und totalisierenden Universalismus (der Vernunft).

Mit dem Begriff der Bildsamkeit wird die doppelt zirkuläre anthropologische Bedingung von Pädagogik fortgeschrieben. Bildsamkeit wird auf psychologischer Grundlage von J. F. Herbart 1802 theoretisch und disziplinär als „Grundbegriff der Pädagogik“ zwischen „Unbestimmtheit des Kindes“ und „Bestimmbarkeit durch Erziehung“ (Herbart 1997: 186) ausgewiesen. Bildsamkeit kann so bis heute einerseits als „unbestimmte Bestimmtheit des Menschen zur Mitwirkung an der Gesamtpraxis“ und zugleich als „Bestimmtheit zur Selbstbestimmung“ definiert werden (Benner 2015: 74 f.). Das Kant’sche Paradox der Pädagogik: „Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?“ (Kant 1977, Bd. 12: 711) wird genetisch temporalisiert als „in die Zeitdimension aufgelöstes Paradox“ (Luhmann 2003: 59). Die systematischen Schwierigkeiten werden aber nicht gelöst. Diese gelten nicht nur für den Begriff der Bildsamkeit, sondern auch für spätere Begriffe wie Lernfähigkeit, Begabung, Disposition oder neuroplastische Elastizität.

W. von Humboldt hat 1792 in der „Theorie der Bildung“ (Humboldt 1969, Bd. 1: 234–240) ausgehend vom Begriff der Bildsamkeit das wirkungsmächtige Programm einer Bildung als Selbstbildung entworfen. Bildung ist ohne Menschenkenntnis und Menschenerkenntnis nicht möglich. Ziel „einer vergleichenden Anthropologie“ (Humboldt 1969, Bd. 1: 337–375) ist es, die „Eigentümlichkeiten“ der Menschen als Verschiedenheiten zu einem Ganzen zusammenzubringen. Die Betrachtung empirischer Daten auf „spekulative“ Weise hat im Unterschied zur naturhistorischen Betrachtungsweise einen „doppelten Fehler“ zu vermeiden, nämlich einerseits zu „unbestimmt und zu allgemein“ zu bleiben und damit in folgenloser „Speculation“ zu verharren. Andererseits hat sie sich davor zu hüten, einen „zu particulairen Begriff vom Individuum zu bilden“ (Humboldt 1969, Bd. 1: 165). Allerdings: Auf die Frage, wie sich das Allgemeine des Menschlichen aus dem Besonderen bestimmt und wie sich im Besonderen sein Allgemeines findet, darauf gibt W. von Humboldt keine Antwort.

Die moderne A. trägt mit dem humanistischen und aufklärerischen Erbe eine doppelte Ambivalenz mit sich: Die Bestimmung des Menschen zirkuliert zwischen Naturalismus und Rationalismus sowie zwischen Universalismus der Vernunft und Relativismus des Individuellen, ohne dass sie es vermag ihren transzendentalen oder genetischen Ursprung einzuholen und damit das Telos der Vervollkommnung zu legitimieren.

3. Philosophische und pädagogische Anthropologie im 20. Jh.

In der ersten Hälfte des 20 Jh. erlebt die philosophische A. einen Höhepunkt. Struktur und Differenz des Menschen wird als „Stellung des Menschen im Kosmos“ (Scheler 1928), in Form von „Stufen des Organischen und der Mensch“ (Plessner 1928) oder hinsichtlich „Seine(r) Natur und seine(r) Stellung in der Welt“ (Gehlen 1940) über den Mensch-Tier-Vergleich entwickelt. Als „differentia specifica“ werden nun Strukturmerkmale einer Ontologie des Humanen bestimmt. Gesucht wird ein anthropologisches Modell, das den cartesianischen Dualismus von Körper und Geist und damit die falsche Alternative zwischen Naturalismus und Rationalismus bzw. Kognitivismus sowie den kantischen Antagonismus von Natur und Freiheit überwindet.

