Nachrichtendienste: Unterschied zwischen den Versionen

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A. Daun: Nachrichtendienste, Version 14.08.2021, 13:00 Uhr, in: Staatslexikon<sup>8</sup> online, URL: {{fullurl:Nachrichtendienste}} (abgerufen: {{CURRENTDAY2}}.{{CURRENTMONTH}}.{{CURRENTYEAR}})
 
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Version vom 15. August 2021, 11:51 Uhr

N. sind ein Werkzeug staatlicher Sicherheitspolitik. Sie stellen Regierungen Informationen und Analysen zu (sicherheits-)relevanten Vorgängen, Organisationen und Individuen zur Verfügung. Idealtypisch dienen sie der Vorbereitung von Regierungsentscheidungen. N. sollen ihren Auftraggebern einen Wissensvorsprung verschaffen und zu diesem Zweck auch Informationen sammeln, die von Konkurrenten und Gegnern absichtlich geheim gehalten werden. Die Bezeichnung „Geheimdienste“ wird in Deutschland aus historischen Gründen (Gestapo, Stasi) offiziell kaum verwendet.

1. Informationsgewinnung

Zur Gewinnung von Erkenntnissen (Aufklärung) bedienen sich N. verschiedener Quellen und Methoden. Größte Bedeutung hat heute die technische Aufklärung (Signals Intelligence), d. h. die Informationsgewinnung aus der Überwachung elektronischer Verkehre z. B. auf Satelliten- und Kabelkanälen, aber auch aus dem Eindringen in Rechnersysteme und der Auswertung der Bilddaten von Aufklärungssatelliten. Nach wie vor werden nachrichtendienstliche Erkenntnisse aber auch über die menschliche Wahrnehmung und Kommunikation (Spionage, Observation, Befragungswesen) gewonnen (Human Intelligence). Typische Informationsträger von Auslands-N.n sind z. B. Asylsuchende, Kriegsgefangene, Überläufer oder gezielt in gegnerischen Organisationen platzierte „Maulwürfe“. Aber auch Personengruppen aus der „Mitte der Gesellschaft“, z. B. Geschäftsreisende, Wissenschaftler und Journalisten können u. U. zu nachrichtendienstlich relevanten Quellen werden. Für eine wissentliche Zusammenarbeit mit N.n können materielle, politische oder persönlich-emotionale Anreize ausschlaggebend sein. Bezugspunkt für die Informationsgewinnung im Ausland sind i. d. R. die Botschaften eines Landes. N. nutzen zudem intensiv offen zugängliche Quellen, v. a. im Internet (Open Source Intelligence).

2. Nachrichtendienstliche Analyse

Die aus den verschiedenen Quellen stammenden Informationen müssen selektiert, ggf. entschlüsselt, übersetzt und vor dem Hintergrund vorgehaltenen Wissens verifiziert und interpretiert werden. Angesichts der riesigen Datenmengen (Big Data), die heute von den N.n v. a. großer Staaten mit technischen Mitteln gesammelt werden, ist die Verarbeitung und Auswertung der Daten ein Schlüsselproblem. Entscheidend ist, die relevanten Informationen zeitnah aus den Datenmengen herauszufiltern, um auf diese Weise „vor die Ereignisse zu kommen“. In die Entwicklung von Analysesoftware und Kryptotechnologie wird daher stark investiert. Die Qualität nachrichtendienstlicher Auswertung ist jedoch auch davon abhängig, wie gut die kognitiven Fähigkeiten von Mitarbeitern (Wahrnehmung, Wissensstand, Analyse, Bewertung) im Rahmen bestehender Organisationsprozesse genutzt werden.

3. Weitere Aufgabenfelder von Nachrichtendiensten

Umgekehrt zur Aufklärung obliegt den N.n auch die Spionageabwehr, mit deren Hilfe sensible Informationen vor konkurrierenden Staaten (oder anderen Organisationen) geschützt werden sollen. Maßnahmen der Spionageabwehr umfassen organisatorische Vorkehrungen und Kontrollen, die Identifizierung von „Lecks“, die Enttarnung von Maulwürfen und Spionagenetzwerken und ggf. die Aufklärung gegnerischer N. (Gegenspionage). Spionageabwehr kann offensiv dazu genutzt werden, enttarnte Spione zu Doppelagenten zu „drehen“ bzw. gezielt mit falschen Informationen zu „füttern“ (Desinformation). Ein bes.s Feld der Spionageabwehr ist die Cybersicherheit, d. h. der Schutz sensibler elektronisch gespeicherter Informationen, aber auch der Rechnersysteme selbst vor Störversuchen.

