Abendland

A. ist die neuhochdeutsche Bezeichnung für das lateinische occidens. Urspr. wurde damit der geographische Westen im Gegensatz zu oriens, dem geographischen Osten bezeichnet, genauer gesagt, das „Land im Westen“. Der Begriff A. entstand analog zu Martin Luthers Wortbildung „Morgenland“, mit dem er in seiner Übersetzung des NT von 1522 Mt 2,1 „magis ab oriente“ wiedergab. Erstmals tauchte A. in der Pluralform „Abendlender“ in der Cronica des Straßburgers Caspar Hedio von 1529 auf, der damit die Westgebiete des Römischen Reiches unter Kaiser Honorius nach der Reichsteilung von 395 bezeichnete und explizit auf den Occidens bezog. Im Englischen heißt es weiterhin Occident, im Französischen L’Occident. In beiden Sprachen fehlt dem Begriff jedoch der weltanschauliche Gehalt, den der Begriff A. im Deutschen angenommen hat. Geographisch bezeichnet A., obwohl weithin vage und unscharf gehalten, wahlweise Westeuropa (also das lateinische A. mit Frankreich, der iberischen Halbinsel, den Beneluxstaaten, Italien, Deutschland, der Schweiz, Österreich, Ungarn, Polen, Tschechien, der Slowakei und den britischen Inseln) im Gegensatz zum orthodoxen Europa oder aber Europa als Ganzes im Gegensatz zum Morgenland oder Orient, womit der Nahe und Mittlere Osten (Naher Osten) und der indische Subkontinent, gegebenenfalls auch China und Japan gemeint sein können. Selbst wenn A. wertgebunden aufgefasst wird, werden Nordamerika, Lateinamerika, Australien, Neuseeland und Skandinavien in aller Regel nicht mitgezählt, obwohl A. auch für die Christenheit (Christentum), freilich auf Europa bezogen, stehen kann. Als Gegenbegriff zur Christenheit dienten entweder die byzantinische Orthodoxie oder die morgenländischen Mauren, Sarazenen und Heiden. Mit Blick auf das AT wurde mit A. der Raum bezeichnet, den in der Völkertafel von Gen 10 die Nachkommen des Japhet einnahmen, was gleichfalls auf den europäischen Kontinent verwies. Der vorrangig erdkundlich-beschreibende Charakter von A. wird deutlich, wenn man bedenkt, dass bis ins späte 18. Jh. hinein der singularische Gebrauch von A. als Ausnahme galt. Erst mit der weltanschaulichen Aufladung des Begriffes wurde der Singular A. üblich, während der pluralische Gebrauch fast komplett wegfiel. Wie allerdings die binären religiösen Konnotationen von occidens und oriens beziehungsweise von A. und Morgenland, lateinischer und orthodoxer Christenheit oder Christenheit und Islam bereits andeuten, war selbst der erdkundliche Plural zu keinem Zeitpunkt rein deskriptiv, sondern dachte immer schon bestimmte normative Gehalte mit. Diese Normativität verstärkte sich ausgangs des 18. Jh. in der beginnenden Kontroverse zwischen Spätaufklärung (Aufklärung) und Frühromantik (Politische Romantik). Dabei stand urspr. gar nicht das Konzept A. zur Diskussion, das auch von Aufklärern durchaus verwendet wurde, sondern „Europa“.

1799 gab Novalis in seiner Schrift „Die Christenheit oder Europa“ den Anstoß zu einer Debatte über die Rolle des Mittelalters als konstitutivem Element der europäischen Geschichte. Während Humanismus und Aufklärung im Mittelalter ganz überwiegend ein negativ bestimmtes, obskurantistisches, von religiösem Fanatismus und Rückständigkeit gekennzeichnetes Zwischenzeitalter zu erblicken vermeinten, relativierte Novalis das damit verbundene emphatische Fortschrittsverständnis gerade der Aufklärung (Fortschritt). Er erklärte das katholische Mittelalter und die Reformation zu gleichberechtigten Quellen eines spezifisch europäischen Selbstverständnisses. Während bei Novalis eine dezidiert katholische Zuordnung eines derart aufgefassten Europa noch fehlte, änderte sich dies mit Friedrich Schlegels Philosophie der Geschichte 1828. Im Gefolge der Konversion vieler Spätromantiker zum Katholizismus griff F. Schlegel den Begriff A. auf, um einerseits eine historische Kategorie, einen positiv konnotierten Epochenbegriff (Epoche) zwischen dem Ausgang der Antike und der Französischen Revolution zu konstruieren und andererseits eine wertgeladene Sinnkategorie zu schaffen, die das lateinische, vom Einheitsgedanken des ordo getragene Europa gegen das caesaropapistische Byzanz und den Islam stellte. Dabei wurde A. und Europa im Sinne von West- und Südeuropa synonym verwendet. Indes setzte sich diese stark am Katholizismus ausgerichtete Verwendung von A. in der Mitte des 19. Jh. noch nicht durch. A. blieb auch im protestantischen Lager ein weithin akzeptiertes Konzept, das nunmehr gleichfalls immer stärker normativ benutzt wurde.

