Zivilökonomie

Von Z. wird teilweise in Anlehnung an den weiter verbreiteten Begriff der Zivilgesellschaft gesprochen. Darin drückt sich die Absicht aus, auch den Bereich des Wirtschaftens nach zivilgesellschaftlichen Prinzipien (Partizipation, Deliberation, Selbstregulation etc.) zu transformieren.

In seiner spezielleren Bedeutung verweist der Begriff der Z. auf eine bestimmte italienische Tradition des Verständnisses von Wirtschaft, das seine Wurzeln im spätmittelalterlichen Frühhumanismus hat. Im 18. Jh., als sich die Ökonomie als eigenständige Wissenschaft zu entfalten begann, wurde die Z. von Ökonomen der italienischen Aufklärung als eigenständiges Konzept entworfen. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jh. setzten sich jedoch auch in Italien die Ideen der klassischen Nationalökonomie i. S. v. Adam Smith und v. a. David Ricardo durch, was zu einem Abbruch der Tradition der Z. führte. Zu Beginn des 21. Jh. aber wurde das Konzept wieder in die Diskussion gebracht. Dieser Neuentwurf der Z. bildet die maßgebliche wirtschaftstheoretische Referenz und Grundlage der 2009 von Papst Benedikt XVI. veröffentlichten Sozialenzyklika „Caritas in veritate“.

1. Historische Grundlagen

Die Ursprünge der Z. verorten Luigino Bruni und Stefano Zamagni im spätmittelalterlichen Frühhumanismus, den sie wegen seiner Gemeinschaftsorientierung und in Abgrenzung zum modernen individualistischen Humanismus auch als „Zivilhumanismus“ bezeichnen. Lebensweltlicher Ort dieses Zivilhumanismus waren die (nord- und mittel-)italienischen Städte des 14. und 15. Jh. Diese Zeit bildete den Höhepunkt einer Epoche, die im 11. Jh. begann und deren Ausgangspunkt eine theologische Neubewertung des christlichen Verhältnisses zur Welt war. Aufgrund eines neuen Verständnisses der Parusieerwartung war die monastische Weltabgewandtheit fortan nicht mehr das allein seligmachende Ideal, sondern auch ein aktives Leben im Dienst der Verwandlung der Welt galt seitdem als eine legitime Weise christlicher Existenz. In diesem Sinne haben mit Blick auf den Bereich des Wirtschaftens insb. einige Theologen des Franziskanerordens wie Petrus Johannis Olivi und Bernhardin von Siena erstmals eigenständige Reflexionen ökonomischer Zusammenhänge unternommen. Ihr Armutsgelübde war für sie keine bloß asketische Übung, sondern Ausdruck gelebter Nähe zu den tatsächlich Armen. Als Konsequenz daraus stellte sich die Frage nach Mitteln zur Bekämpfung von Armut. Aus diesem Impuls gründeten Franziskaner im 15. Jh. in italienischen Städten die sogenannten Montes pietatis, die zur Bekämpfung von Wucherkrediten (Wucher) und als Ausweg aus der damit verbundenen Armutsspirale kleine Darlehen – heute würde man sagen: Mikrokredite – an Bedürftige vergaben. Diese Montes pietatis, deren Grundkapital aus Schenkungen und Erbschaften wohlhabender Bürger stammte, kann man „als die erste große Institution einer Zivilökonomie bezeichnen“ (Bruni/Zamagni 2013: 61).

Als Wirtschaftstheorie wurde die Z. von Ökonomen der italienischen Aufklärung, namentlich den Vertretern der sogenannten „Schule von Neapel“ mit ihrem führenden Kopf Antonio Genovesi, entfaltet. Sie haben die Ökonomie nicht als wertfreie, sondern ausdrücklich als normative Wissenschaft verstanden, deren Ziel sie in der Zivilisierung der Wirtschaft im Interesse des Gemeinwohls und des „öffentlichen Glücks“ sahen.

2. Theoretisches Konzept

Grundidee der Z. ist das Konzept einer sozialen Marktwirtschaft, bei der die Sozialität auf dem Prinzip der Reziprozität gründet. „Die Reziprozität ist der Schlüsselbegriff des gesamten anthropologischen und sozialen Konstrukts der Zivilökonomie“ (Bruni/Zamagni 2013: 97). L. Bruni und S. Zamagni erläutern das Reziprozitätsprinzip in Abgrenzung vom vertraglichen Äquivalenzprinzip, wie es für die marktlichen Aktivitäten von profitorientierten Wirtschaftsunternehmen (Unternehmen) handlungsleitend ist. Gemäß dem Äquivalenzprinzip wird eine Leistung nur für eine entsprechende Gegenleistung erbracht. Nach dem Reziprozitätsprinzip setzt eine Leistung hingegen keine unmittelbare Gegenleistung des Empfängers voraus. Gleichwohl setzen die Vertreter der Z. Reziprozität nicht mit Altruismus gleich. Denn auch das Reziprozitätsprinzip geht von einer wechselseitigen Beziehung aus, bei der zwar nicht Zug um Zug eine (einklagbare) Gegenleistung mit entsprechendem Nutz- und Tauschwert erwartet wird, aber doch eine (nicht einklagbare) Antwort erhofft wird, in der sich der Wert solidarischer Verbundenheit ausdrückt (Solidarität). L. Bruni und S. Zamagni sprechen insoweit durchaus von einer „beiderseitigen Transferorientierung“ und von einer „bedingten Unbedingtheit“ (Bruni/Zamagni 2013: 162 f.) der Reziprozität. Als drittes Merkmal nennen sie die „Transitivität“ (Bruni/Zamagni 2013: 163); d. h., die Antwort kann auch von einem Dritten erfolgen. Die reziproke Beziehung ist offen und dynamisch, und gerade aufgrund dieser Eigenschaften erwarten die Vertreter der Z., dass das Engagement zivilwirtschaftlicher Unternehmen, die sich am Reziprozitätsprinzip orientieren, zu einer Zivilisierung der Marktwirtschaft insgesamt beitragen kann. Diesen Gedanken greift auch Papst Benedikt XVI. in seiner Sozialenzyklika „Caritas in veritate“ auf, wenn er fordert, auf dem Markt sollten „neben den gewinnorientierten Privatunternehmen und den verschiedenen Arten von staatlichen Unternehmen […] auch die nach wechselseitigen und sozialen Zielen strebenden Produktionsverbände einen Platz finden und tätig sein können. Aus ihrem Zusammentreffen auf dem Markt kann man sich erhoffen, dass es zu einer Art Kreuzung und Vermischung der unternehmerischen Verhaltensweisen kommt und dass in der Folge spürbar auf eine Zivilisierung der Wirtschaft geachtet wird“ („Caritas in veritate“: 38). Ein Beispiel für zivilwirtschaftliches Unternehmertum stellt das Projekt Wirtschaft in Gemeinschaft der Fokolarbewegung dar.