Auslandsgeheimdienste werden u. U. auch für exekutive Aufgaben (Covert Action) genutzt. Insb. Großmächte versuchen auf unterschiedlichste Arten, die politischen, ökonomischen oder militärischen Verhältnisse in anderen Staaten zu beeinflussen, ohne selbst als Handelnde in Erscheinung zu treten. Hierunter fallen u. a. Propagandamaßnahmen, Cyberangriffe, die Unterstützung von oppositionellen Gruppen oder gezielte, gegen einzelne Personen gerichtete Maßnahmen. Andererseits können N. von ihren Regierungen auch zu Geheimverhandlungen genutzt werden, etwa im Fall von Geiselnahmen oder zur Deeskalation von Konflikten mit politischen Gegnern.

4. Historische Entwicklung von Nachrichtendiensten

Späher, Kundschafter und Informanten sind für die antiken Reiche, Stadtstaaten und modernen Nationalstaaten gleichermaßen historisch belegt. Die Theoriebildung zur Spionage geht bis ins 5. Jh. v. Chr. (Sun Tsu) zurück. Im europäischen Staatensystem entstanden N. im Schatten von Diplomatie und Militärwesen, vorangetrieben von den großen Erfindungen des 19. Jh. (Eisenbahn, Funktechnik, Telegrafie etc.). Die Etablierung von N.n als beständige, arbeitsteilig angelegte Organisationen erfolgte erst im 20. Jh. Großbritannien entwickelte schon zu Beginn des 20. Jh. funktional ausdifferenzierte N. In den USA wurden der Auslandsgeheimdienst CIA 1947 und der technische Geheimdienst NSA 1952 dauerhaft etabliert. Heute besteht die sog.e US Intelligence Community offiziell aus 17 N.n mit einem Gesamtbudget von ca. 70–80 Mrd. US-Dollar p. a.

In Deutschland gründeten die USA 1946 die Organisation Gehlen aus dem Personal einer nachrichtendienstlichen Abteilung der Wehrmacht (Fremde Heere Ost). Die Organisation Gehlen wurde 1956 der Bundesrepublik als BND unterstellt. Zur Beobachtung extremistischer Bestrebungen im Inland wurde 1950 auf Initiative (und bis 1955 unter Aufsicht) der Westalliierten der deutsche Verfassungsschutz gegründet.

Eine neuere Entwicklung bei den westlichen N.n ist die Schaffung von Kommunikationsstrukturen zwischen Inlands- und Auslands-N.n sowie zwischen N.n und anderen Sicherheitsbehörden (Polizei, Zollbehörden u. a.). Seit dem Attentat 9/11 wurden vermehrt „Gemeinsame Zentren“ eingerichtet, in denen sich Vertreter unterschiedlicher Sicherheitsbehörden über transnationale Gefahren wie z. B. Terrorismus (in Deutschland das GTAZ) und Cyberbedrohungen (in Deutschland das Cyber-AZ) austauschen. Auch die Unterscheidung zwischen zivilen und militärischen Bedrohungen ist angesichts der vielfältigen Möglichkeiten politischer Einflussnahme insb. über das Internet unter Druck geraten. Sog.e hybride (unterhalb der Schwelle des Krieges verortete) Bedrohungen sind z. T. auf Geheimdienste zurückzuführen.

5. Die deutschen Nachrichtendienste

Mit dem BND, dem Verfassungsschutz (BfV, Landesämter für Verfassungsschutz) und dem BAMAD gibt es in Deutschland drei gesetzlich definierte N. Der Verfassungsschutz (Inlandsnachrichtendienst) beobachtet Organisationen, die sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten bzw. die Sicherheit im Inland gefährden. Gleichzeitig ist der Verfassungsschutz für Spionageabwehr im Inland zuständig. Da innere Sicherheit in Deutschland föderal organisiert ist, liegt die primäre Zuständigkeit bei den 16 Landesämtern für Verfassungsschutz. Das BfV koordiniert die Landesämter und die Zusammenarbeit mit den internationalen Partnern. In der auf den NSU-Skandal folgenden Verfassungsschutzreform von 2015 wurden die Kompetenzen des BfV gegenüber den Landesämtern auch in der operativen Aufklärung gestärkt.

Laut BVerfSchG darf der Verfassungsschutz „Methoden, Gegenstände und Instrumente zur heimlichen Informationsbeschaffung“ (§ 8 Abs. 2), wie z. B. Vertrauensleute, Gewährspersonen, Observationen, Bild- und Tonaufzeichnungen, Tarnpapiere, Tarnkennzeichen nutzen, bei Banken, Post-, Luftfahrt- und Telekommunikationsunternehmen Informationen einholen und auf diverse, vom Bund geführte Datenbanken (z. B. Ausländerzentralregister, Asyldaten, Fahrzeugregister) zugreifen. Diese Mittel sind erlaubt, wenn tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht auf verfassungs- oder sicherheitsgefährdende Aktivitäten vorliegen.