Dabei zeichneten sich zwei Hauptverwendungen ab: Johann Gustav Droysen etwa erblickte, ganz in der Tradition der Aufklärung stehend, im A. eine überwundene Epoche, eine intellektuelle und politische Fehlentwicklung. Das A. setzte er dabei wesentlich mit dem europäischen Mittelalter in eins, verknüpfte also die geographische, die historische und die normative Kategorie. Im Mittelalter, so J. G. Droysen in seinem „Grundriß der Historik“ (1868), sei es durch den umfassenden und vermittlungslosen Dualismus von Kirche und Weltlichkeit (Kirche und Welt) zu einer Zerstörung der Sittlichkeit gekommen, die erst durch die Synthese der Reformation mit ihrem Neuaufbruch des nunmehr protestantischen Christentums (Protestantismus) überwunden worden sei: Zu erkennen ist sowohl die systematisch hegelianische Gedankenfärbung als auch die antihistoristische, die Eigengestalt des Mittelalters herabsetzende, liberal-kulturkämpferische zeitgenössische Stimmung (Kulturkampf). Demgegenüber bemühte sich Leopold von Ranke, ganz im Sinne seiner historistischen Prägung gegen die Einseitigkeiten der Aufklärungshistoriographie und trotz seiner engen Verbundenheit mit dem deutschen Protestantismus um eine differenzierte Wertung des Mittelalters. Im Anschluss an F. Schlegel, diesen aber weiterführend, grenzte er das abendländische Mittelalter gegenüber den akuten früh- und hochmittelalterlichen Bedrohungen durch den Islam und das Heidentum (etwa die Sachsen- und Friesenkriege oder Ungarneinfälle) ab. In der „Deutschen Geschichte im Zeitalter der Reformation“ (1839) wurde der kriegerisch-priesterliche Staat, der in der päpstlich-monarchischen Kooperation und Konfrontation seit Karl Martell sich ausgebildet hatte, zu einer der formativen Grundlagen europäisch-abendländischen Selbstbewusstseins. Diese spezifische Konstellation, die zum einen die Einheit der abendländischen Christenheit ermöglichte, die aber zum anderen weder vom Monarchen, sprich: dem lateinischen Kaisertum, noch vom Papst jemals zur Gänze ausgeschöpft und im Sinne ihrer welthistorischen Mission erfüllt werden konnte, legte den Grundstein für den kommenden, neuzeitlichen Nationalstaat, der gegen Papst und Kaiser durchgesetzt wurde. In diesem Prozess der Durchsetzung des nationalen Prinzips kam dann wiederum der Reformation eine entscheidende Bedeutung zu. Aber selbst noch im partikularistischen Prinzip des Nationalstaates (Nation) verwirklichte sich für L. von Ranke das spezifische Moment des Europäischen, das durch den Dreiklang von antikem Erbe, Christentum und romanisch-germanischer Synthese in seiner Einheit bestimmt wurde. Reformation und Aufklärung kam dann die Aufgabe zu, den Nationalstaat durchzusetzen und die geistige Entwicklung Europas fortzuführen. Wie bei J. G. Droysen ist hier noch deutlich eine protestantische Färbung des Konzeptes A. zu erkennen. A. meinte in erster Linie das lateinische, europäische, katholisch gefärbte Mittelalter, allerdings nunmehr positiv, im Rahmen einer moderaten Fortschrittsgeschichte und nicht als Fehlentwicklung charakterisiert und damit in seiner Eigenwertigkeit in den welthistorischen Verlauf eingeordnet, ohne indes zum Wertmaßstab für die Gegenwart zu werden.

Dank der überragenden wissenschaftlichen Autorität L. von Rankes setzte sich die positive Sichtweise des A.es als gemeineuropäischer, einheitstiftender historischer Kategorie in der Wissenschaft in der Linie von Novalis über F. Schlegel bis hin zu L. von Ranke weitgehend durch. Fortan sollte der Dreiklang von Antike, Christentum und germanisch-romanischer Synthese als geistesgeschichtliche Grundlage Europas Schul- und Lehrbücher historistischer Provenienz beherrschen. Umgekehrt hielt sich die negative Konnotation des abendländischen Mittelalters nahezu ungebrochen in der Populärkultur, dem medialen Diskurs und im Volksmund, wenn man etwa an die Rede vom „finsteren Mittelalter“ denkt.

