Österreichische Volkspartei (ÖVP): Unterschied zwischen den Versionen
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Aktuelle Version vom 14. November 2022, 05:58 Uhr
Die ÖVP wurde 1945 in Wien als bürgerliche Sammelbewegung gegründet. Von ihrer Vorgängerin, der Christlich-Sozialen Partei, grenzte sie sich durch ein klares Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie und zur österreichischen Nation ab. Als bürgerliche Sammelbewegung entspr. die ÖVP dem Typus einer sozialen Integrationspartei, die unterschiedliche Berufsgruppen und ideologische Strömungen (das katholische christlich-soziale Milieu, konservative Werthaltungen wie marktwirtschaftlich orientierte, gesellschaftlich liberale Kräfte) vereint.
1. Programmatische Entwicklung
War die Programmatik der ÖVP in den ersten Nachkriegsjahren stark durch den Gedanken der christlichen Sozialreform geprägt, änderte sich das programmatische Profil der ÖVP Anfang der 1950er Jahre in Richtung marktwirtschaftlicher Positionen, die sich am ordnungspolitischen Modell der Sozialen Marktwirtschaft orientierten. Mit dem 1972 verabschiedeten „Salzburger Programm“ versuchte sich die ÖVP als „Partei der fortschrittlichen Mitte“ zu positionieren und neben traditionellen marktwirtschaftlichen Positionen auch neue gesellschaftliche Situationen und ökologische Problemfelder in ihr Politikverständnis zu integrieren. Das 1995 verabschiedete „Wiener Programm“ enthielt neben wertkonservativen Positionen eine starke ökosoziale Komponente (nachhaltiges Wirtschaften). Im aktuellen „Grundsatzprogramm 2015 der Österreichischen Volkspartei“ definiert sich die ÖVP als moderne christdemokratisch geprägte Volkspartei mit christlich-sozialen, konservativen und liberalen Wurzeln. Sie beschreibt sich als Partei der politischen und gesellschaftlichen Mitte, in der das unternehmerische Denken und Handeln zentralen Stellenwert einnimmt und für die die Ökosoziale Marktwirtschaft eine zukunftsfähige Wirtschafts- und Sozialordnung darstellt.
2. Die ÖVP in Koalition und Opposition
Die ÖVP stellte seit 1945 in 13 von 28 Bundesregierungen den Bundeskanzler. Mit Ausnahme der von Leopold Figl geführten Proporzregierung 1945–1947 regierten ÖVP-Kanzler wie Julius Raab und Alfred Gorbach bis 1966 in großkoalitionären ÖVP+SPÖ-Regierungen. Bei der Nationalratswahl 1966 erreichte die ÖVP unter Josef Klaus mit 48,3 % die absolute Mehrheit der Parlamentssitze und bildete bis 1970 eine Alleinregierung. Bei der Nationalratswahl 1970 überholte die SPÖ unter Bruno Kreisky sie und übernahm die Kanzlerposition. Für die ÖVP begann eine 16-jährige Oppositionsphase, die sie mit erheblichen personellen, strukturellen und programmatischen Adaptionsproblemen konfrontierte. Auf J. Klaus folgte Josef Withalm, der nach einer Wahlniederlage 1971 zurücktrat und den Parteivorsitz an Josef Schleinzer übergab, der wenige Monate vor der Nationalratswahl 1975 bei einem Verkehrsunfall starb. Sein Nachfolger Josef Taus scheiterte bei den Wahlen 1975 und 1979 und trat als Parteiobmann zurück. 1979 übernahm Alois Mock den Parteivorsitz, den er bis 1989 innehaben sollte. 1986 verfehlte die ÖVP knapp die Rückeroberung der Kanzlerschaft, einigte sich aber mit der SPÖ auf die Bildung einer Großen Koalition, die bis 1999 regieren sollte.
1999 wurde die ÖVP von der FPÖ unter Jörg Haider auf den drittstärksten Platz verwiesen. J. Haider bot Wolfgang Schüssel (seit 1995 ÖVP-Parteiobmann und Vizekanzler) die Position des Bundeskanzlers in einer schwarz-blauen Koalitionsregierung an.
Bei der vorgezogenen Nationalratswahl 2002 errang die ÖVP mit W. Schüssel mit 42,3 % der Stimmen einen Erdrutschsieg. Sie setzte die Koalition mit einer substanziell geschwächten FPÖ bis zur Nationalratswahl 2006 fort. Bei dieser Wahl überholte die SPÖ die ÖVP, die als nunmehr zweitstärkste Partei eine Koalition mit der SPÖ einging. In den folgenden zehn Jahren hatte die ÖVP vier Parteiobmänner, die ihre Funktion nach durchschnittlich zweieinhalbjähriger Amtsdauer zurücklegten bzw. parteiintern zum Rücktritt gezwungen wurden. Nach dem Rücktritt von Parteiobmann Reinhold Mitterlehner im Mai 2017 erklärte sein designierter Nachfolger – der 31-jährige Außenminister Sebastian Kurz – das definitive Scheitern der SPÖ+ÖVP-Koalition. In den vorverlegten Nationalratswahlen am 15.10.2017 gewann die ÖVP als Liste Sebastian Kurz – die neue Volkspartei 7,5 % hinzu und wurde mit 31,5 % stärkste Partei, die erneut eine Koalition mit der FPÖ einging.