Der BND klärt militärische, politische, ökonomische und wissenschaftlich-technologische Fragestellungen im Ausland auf. Dazu setzt er sowohl Menschen als auch technische Mittel ein. Er unterhält in einer Vielzahl von Ländern Außenstellen (sog.e Residenturen), die i. d. R. (aber nicht immer) an die deutschen Botschaften angegliedert sind. Zudem betreibt er, auch in Kooperation mit internationalen Partnern, technische Anlagen zur Erfassung von Signalen aus dem Ausland. Im Jahr 2017 verfügte der BND über ca. 6 500 Mitarbeiter und ein Budget von ca. 830 Mio. Euro. Als Konsequenz aus dem NSA-Untersuchungsausschuss wurden die Aufgaben des deutschen Auslands-N.s in einer Novellierung des BND-Gesetzes 2016 deutlicher als zuvor gesetzlich definiert.

Die militärische Aufklärung des BND wird ergänzt durch das Kommando Strategische Aufklärung der Bundeswehr. Dieses ist auf technische Signal- und Bildaufklärung spezialisiert und betreibt u. a. den Aufklärungssatelliten SAR-Lupe. Das BAMAD übernimmt für die Bundeswehr die Funktion der Extremismus- und Spionageabwehr.

6. Steuerung und Koordination der deutschen Nachrichtendienste

Die deutschen Dienste werden von den zuständigen Ressorts gesteuert und kontrolliert: Das BfV aus dem Bundesinnenministerium, die Landesämter für Verfassungsschutz aus den Innenministerien der Länder und das BAMAD aus dem Verteidigungsministerium. Der BND ist dem Bundeskanzleramt direkt unterstellt. Seine längerfristigen Aufklärungsziele erhält der BND über ein geheimes „Auftragsprofil“, das regelmäßig zwischen Bundeskanzleramt und den Ministerien für Verteidigung, Äußeres, Inneres und Wirtschaft abgestimmt wird. Da der BND auch militärischer Nachrichtendienst ist, gehören zu seinen wichtigen Aufklärungszielen auch die Einsatzgebiete der Bundeswehr. Oberhalb der Ressorts wird die Arbeit der Dienste vom stellvertretenden Kanzleramtsminister („ND-Koordinator“) koordiniert.

7. Parlamentarische Kontrolle der deutschen Nachrichtendienste

Neben der administrativen Kontrolle werden N. westlicher Staaten i. d. R. von parlamentarischen Ausschüssen kontrolliert. In Deutschland gibt es inzwischen vier zuständige Gremien:

a) Die budgetäre Kontrolle der Dienste liegt beim Vertrauensgremium, einem Unterausschuss des Haushaltsausschusses.

b) Der G 10-Kommission werden Ausnahmen vom Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG) zur Genehmigung und Kontrolle vorgelegt.

c) Das Parlamentarische Kontrollgremium (PKGr) verfügt über bestimmte Einsichtsrechte und wird regelmäßig über die Tätigkeiten der N. informiert. Seit 2017 wird es von einem Ständigen Bevollmächtigten unterstützt.

d) Seit 2017 verfügt zudem ein dreiköpfiges Gremium beim BGH über gewisse Kontrollbefugnisse zur strategischen Auslandsaufklärung des BND.

Für die Aufarbeitung von Missständen und öffentlichen Skandalen werden in westlichen Demokratien ggf. parlamentarische Untersuchungsausschüsse eingesetzt; in Deutschland zuletzt der BND-Untersuchungsausschuss (2006–09), der NSU-Untersuchungsausschuss (2012–17) und der NSA-Untersuchungsausschuss (2014–17).

8. Internationale Kooperation von Nachrichtendiensten

Die internationale Kooperation von N.n ist weitgehend interessenbasiert. Sie funktioniert i. d. R. als ein Tauschgeschäft, bei dem Informationen, Analysen, Technologien und Zugänge zu Kommunikationsinfrastrukturen miteinander verhandelt werden. Der Austausch von Informationen ist eine sehr häufige Art der Kooperation. Der BND bezieht z. B. einen Großteil seines Informationsaufkommens von internationalen Partnern. Zu gemeinsamen Operationen kommt es hingegen selten, weil die Dienste ihre Quellen und Methoden auch vor den Kooperationspartnern schützen wollen. Die internationale Geheimdienstkooperation ist streng geheim. Sie basiert auf der kategorischen Regel, Informationen eines Partnerdienstes ohne dessen ausdrückliche Erlaubnis nicht an Dritte weiterzugeben (Third Party-Rule). Im Zuge der „Snowden-Enthüllungen“ gelangten umfangreiche Informationen über die internationale Zusammenarbeit zwischen N.n an die Öffentlichkeit.