Eine äußerst differenzierte Position nahm dann nach der Wende zum 20. Jh. der kritisch historistische Theologe und Kulturwissenschaftler Ernst Troeltsch ein. In seinen Gesammelten Schriften von 1912 nahm er ausdrücklich Bezug auf L. von Rankes Idee vom einheitstiftenden Charakter der priesterlich-monarchischen Synthese des Mittelalters, wobei er das priesterliche Asketentum, Gedanken Max Webers aufgreifend und fortschreibend, stärker betonte als L. von Ranke dies getan hatte. Anders aber als L. von Ranke und J. G. Droysen billigte E. Troeltsch dem abendländischen Mittelalter eine größere Eigenwertigkeit zu. In seinen Augen war es weder Entartung vom allg.en historischen Prozess noch bloßer, wenngleich notwendiger und wirkmächtiger Vorlauf für die nachreformatorische Entwicklung zum Nationalstaat, sondern eine allgemeinhistorische Möglichkeit des allg.en Bewusstseins, sich auszubilden. Insofern war es einmalig, in sich sinnvoll, aber nicht reproduzierbar und dementsprechend gerade nicht reine Vorgeschichte von etwas Anderem, normativ Höherwertigem. Allerdings verstellte die Interpretation E. Troeltschs den Blick für Kontinuitäten zwischen dem abendländischen Mittelalter und der Neuzeit, speziell der Reformation. Die Reformation wird auf diese Weise zum totalen Bruch, zum reinen Neuanfang. Bis in die Phase unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg handelte es sich bei den Debatten um das A. demnach um einen binnenhistoristischen, eher protestantisch dominierten Diskurs.

Parallel dazu und etwas verdeckt existierte zusätzlich ein spätromantischer, katholischer Diskurs über die normative Wertigkeit des Mittelalters als potentieller Alternative zur Gegenwart von Liberalismus, Freihandelskapitalismus und autoritär protestantischer Herrschaft, der etwa in der ultramontanen Sozialkritik von Pater Heinrich Pesch SJ Niederschlag fand. Dabei wurde indes nur selten auf das A. rekurriert, sondern die Rede vom christlichen Mittelalter bevorzugt. Aufgrund der protestantisch-liberalen Dominanz im wilhelminischen Kaiserreich hatte dieser katholische Diskurs gleichwohl kaum Chancen, breites Gehör zu finden. Mitten in diese inzwischen verfestigten und teilweise unfruchtbar gewordenen Positionierungsdebatten hinein platzte dann 1922 Oswald Spenglers groß angelegte kulturmorphologische Analyse „Der Untergang des Abendlandes“, dank der das A. von nun an zum einen Bestandteil einer zunehmend sprichwörtlichen Wendung wurde, zum anderen aber inhaltlich vollkommen anders aufgeladen wurde als in den bisherigen Auseinandersetzungen. O. Spengler greift die Kritik Friedrich Nietzsches am Historismus aus der zweiten „Unzeitgemäßen Betrachtung“ über „Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ auf, um durch eine an F. Nietzsche und Johann Wolfgang von Goethe ausgerichtete Morphologie einerseits zu einer die Jahrtausende überblickenden Tiefenanalyse der Gesetzmäßigkeiten des historischen Ablaufs zu kommen und andererseits, basierend auf den naturhaften Gesetzen der Weltgeschichte, zu gültigen Prognosen zu gelangen (Geschichte, Geschichtsphilosophie). Aufgrund seiner vitalistischen Prägung tendiert O. Spengler zu einer biologistischen Sicht auf den historischen Prozess. Er unterscheidet acht geschichtliche Epochen, von denen das nunmehr letzte das europäisch-nordamerikanische A. (seit ca. 900 n. Chr.) sei. O. Spengler kommt in seinen die vitalen Abläufe der Epochen vergleichenden Studien zu dem Ergebnis, dass das Ende der momentan letzten Kultur, eben des A.es, und damit der „Untergang des A.es“ sich unumkehrbar abzeichne und im Sinne eines fatalistisch-aristokratischen amor fati hinzunehmen sei. Die Zukunft gehöre der russischen Zivilisation, als neunter welthistorischer Kultur. Sowohl O. Spenglers Pessimismus, der viel mit der Niederlage Preußen-Deutschlands im Ersten Weltkrieg und dem vorhergehenden fin de siècle zu tun hatte, als auch die im Kern antichristliche und antikatholische Deutung des A.-Topos führten zu heftigen Gegenreaktionen. Dabei war, in der politisch-soziokulturellen Konfiguration der Weimarer Republik erstmals seit der späten Romantik der Zeitpunkt gekommen, den katholischen A.-Diskurs stärker in den Vordergrund zu rücken. In den Debatten der 1920er Jahre um O. Spenglers Werk gründete der genuin katholische A.-Diskurs, der dann bis in die 1960er Jahre hinein bestimmend bleiben sollte.

