Annexion

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A. bedeutet die regelmäßig, aber nicht notwendig militärisch-gewaltsame, gegen oder jedenfalls ohne den Willen des bisherigen Gebietsherrn erfolgende, effektive Inbesitznahme eines Teils oder der Gesamtheit fremden Staatsgebiets durch einen Staat unter vollständiger Verdrängung der bisherigen Staatsgewalt mit anschließender von einer Aneignungsabsicht getragener Einverleibung dieses Gebiets in das eigene Staatsgebiet. So endete z. B. der zweite Burenkrieg zwischen Großbritannien und den Burenrepubliken Oranje-Freistaat und Transvaal 1899–1902 mit deren Eingliederung in das britische Imperium. Dagegen fehlte es im Fall der vollständigen Niederlage, bedingungslosen Kapitulation und Besetzung des Deutschen Reiches und der Übernahme der Regierungsgewalt in Deutschland durch die vier Siegermächte am Ende des Zweiten Weltkriegs ausweislich der Berliner Erklärung vom 5.6.1945 auf deren Seite am A.s-Willen: „Die Übernahme zu den vorstehend genannten Zwecken der besagten Regierungsgewalt und Befugnisse bewirkt nicht die Annektierung Deutschlands.“

Traditionell galt die A. neben Okkupation, Zession, Ersitzung, Adjudikation und Anschwemmung als Erwerbstitel, der zum Übergang der territorialen Souveränität über das eroberte Staatsgebiet auf den Erobererstaat führte. Das Ende des freien ius ad bellum und die Ächtung des Krieges als Mittel der Politik durch den Briand-Kellogg-Pakt von 1928 leiteten die Wende ein. So reklamierte die nach der militärischen Besetzung der Mandschurei durch Japan entwickelte sog.e Stimson-Doktrin von 1932 bereits eine völkerrechtliche Pflicht zur Nichtanerkennung gewaltsamer Veränderungen des territorialen Status quo, was den Rückschluss auf ein A.s-Verbot nahelegt. Die – allerdings unverbindliche – Resolution der Völkerbundsversammlung vom 11.3.1932 erklärte denn im gleichen Sinne, dass „it is incumbent upon the Members of the League of Nations not to recognize any situation, treaty or agreement which may be brought about by means contrary to the Covenant of the League of Nations or to the Pact of Paris.“ (League of Nations 1932: 8) Die nachfolgende Praxis der Staaten in der Zwischenkriegszeit macht allerdings deutlich, dass sich außerhalb der Beziehung zwischen den amerikanischen Staaten ein allg.es Verbot der A. und ein korrespondierendes Gebot der Nichtanerkennung noch nicht durchzusetzen vermochten; namentlich die Haltung des Völkerbundes erweist sich in der Frage der Anerkennung der Wirksamkeit gewaltsamen Gebietserwerbs als inkonsistent, wie die Reaktionen auf die italienische A. Abessiniens 1936, den „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich 1938 und die „Zerschlagung der Rest-Tschechei“ und die Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren 1939 zeigen.

Erst das durch Art. 2 Nr. 4 UN-Charta etablierte allg.e Gewaltverbot machte der A. als völkerrechtlich anerkanntem Gebietserwerbstitel definitiv ein Ende. Unter Verstoß gegen das A.s-Verbot gewaltsam herbeigeführte Änderungen im Gebietsbestand dürfen von dritten Staaten nicht mehr als rechtmäßig anerkannt werden (siehe dazu auch die Friendly Relations Declaration, GA/Res/2625 [XXV] von 1970, Abschnitt 1 Abs. 10 und die KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975, Fragen der Sicherheit in Europa, Erklärung über die Prinzipien, die die Beziehungen der Teilnehmerstaaten leiten, IV. Territoriale Integrität der Staaten). Dies folgt aus der zwingenden Natur des Gewaltverbots und wird durch die Staatenpraxis (vgl. nur die Reaktion der in der UNO organisierten Staatengemeinschaft auf die A. Kuwaits durch den Irak 1990, Sicherheitsratresolution 660 [1990]) trotz einiger als „Ausreißer“ anzusehender Ausnahmefälle hinreichend bestätigt. Auch die bisherige Reaktion der Staatengemeinschaft auf die A. der Krim durch Russland 2014 (Verhängung von Sanktionen [Sanktion]) bekräftigt die Geltung des A.s-Verbots.

