Amerikanisierung

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A. bezeichnet eine Form des interkulturellen Transfers (Interkulturalität): die Übernahme oder Anverwandlung amerikanischer Spezifika durch andere, meist westeuropäische Gesellschaften. „Interkultureller Transfer“ meint „die Übertragung von Ideen, Gütern, Menschen und Institutionen (Institution) aus einem spezifischen System gesellschaftlicher Verhaltens- und Deutungsmuster in ein anderes“ (Paulmann 1998: 680). Im deutschen Fall bezieht sich der Begriff i. d. R. auf die Zeit nach 1945. Übertragen werden „‚Amerikanismen‘, d. h. Produkte, Institutionen, Normen, Werte, Gebräuche, Verhaltensweisen und Verfahrensformen, aber auch Symbole, ‚icons‘ und Bilder, die vermeintlich oder tatsächlich aus Nordamerika übernommen, auf jeden Fall aber als amerikanisch empfunden werden“ (Gassert 1999: 532). A. bezeichnet dabei einen komplexen Prozess, der sowohl direkte Übernahme als auch selektive Anpassung beinhaltet und i. d. R. bilateral ist, d. h. die Transferbeziehungen verlaufen zwischen zwei voneinander abgrenzbaren Kulturen und nur in eine Richtung. Als Akteure dieser Form des interkulturellen Transfers können staatliche wie gesellschaftliche Kräfte wirken, z. B. Kulturschaffende, Publizisten, Unternehmer, Gewerkschaften und Parteien.

1. Begriffsgeschichte

Der Begriff A., dessen Wurzeln im 19. Jh. liegen, bezieht sich ursprünglich nicht auf amerikanischen Einfluss auf europäische Gesellschaften sondern meint (v. a. im Ersten Weltkrieg) die Assimilation von oder Assimilationsforderung an Immigranten in den USA, also das „amerikanisch Werden“ europäischer Einwanderer. Erst im Lauf der 1920er Jahre erhielt der Begriff dann eine neue Bedeutung. Nun spielten die USA als internationaler Akteur wie als Wirtschaftsmacht eine Rolle in der europäischen Wahrnehmung; amerikanische Kultur und Technik wurden breit diskutiert. Der Begriff der A. – der keinen Prozess der Annäherung, sondern spezifische Eigenarten der amerikanischen Gesellschaft bezeichnete – wurde nun zum Gegenstand scharfer Auseinandersetzungen, auch in Deutschland. Als Chiffre für Moderne und Modernisierung wurde „Amerika“ zum Vorbild oder Schreckbild, in jedem Fall aber zum kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Bezugspunkt bzw. Gegenentwurf europäischer Ordnungsentwürfe. Henry Fords Produktionsmethoden wurden hier ebenso diskutiert wie Geschlechterrollen. Dabei ging es selten um die tatsächlichen Verhältnisse in den USA, sondern um die Entwicklungsmöglichkeiten der eigenen Gesellschaft. Der europäische Amerikadiskurs war zudem oftmals ambivalent, pries technische und unternehmerische Entwicklungen, verteufelte aber die kulturelle Welt der Massendemokratie und des Massenkonsums (Masse) – eine Ambivalenz, die sich auch im Nationalsozialismus findet. Erst nach 1945 wird A. zu einem Prozessbegriff, der sich auf die Übernahme amerikanischer Spezifika in anderen Ländern, insb. in Westdeutschland, bezieht.

2. Amerikanisierung in der Bundesrepublik

Die Hochphase der A. in Deutschland lag in der Besatzungszeit und den frühen 1950er Jahren, als durch die amerikanische Militärpräsenz und die Besatzungspolitik die amerikanischen Einflüsse auf die westdeutsche Gesellschaft – sowohl die intendierten als auch die nicht intendierten – am stärksten waren. Im Zuge des aufkommenden Kalten Krieges wurde die auf Entnazifizierung der deutschen Gesellschaft und Politik gerichtete Politik der „Re-education“ durch jene der „Re-orientation“ ersetzt, die im ideologischen Ost-Konflikt für eine auch ideelle Westbindung der deutschen Gesellschaft werben sollte. Eine regelrechte amerikanische Kulturoffensive („cultural diplomacy“) setzte ein, deren Mittel Amerikahäuser, Hollywoodfilme oder universitäre Austauschprogramme waren. „The American Way of Life“ wurde in den 1950er Jahren zum Synonym für Wohlstand und Massenkonsum, für Jugendkultur und Lässigkeit, für die Freiheit von überkommenen sozialen Zwängen und Hierarchien und allg. für soziale wie kulturelle Modernität. Diese konzeptionelle Verbindung von Amerikabildern und Vorstellungen von Modernität steht in klarer Kontinuität zur Zwischenkriegszeit.

3. Beispiele

Beispiele für A. sind die Übernahme fordistischer und keynesianischer Unternehmens- und Wirtschaftskonzepte (Keynesianismus) durch die deutsche Industrie seit den 1920er Jahren, die westdeutsche Jugendkultur in den 1950er Jahren, insb. die Rolle von Hollywoodfilmen oder des Rock’n’Roll, sowie Elemente der Konsumkultur wie die Einführung des „Supermarkts“ in Westeuropa. Ein weiteres Beispiel ist die A. der Wahlkampftechniken in der Bundesrepublik um 1960, als amerikanische Methoden der Wahlkampfführung von westdeutschen Parteien bewusst übernommen wurden. Sie wurden dabei zwar an die eigenen Gegebenheiten und Bedürfnisse angepasst, aber blieben doch als „amerikanisch“ erkennbar und wurden von Befürwortern wie Kritikern auch so wahrgenommen.

4. Kritik am Konzept der Amerikanisierung

Die Debatte um A. als Konzept reicht bis in die jüngste Zeit. Kritiker des Konzepts haben argumentiert, dass es wenig zur Beschreibung und Erklärung der Entwicklung der Bundesrepublik in der Nachkriegszeit beigetragen habe und dagegen die „Eigenständigkeit deutscher Entwicklungsmodelle“ (Grassert 1999: 547) betont. Andere haben vor einer Simplifizierung im Sinne eines Sender-Empfänger-Modells gewarnt (Gassert 1999: 547). Dennoch hat sich das Konzept insofern bewährt, als es mit seinem transnationalen Ansatz dazu beiträgt, die deutsche Nachkriegsgeschichte in einen europäisch-atlantischen Gesamtzusammenhang einzuordnen.