Jedoch gingen die katholischen Debattenbeiträge nicht, wie man es hätte erwarten können, von den bereits etablierten neuscholastischen Theologen und Philosophen aus. Zwar hatte die um 1850 aufkommende neuscholastische Bewegung, darunter der bald federführende Neuthomismus (Thomismus), durchaus von der Mittelaltereuphorie der Spätromantik profitiert, aber der Neuscholastik (Scholastik) ging es, trotz des Rückbezuges auf das mittelalterliche Denken, zuerst um eine systematische Auseinandersetzung mit cartesianischem, kantianischem, hegelianischem, positivistischem und aufgeklärtem Denken, nicht um eine historische oder kulturmorphologische Kategorienbildung oder um eine geistesgeschichtliche Diskussion. Insofern verfügte die Neuscholastik etwa mit Martin Grabmann und andere über historisch arbeitende Philosophen, war aber nicht an eigentlich historischen Debatten interessiert. Daher waren es eher geistesgeschichtlich interessierte Außenseiter, die anfangs in die Kontroverse um O. Spengler eingriffen. Neben Hermann Platz, der 1925 die Zeitschrift „Abendland“ gründete, war es insb. der Konvertit Theodor Haecker, der in der katholischen Kulturzeitschrift „Hochland“ zentrale Beiträge verfasste. Die katholischen Autoren lösten die nordamerikanischen Komponenten, die O. Spengler eingeführt hatte, wieder vom A.-Begriff und ersetzten Europa oft durch die universalistische Idee vom Reich. Auf diese Weise wandelte sich der A.-Begriff von einer historischen Kategorie zur Bezeichnung einer politischen und sozialen Alternative zur Gegenwart. A. und „Reich“ wurden idealtypisch als einheit- und ordnungstiftend aufgefasst, woraus der Dreiklang A., Einheit und Ordnung entstand. Aus der Neuscholastik wurde zusätzlich die thomistische Naturrechtslehre (Naturrecht), aus der Gegenwartsphilosophie der Personalismus rezipiert, die Person also zum Regulativ aller soziopolitischen Ordnung deklariert und in einen dem Mittelalter nachempfundenen ständischen ordo integriert. Dies war durchweg kapitalismusskeptisch (insb. wenn „Kapitalismus“ im Sinne von „Manchesterliberalismus“ verstanden wurde) und beeinflusste die päpstliche Soziallehre v. a. in der Enzyklika „Quadragesimo anno“ (1931). Reformation, Aufklärung und Liberalismus wurden als Missstände wahrgenommen, welche die Einheit des A.es nicht nur bedrohten, sondern bereits gesprengt hatten. Dennoch galt es zu dieser urspr.en Einheit und Ordnung zurückzukehren.

Politisch war der A.-Gedanke sowohl für eine Demokratie wie für den autoritären Ständestaat und klerikofaschistische Regime anschlussfähig, was v. a. an seiner inhaltlichen Unbestimmtheit lag. Ökonomisch war er eher mit einer sozialreformistischen Haltung als mit der Akzeptanz des Kapitalismus vereinbar. „Faschistisch“ aber war die A.-Ideologie des Weimarer Katholizismus ebenso wenig wie der damit verwandte katholische Reichsgedanke (Faschismus). Es ist kein Zufall, dass die Nationalsozialisten (Nationalsozialismus) das Wort A. weitgehend mieden. Zwar griffen sie die Reichsideologie auf, die sie wahlweise rassistisch-gesamteuropäisch oder völkisch-nationalistisch interpretierten. Überdies fand eine eingehende Antikenrezeption statt. Nicht zuletzt Adolf Hitler selbst schwärmte vom klassischen Griechenland und der Größe Roms. Das christliche Mittelalter aber wurde zum germanischen Mittelalter umgedeutet, wodurch das A.-Konzept obsolet wurde.

