Wirtschaftssoziologie

  1. I. Soziologisch
  2. II. Wirtschaftswissenschaftlich

I. Soziologisch

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Die W. erklärt wirtschaftliche Sachverhalte mit dem Instrumentarium der Soziologie. Sie teilt ihr Themenfeld mit der Wirtschaftswissenschaft, kritisiert jedoch deren Unterstellung weitgehender individueller Rationalität. In Abgrenzung zur Verhaltensökonomik versucht sie wirtschaftliches Handeln (Handeln, Handlung) jedoch nicht durch eine Verfeinerung individueller Handlungsmodelle zu erklären. Stattdessen untersucht sie den Einfluss sozialer Beziehungen und Institutionen auf wirtschaftliches Handeln.

Die W. zeigt damit einerseits, wie auch wirtschaftliches Handeln durch gesellschaftliche Einflüsse zu erklären ist. Sie erklärt, mit anderen Worten, die Wirtschaft durch die Gesellschaft. Umgekehrt zeigt die W. auch, wie Verhalten, welches in der Wirtschaft gelernt wird, Menschen in nicht-wirtschaftlichen Beziehungen beeinflusst. Immer geht es der W. also um die gegenseitige Beeinflussung von Wirtschaft und Gesellschaft.

Berühmte klassische Beispiele sind Max Webers Erklärung, wie der calvinistische Glauben (Calvinismus) den Kapitalismus beförderte, Émile Durkheims Studie, wie gesellschaftliches Vertrauen wirtschaftliches Handeln ermöglicht und Karl Marx’ Analyse, wie wirtschaftliches Handeln gesellschaftliche Beziehungen beeinflusst.

Während die W. sich schon immer für den Zusammenhang von gesellschaftlichen Normen und wirtschaftlichen Interessen interessierte, ist in den 1980er Jahren eine sogenannte Neue W. entstanden. Diese erklärt wirtschaftliches Handeln v. a. durch die sozialen Beziehungen, in denen es stattfindet. Wegweisend dafür war, dass Mark Sanford Granovetter eine unter- und übersozialisierte Konzeption wirtschaftlichen Handelns kritisierte, die man grob der klassischen Wirtschaftswissenschaft und der klassischen Soziologie zuordnen kann. Sein Argument war, dass – anders als eine untersozialisierte Konzeption wirtschaftlichen Handelns nahelegt –, Menschen auch in der Wirtschaft nicht nur ihren Eigennutz ausleben. Anders als eine übersozialisierte Konzeption menschlichen Handelns vermuten lässt, kann man menschliches Handeln jedoch auch nicht durch internalisierte Normen erklären. Stattdessen, so M. S. Granovetter, ist das Handeln von Menschen aus dem konkreten sozialen Umfeld zu erklären, statt aus internalisierten Normen oder einer Nutzenfunktion. Nachdem die Wirtschaftswissenschaft mit Gary Becker gesellschaftliche Phänomene wirtschaftswissenschaftlich erklärte, begann die W. mit M. S. Granovetters Ansatz, wirtschaftliche Phänomene mit soziologischen Erklärungen zu untersuchen. So konnte sie bspw. zeigen, wie soziale Netzwerke Berufserfolg beeinflussen, wie interessengeleitetes Handeln von sozialen Beziehungen der Marktteilnehmer abhängt, wie Unternehmen am erfolgreichsten sind, wenn sie weder ihr Eigeninteresse ohne Rücksicht auf andere verfolgen, noch so stark eingebettet sind, dass sie ihr Eigeninteresse kaum noch verfolgen können und wie das Verhalten von Unternehmen von sozialen Beziehungen innerhalb des Unternehmens abhängt.

Eine zweite Denkrichtung der W. interessiert sich weniger dafür, wie wirtschaftliches Handeln von gesellschaftlichen Netzwerken abhängt, sondern befasst sich in der Tradition Karl Polanyis mit der Einbettung des Kapitalismus in gesellschaftliche Makrostrukturen. Hier steht die Frage im Vordergrund, inwieweit und wie moderne Wirtschaftsräume in gesellschaftliche Regeln und Normen eingebettet sind und sein müssen. Gegenüber einer Wirtschaftswissenschaft, die in der Tradition Friedrich August von Hayeks und Milton Friedmans die Loslösung wirtschaftlicher Institutionen von gesellschaftlicher Regulierung als effizienzsteigernd ansah, betonte diese Ausrichtung der W., dass wirtschaftliche Institutionen nur dann effizient sind, wenn gesellschaftliche Regeln und Normen sie einbetten. Diese Denktradition konnte zeigen, wie auf Altruismus beruhende Märkte mitunter effizienter sind, wie Wirtschaftsregionen mit hohem interpersonellen Vertrauen erfolgreicher sind und wie die Wirtschaftspolitik eines Landes durch dessen Kultur beeinflusst wird. All dies macht die W., nach einem weitgehenden Brachliegen von den Klassikern bis in die 1980er Jahre, zu einem der spannendsten Felder der Soziologie.