Insb. mit Helmuth Plessner wird das Produktive und Schöpferische des Menschen, das Friedrich Nietzsche als das „Über-sich-hinaus-sein“ des tätigen und schaffenden Menschen „Jenseits von Gut und Böse“ (Nietzsche 1988, KSA 5) euphorisch begrüßte, strukturell als Exzentrizität fassbar. H. Plessner zeigt die Struktur der Exzentrizität in Form von drei „anthropologischen Grundgesetzen“ auf. Das „Gesetz der natürlichen Künstlichkeit“ und das „Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit“ bestimmen den Menschen als natürlich-künstliche und innerlich-entäußernde Lebensform unter Bedingungen der exzentrischen Positionalität.

Die philosophisch orientierte pädagogische A. hat die Erkenntnisse Max Schelers, Arnold Gehlens und H. Plessners aufgegriffen. Otto Friedrich Bollnow schließt daher eine systematische Funktion der pädagogischen A. aus. A. unter Bedingungen von Weltoffenheit ist vielmehr plurale und offene Selbstanfrage. Werner Loch entwickelt unter Bezug auf H. Plessner und O. F. Bollnow eine A. des Menschen „im Modus des Könnens“ (Loch 1980). Der Ausspruch H. Plessners: „Der Mensch ist das, was er vermag“, wird zu einer offenen Frage, die er praktisch und tätig dadurch beantwortet, indem er sein „spezifisches Können“ ausbildet, sich selbst hervorzubringen (zit. nach Loch 1980: 212), sich zum Werk seiner Selbst zu machen. Diese „Kompetenz“ beinhaltet in zirkulärer Verspannung Fähigkeiten und Fertigkeiten, Können und Nicht-Können. W. Loch bestimmt die Übung als „Grundform menschlichen Lernens“ mit dem Ziel der „Bildung des Menschen durch sein Können“ (Loch 1980: 213 f.). O. F. Bollnow und W. Loch verbleiben in einem subjektorientierten Ansatz, der schließlich die oben aufgeworfenen Probleme naturhaft vorausgesetzter Lernfähigkeit als anthropologisches Grundmoment zurückkehren lässt.

Eugen Fink und Heinrich Rombach gehen einen anderen Weg. Sie bestimmen in kultur-philosophischer und sozial-phänomenologischer Perspektive Grundphänomene bzw. Grundstrukturen menschlichen In-der-Welt-seins. Sie entwickeln eine Sozial-A., die den Menschen zuerst als soziales und transformatives Wesen gegen die traditionelle Subjektmetaphysik bestimmt. Der Mensch, so lautet der von Martin Heidegger übernommene Gedanke, werde bisher v. a. als Seiendes am Modell des Gegenstands und Dings missdeutet. So komme die konstitutive Offenheit und Transformativität menschlicher Sozial- und Selbstverhältnisse nicht in den Blick.

E. Fink beschreibt „Grundphänomene des menschlichen Daseins“ (1995) als kulturelle Praxen: Spiel, Herrschaft, Arbeit, Liebe, Tod, Erziehung. Sie gelten als koexistentielle und leibliche Praxen in Zeit und Raum menschlich-politischer Gesellschaft und als Ausdruck existentieller Sorge. In der Erziehung werden Sorge und Fürsorge, Lernen, Staunen und Fragen sowie Beraten zu koexistentiellen, lebensweltlichen Handlungsfeldern, die produktiv auf die Fragmentarität, Kontingenz und Endlichkeit menschlicher Existenz reagieren und den Bezug zur Welt, dem Anderen und Fremden offenhalten und eröffnen. Weil wir über keine autoritative, letztgültige oder universale Sinndeutung von Welt und Gesellschaft verfügen, ist es Aufgabe insb. der Pädagogik, Sinndeutungen in leiblich und weltlich gebundener Freiheit entwerfend und gemeinschaftlich zu produzieren. Das geschieht ohne Aussicht darauf, eine endgültige Versöhnung der modernen Bruchhaftigkeit und Unübersichtlichkeit zu erlangen.