Aus diesem Grund war es andererseits für die Entwicklung Nachkriegsdeutschlands unmittelbar anschlussfähig, zumindest in den ersten 15–20 Jahren der BRD. Dabei sind zwei divergierende A.-Konzepte innerhalb des katholischen Lagers zu unterscheiden, die indes in ihrem antitotalitären Antikommunismus und Antimaterialismus übereinstimmten: Erstens die pragmatisch-politische Variante, die unter Verzicht auf die Reichsideologie und den scharfen Antikapitalismus der Weimarer Zeit durchaus mit der Idee des liberalen Westens oder der westeuropäischen bzw. paneuropäischen Einigungsbewegung kompatibel war, wobei man sich gerne auf das lotharingische oder karolingische Europa des frühen Mittelalters als Vorbild für die gegenwärtigen europäischen Bewegungen berief. In der Programmatik von CDU und CSU, aber auch bei vielen jesuitischen Theologen der 1950er Jahre war diese Variante weit verbreitet. Die zweite, in den Zeitschriften „Neues Abendland“ und „Neue Ordnung“, in der „Abendländischen Aktion“ und bei einigen thomistischen Theologen des Dominikanerordens anzutreffende Variante, war traditioneller und antiliberal. Sie betonte den Einheits- und Ordnungsgedanken und erblickte im A. eine Art antimaterialistischer Kampfgemeinschaft. Nicht selten war sie zudem für eine positive Sicht wahlweise der beiden iberischen Diktaturen (Diktatur) Francisco Francos und António de Oliveira Salazars, der Habsburger Monarchie oder des christlichen Ständestaates in Österreich offen, ohne indes explizit antidemokratisch zu werden. Gleichzeitig hielten insb. die Dominikaner an der ultramontanen Kapitalismuskritik fest. Diese zweite Variante war wichtig für die Eingliederung des konservativen Katholizismus in die Ordnung der frühen Bundesrepublik, verlor aber mit dem soziokulturellen Wandel seit den späten 1950er Jahren rasch an Einfluss, während sich die erste Variante nach der Atlantiker-Gaullistenkontroverse mehr und mehr an der liberalen Idee des Westens ausrichtete und nur noch gelegentlich den Terminus A. verwandte. Bestenfalls in der Paneuropa-Union um Otto von Habsburg blieb die Rede vom A. nach 1970 relevant.

Bereits in den 1950er Jahren war von Friedrich Heer und Thomas Ellwein Kritik an den Einseitigkeiten der A.-Ideologie, insb. an ihrem vorgeblich antidemokratischen Charakter, geübt worden. Mit dem Zerfall des katholischen Milieus in der Bundesrepublik seit den 1960er Jahren fehlte die soziale Basis für eine Reaktivierung des A.-Gedankens. Da obendrein der Katholizismus auch den historistischen A.-Diskurs überlagert hatte, sieht man von den vielfach diskutieren welthistorischen Betrachtungen Arnold Toynbees und Christopher Dawsons in den 1950er und 1960er Jahren ab, und O. Spengler aufgrund seiner zeitbedingten Radikalität und seiner unübersehbaren methodischen Mängel nur von randständigen, sich konservativ-revolutionär gebenden Gruppen rezipiert wurde, kam der Gebrauch des Begriffs während der sozial-liberalen Koalition der 1970er Jahre gesamtgesellschaftlich und medial, von überwiegend ironischen Zitaten des „Untergangs des Abendlandes“ abgesehen, vollkommen außer Gebrauch. Auch die „geistig-moralische Wende“ der christlich-liberalen Regierungen unter Helmut Kohl führte zu keiner Neuaufnahme der A.-Rhetorik. Stattdessen benutzte man wahlweise „Europa oder das liberaldemokratisch konnotierte Konzept des „Westens“. In der Literatur blieb A. auf Reminiszenzen auf die Habsburger-Monarchie beschränkt (z. B. Michael Köhlmeier). Als historische Kategorie wurde A. je nach politisch-weltanschaulichem Standpunkt der Autoren durch „Mittelalter und Frühneuzeit“, „Feudalzeitalter“ oder „Alteuropa“ abgelöst. Umso erstaunlicher war es, dass im Oktober 2014 rechtskonservative, xenophobe und rechtsextreme Gruppierungen in Dresden sich gleichsam aus dem Nichts den Namen „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (PEGIDA) zulegten. Weder inhaltlich noch sozial-strukturell griffen sie dabei auf den A.-Gedanken der historistischen, romantischen oder katholischen Tradition zurück, was neuerlich die Vagheit des Konzeptes belegt.