3. Parteiorganisation
Die ÖVP ist strukturell und organisatorisch territorial und funktional gegliedert. Territorial folgt sie den staatlichen Gliederungsebenen Bund, Länder, Bezirke und Gemeinden; funktionell weist sie eine bündische Struktur auf. Die einflussreichsten Bünde sind der Österreichische Bauernbund, der Österreichische Wirtschaftsbund und der Österreichische Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerbund. Dazu kommen drei weitere Teilorganisationen: die Österreichische Frauenbewegung, die Junge ÖVP und der Österreichische Seniorenbund. Die ÖVP ist eine mittelbare (indirekte) Partei, d. h. Mitgliedschaft wird hauptsächlich durch den Beitritt zu einer der Teilorganisationen erworben. Mangels einer zentralen Mitgliederevidenz ist die offizielle Zahl von rund 500 000 eingetragenen Parteimitgliedern nur als grobe Schätzung zu interpretieren.
Die komplexe Organisationsstruktur führte seit der Gründung zu parteiinternen Reibungsverlusten, internen Blockaden und begünstigt parteiinterne Veto-Spieler zu Lasten des strategischen Handlungsspielraums der Bundesparteiführung, die vielfach zwischen den Interessen einflussstarker Landesparteiorganisationen und sektoraler bündischer Interessen aufgerieben wurde. Mit der Bestellung von S. Kurz zum Parteiobmann beim Parteitag am 1.7.2017 vollzog die ÖVP nicht nur einen spektakulären Generationswechsel an ihrer Spitze, sondern räumt nunmehr dem Parteiobmann auch statutarisch verankerte überaus weitreichende innerparteiliche Macht- und Entscheidungsbefugnisse ein, die von der inhaltlichen Positionierung der Partei über die personelle Mitbestimmung bei der Erstellung bundesweiter Kandidatenlisten bis zur freien Hand bei der Wahl von Koalitionspartnern (Koalition) für allfällige Regierungsbildungen reichen.
4. Die ÖVP in der Wählerschaft
Ihre stärksten Wähleranteile findet die ÖVP traditionell unter regelmäßigen katholischen Kirchgängern. Bei der Nationalratswahl 1990 kam noch jede zweite ÖVP-Stimme aus dem katholischen Kernsegment. Gesellschaftlicher Wandel und Rückgang kirchlicher Bindungen schwächten aber die wahlpolitische Relevanz dieses ÖVP-Kernsegments. 2017 stammte nur mehr jede dritte ÖVP-Stimme aus diesem Segment. Überdurchschnittliche Stimmenanteile findet die ÖVP traditionell unter Landwirten, Bewohnern ländlicher Kleingemeinden sowie Unternehmern, Gewerbetreibenden, Angehörigen der freien Berufe, Bundesbediensteten und der stetig wachsenden Zahl von Pensionsbeziehern. Rund ein Drittel der ÖVP-Wähler sind loyale Stammwähler, die ihrer Partei auch gefühlsmäßig verbunden sind. 25 % ihrer Wähler stehen der ÖVP zwar nahe, müssen aber vor jeder Wahl in ihrer Haltung bestärkt werden. 40 % zählen hingegen mittlerweile zur mobilen, potenziell wechselbereiten Wählergruppe und entscheiden vor jeder Wahl neu, wem sie ihre Stimme geben werden.
Literatur
W. C. Müller: Die Österreichische Volkkspartei, in: H. Dachs u. a. (Hg.): Politik in Österreich. Das Hdb., 2006, 341–363 • G. Stifter: Die ÖVP in der Ära Kreisky 1970–1983, 2006 • R. Kriechbaumer/F. Schausberger (Hg.): Volkspartei – Anspruch und Realität. Zur Geschichte der ÖVP seit 1945, 1995 • W. C. Müller/F. Plasser/P. A.Ulram: Wähler und Mitglieder der ÖVP, 1945–1994, in: ebd., 163–200 • R. Kriechbaumer: Parteiprogramme im Widerstreit der Interessen. Die Programmdiskussionen und die Programme von SPÖ und ÖVP 1945–1986, 1990 • L. Reichhold: Geschichte der ÖVP, 1975.
Empfohlene Zitierweise
F. Plasser: Österreichische Volkspartei (ÖVP), Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/%C3%96sterreichische_Volkspartei_(%C3%96VP) (abgerufen: 01.11.2024)