Diese „relationale A.“ wird unter der Perspektive von Mundanität und Sozialität des menschlichen Existierens für Bildung und Erziehung fruchtbar gemacht. Egon Schütz arbeitet den Fink’schen Ansatz in Verbindung mit M. Heideggers Fundamental-A. als existenzial-kritische A. aus. Die koexistenzialen Grundphänomene Arbeit, Liebe, Spiel, Tod, Herrschaft und Erziehung werden mit den Existenzialien Vernunft (Vernunft – Verstand), Freiheit, Leib, Sprache und Geschichtlichkeit zu einem Raster verbunden, das anthropologische und epistemologische Reduktionen in Theorie und Praxis der Bildung und Erziehung aufzuweisen vermag. Theorie und Empirie der pädagogischen A. gründen auf der Praxis im Erziehen und Bilden bzw. Lernen, das lebensweltlich strukturiert ist und implizit Bilder von sich von anderen und von der Welt mobilisiert. Pädagogische A. als lebensweltliche Praxis liegt zeitlich und systematisch vor ihrer theoretischen und empirischen Erforschung. Sie ist Ausgangspunkt und zugleich Beunruhigung wissenschaftlicher Erkenntnis.

4. Anthropologie als Praxis im anthropologischen Zirkel

In jüngster Zeit werden unter dem Titel Embodiment philosophische, neurowissenschaftliche und anthropologische Diskurse zusammengeführt. Diese können nicht den Differenzierungsgrad leibphänomenologischer Ansätze erreichen, die, von Maurice Merleau-Ponty ausgehend, auch den cartesianischen Dualismus zu überwinden versuchen. Sie wenden sich gegen eine Reduzierung leiblicher Erfahrung in Disziplinierung, Rationalisierung und Technisierung des Leibes. Der leibphänomenologische Ansatz greift genealogische und ästhetische Zugänge auf und wird für die ästhetische Bildung und eine Phänomenologie des Lernens fruchtbar gemacht.

Die historische A. entwickelt aus der Kritik an der vermeintlich übergangenen Historizität und Kulturalität einen transdisziplinären und transkulturellen Ansatz, der die Geschichtlichkeit ihrer Perspektiven und ihres Gegenstandes zum Ausgangspunkt nimmt. Neben theoretischen mehren sich qualitativ-empirische Studien im Bereich der historischen A., wobei sich allerdings ihr Gegenstand in der Diversität der empirischen und theoretischen Zugänge zu verlieren scheint.

A. nach dem „Ende des Menschen“ (Foucault 1974) muss sich nicht auf eine historisch-relativistische Bestandaufnahme und -wahrung zurückziehen. Als kategoriale Reflexion auf das Menschliche in Bildung, Erziehung und Sozialisation kann sich die pädagogische A. nicht mit dem Aufweis der Heterogenität zufrieden geben. Sie kann einerseits auf ihr Erbe produktiv zurückgreifen, indem sie nach Strukturen (H. Rombach) und Grundphänomenen (E. Fink) unter der Voraussetzung von Differenz und Fragmentarität sucht. Sie kann andererseits in einer kritischen Selbstvergewisserung nach Michel Foucaults klarem Aufweis der Zirkelhaftigkeit neuzeitlicher Humanwissenschaft im „anthropologischen Zirkel“ die Humanismus- und A.-Kritik produktiv wenden, ohne hinter sie zurückzufallen. Die Zirkelhaftigkeit ihres Unterfangens ist so weniger Problem einer Nominalwissenschaft, sondern vielmehr Modus praktizierter und unabschließbarer Selbstanfrage auf der Grundlage eines Selbstverhältnisses. A. als Praxis zu fassen bedeutet, den Vollzugscharakter der tätigen Ausdeutung und Ausprägung des Selbstverhältnisses in den Mittelpunkt zu rücken, in dem und mit dem der Mensch sein Leben führt und sich zum Werk seiner selbst macht, sich eine Form gibt – von den ersten kulturellen Artefakten und Riten der Frühzeit bis hin zu den virtuellen Artefakten unserer technischen (Post-)Moderne. Nicht das „Was?“, sondern das „Wie?“ menschlichen Daseins in seiner kulturhaften Sozialität und mundanen Relationalität kommt damit in den Blick kategorialer Reflexion. Das zirkelhafte Unterfangen, sich als Subjekt im Modus wissenden und wissenschaftlichen Zugriff vor sich selbst zu bringen, ist damit als Aufgabe formuliert, sich in lebensweltlichen Strukturen bzw. Phänomenen praktisch lernend und bildend zu vergewissern.