II. Wirtschaftswissenschaftlich

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1. Definition

Die W. hat sich mit ihrem soziologischen Blick auf wirtschaftliche Sachverhalte zu einer dynamischen Teildisziplin der Sozialwissenschaften entwickelt. Sie vermittelt eigenständige Zugänge zu den sozialen und kulturellen Dimensionen des Wirtschaftens. In der klassischen Systematik der Wirtschaftswissenschaften von William Stanley Jevons bis Joseph Alois Schumpeter wurde die W. noch als Teil einer interdisziplinären Politischen Ökonomie bzw. Sozialökonomik ausgewiesen. Mittlerweile ist das differenzierte Verhältnis zur Ökonomik in theoretischer wie methodologischer Hinsicht von kritischer Distanz geprägt, nicht zuletzt aufgrund der anhaltenden szientistischen Orientierung der Ökonomik (homo oeconomicus). Der Gegenstandsbereich der W. umfasst wirtschaftliche Phänomene die mittels soziologischer Theorien sowie quantitativer wie qualitativer Methoden der empirischen Sozialforschung analysiert werden. Maßgebliche Aspekte sind die soziale Einbettung wirtschaftlichen Handelns (Handeln, Handlung), die soziale Ausgestaltung von Unternehmensorganisationen, die soziale Strukturierung von Märkten sowie die institutionellen Besonderheiten marktwirtschaftlicher Systeme (Institutionenökonomik). Insofern geht es der W. ganz fundamental um die gesellschaftliche Bedingtheit ökonomischer Sachverhalte. Aktuelle Themenschwerpunkte sind insb. in den Bereichen des technologischen und organisatorischen Wandels, der internationalen Finanzmärkte und der vergleichenden Kapitalismusforschung angesiedelt (Ebner 2020).

2. Klassische Beiträge

Mit ihren Rückbezügen auf die Arbeiten maßgeblicher Wegbereiter der modernen Sozialwissenschaften vermittelt die W. eigenständige Zugangsweisen zu Grundfragen des Wirtschaftens (Trigilia 2002). Die klassischen Beiträge zur W. lieferten seit dem ausgehenden 19. Jh. bedeutende Impulse zur Begründung der modernen Soziologie. Ihre Fragestellungen waren von der Durchsetzung kapitalistischer Wirtschaftsformen (Kapitalismus) im Rahmen von Industrialisierung (Industrialisierung, Industrielle Revolution) und Modernisierung geprägt. In der von Auguste Comte herkommenden französischen Debatte gehörte Émile Durkheim zu den Schlüsselfiguren. Seine Auseinandersetzung mit den sozialen Grundlagen und Wirkungen der industriellen Arbeitsteilung war von der „Deutschen Historischen Schule“ (Historismus in der Wirtschaftswissenschaft) beeinflusst und wendete sich gegen den individualistischen Ansatz der liberalen Soziologie Herbert Spencers in Großbritannien. In der frühen deutschsprachigen Soziologie um Max Weber, Werner Sombart und Georg Simmel wurde die kapitalistische Moderne dagegen mit deutlicherem Bezug auf Karl Marx diskutiert. M. Webers Betrachtungen zur protestantischen Ethik als Grundlage eines gesellschaftliche Rationalisierung durchsetzenden kapitalistischen Wirtschaftsgeistes hat die W. nachhaltig beeinflusst. Überlegungen zur sozialen Konstitution der Marktgesellschaft, ihrer technologischen und institutionellen Dynamik sowie ihrer Instabilität bildeten ein Leitmotiv in den paradigmenbildenden Arbeiten von J. A. Schumpeter und Karl Paul Polanyi. Differenzierte Weiterentwicklungen dieser klassischen Diskussionen finden sich in der Folge bei Talcott Parsons und seinen frühen systemtheoretischen Ansätzen zur Wirtschaft als sozialem Teilsystem (Systemtheorie) (Swedberg 2003).

3. Aktuelle Debatten

Gegenwärtige Debatten der W. konzentrieren sich vornehmlich auf die Analyse der sozialen Strukturen und kulturellen Logiken wirtschaftlicher Prozesse. Die Rolle sozialer Netzwerke und institutioneller Felder bei der Formung wirtschaftlichen Verhaltens wird ebenso betont wie der Einfluss von Unsicherheit bzw. Vertrauen bei der Erwartungsbildung in Organisationen und im Marktgeschehen (Verhaltensökonomik). Dabei wird die analytische Leistungskraft soziologischer Erklärungen gegenüber ökonomischen Ansätzen betont, um das komplexe Gefüge der sozialen Einbettung wirtschaftlicher Prozesse zu durchdringen. Seit den 1980er Jahren sind die relationalen Ansätze der Neuen W. bestimmend. So wird mit Mark Sanford Granovetters Arbeiten das Netzwerkparadigma zur sozialen Einbettung wirtschaftlichen Handelns in den Mittelpunkt wirtschaftssoziologischer Debatten gerückt. Harrison Colyar White betont in diesem Zusammenhang die stabilisierende Rolle sozialer Interaktionen in zwischenbetrieblichen Marktbeziehungen. Ein stärker auf historisch-kulturelle Aspekte setzender Ansatz ist maßgeblich von Viviana Zelizer formuliert worden: Märkte werden hierbei auch konsumseitig im Kontext kultureller Wertvorstellungen (Kultur) betrachtet. Für die europäische Diskussion haben sich v. a. die kultursoziologischen Arbeiten von Pierre Bourdieu als prägend erwiesen. Mit P. Bourdieus konfliktorientierter Sicht auf Branchen und Märkte als soziale Felder geraten Fragen von Ungleichheit, Macht und Politik in den analytischen Fokus (Dobbin 2004). So bleibt die W. in Theorie und Methode weiterhin ein multiparadigmatischer Bestandteil integrierter wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Diskurse.