Dieses erfasst auch die verschleierte oder verdeckte A. Eine solche liegt vor, wenn die Inbesitznahme des fremden Staatsgebiets mittels vom annektierenden Staat dabei durch eigene Kräfte maßgeblich unterstützter Freischärler erfolgt (indirekte Aggression) und einer anschließenden Unabhängigkeitserklärung des fraglichen Gebietes in engem zeitlichen Zusammenhang die sogleich beantragte Aufnahme in den Staatsverband des annektierenden Staates folgt (so im Fall der Krim).

Auch wenn sich durch A. erlangte Herrschaft eines Staates über ein Gebiet historisch konsolidiert, bleibt die Ausübung der Gebietshoheit völkerrechtswidrig; die Effektivität der auf dem Gebiet ausgeübten Staatsgewalt vermag die Völkerrechtswidrigkeit, zumal den Verstoß gegen das zwingende Gewaltverbot, nicht zu heilen. Der Restitutionsanspruch des in seiner territorialen Integrität verletzten Staates besteht fort. Eine Ersitzung scheidet auch bei ungestörtem und ununterbrochenem Gebietsbesitz aus, wenn die Herrschaftsausübung durch den annektierenden Staat von den übrigen Staaten bestritten wird und angefochten bleibt. Gleichwohl stellt ein länger andauerndes Auseinanderfallen von territorialer Souveränität des faktisch depossedierten Staates und der beim annektierenden Staat liegenden Gebietshoheit für die Staatengemeinschaft eine Herausforderung dar. Je länger der faktische Zustand anhält, bei dem die territoriale Souveränität zum nudum ius zu werden droht, umso größer wird tendenziell die Bereitschaft der internationalen Staatengemeinschaft werden, diesen Zustand nicht nur stillschweigend hinzunehmen, sondern irgendwann – selbst gegen den Willen des verletzten Staates – auch rechtlich anzuerkennen. In manchen Fällen hat die Staatengemeinschaft aber auch über lange Zeit an der Nichtanerkennung einer A. festgehalten, so im Fall der 1940 von der UdSSR annektierten baltischen Staaten, die nach Erklärung und tatsächlicher Rückgewinnung ihrer eigenstaatlichen Unabhängigkeit 1990/91 deshalb jedenfalls von den westlichen Staaten nicht als anerkennungsbedürftige Neustaaten angesehen worden sind, sondern als ungeachtet der A. 50 Jahre lang de jure fortbestehende, wenn auch handlungsunfähige Staaten, zu denen lediglich die „zwischenzeitlich unterbrochenen“ diplomatischen Beziehungen „wiederaufgenommen“ wurden. Ähnlich verhält es sich mit der 1975 von Indonesien annektierten und verwaltungsmäßig eingegliederten, vormaligen portugiesischen Kolonie Ost-Timor, das 24 Jahre von Indonesien besetzt blieb, dessen Herrschaft über Ost-Timor aber nie internationale Anerkennung fand und nach einem Referendum 1999 und vorübergehender UN-Verwaltung (UNTAET) 2002 mit der Unabhängigkeit Ost-Timors endete.

Eine A. ist auch dann völkerrechtswidrig, wenn die vorangegangene Gewaltanwendung in Selbstverteidigung und somit gemäß Art. 51 UN-Charta völkerrechtgemäß erfolgte (sog.e Gegen-A.). So hat die Staatengemeinschaft die von Israel 1967 erklärte A. Ost-Jerusalems nicht anerkannt, obwohl sie den Sechs-Tage-Krieg überwiegend als rechtmäßig beurteilt hat. Dies lässt sich aber nicht mit dem in diesem Fall nicht verletzten Gewaltverbot, sondern nur mit der begrenzten Reichweite des Selbstverteidigungsrechts, das nur zur Abwehr des Angriffs, aber nicht zur eigenmächtigen Ausdehnung des eigenen Staatsgebietes berechtigt, sowie mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker begründen. Es schließt einen Gebietserwerb gegen den Willen des betroffenen Staatsvolkes auch dann aus, wenn der erwerbswillige Staat die Herrschaft über dieses Gebiet im Wege rechtmäßiger Selbstverteidigungshandlungen erlangt hat.