Verwaltungsprozessrecht

1. Die Verwaltungsgerichtsordnung

1.1 Regelungsgegenstände

Die VwGO enthält das Gerichtsverfassungs- sowie das gerichtliche Verfahrensrecht der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Zur Gerichtsverfassung trifft sie Bestimmungen über die Einrichtung einer dreistufigen Gerichtsbarkeit, den inneren Aufbau der Gerichte, zur Zuständigkeit der Gerichtsbarkeit, der Gerichte, der Spruchkörper (Kammern bzw. Senate) in den Gerichten und des Einzelrichters sowie zum Status der Berufsrichter (Richter) und der ehrenamtlichen Richter und sieht einen Vertreter des öffentlichen Interesses als amicus curiae vor. Zum gerichtlichen Verfahren enthält sie allgemeine Vorschriften, bes. Vorschriften für den Prozess um den Verwaltungsakt, Bestimmungen über den Ablauf des Verfahrens, über Entscheidungen und Entscheidungswirkungen, über Rechtsmittel, Kosten und Vollstreckung sowie über den einstweiligen Rechtsschutz.

1.2 Die VwGO im System des Prozessrechts

Die VwGO ist ein Gesetz des Bundes. Sie versteht sich als eigenständiges Gesetz. Gleichwohl verweist sie wegen solcher Regelungen, die für alle fünf in Deutschland bestehenden Gerichtsbarkeiten im Wesentlichen gleich gelten (z. B. über die Geschäftsverteilung, die Öffentlichkeit der Verhandlungen oder über Ladungen, Zustellungen, Fristen, Protokollierungen und dgl.), auf das GVG und die ZPO. Zur Errichtung und Organisation der VG und OVG belässt sie den Ländern als deren Trägern Regelungsspielräume; in allen Ländern bestehen deshalb Ausführungsgesetze zur VwGO. Das Statusrecht der Berufsrichter regelt das DRiG, das in Ansehung der Richter in Landesdiensten durch die Richtergesetze der Länder ergänzt wird.

Fachgesetze enthalten nicht selten prozessrechtliche Sonderregelungen, wie insb. das AsylG, das UmwRG oder die Fachplanungsgesetze (Eisenbahnen, Fernstraßen, Wasserstraßen, Energieleitungen).

1.3 Geschichte und Perspektiven

Die VwGO wurde 1960 erlassen; sie führte die Konzeptionen des BVerwGG des Bundes von 1952 und der Verwaltungsgerichtsgesetze der Länder fort, an deren Stelle sie trat. Das Gesetz wurde seither vielfach geändert; bes. Bedeutung erlangte die Beschränkung der Berufung durch die sechste VwGO-Novelle von 1996. Grundstruktur und Systematik des Gesetzes blieben aber unverändert. Bestrebungen insb. der 1980er Jahre, die Prozessordnungen der drei öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten (VwGO, SGG, FGO) in einer Verwaltungsprozessordnung (VwPO) zusammenzuführen, wurden aufgegeben; allerdings ist der Gesetzgeber um weitgehende Parallelität bemüht.

Rechtspolitisch sieht sich die VwGO auch in jüngster Zeit Reformbestrebungen ausgesetzt. Hervorhebung verdient zum einen die Forderung, die Schranken für die Zulassung der Berufung wieder zu lockern, weil diese zu einer Übersteuerung geführt hätten. Zum anderen ist die Integration der Verbandsklage in das vom subjektiven Recht her konzipierte Rechtsschutzsystem noch nicht überzeugend gelungen. Schließlich hat der aktuell betriebene Umstieg von der Papierakte auf den elektronischen Rechtsverkehr bislang nur punktuelle Spuren im Regelungswerk hinterlassen.

2. Grundlagen

2.1 Verwaltungsrechtsschutz als Schutz subjektiver Rechte

Aufbauend auf der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG liegt der VwGO die subjektive Rechtsschutzkonzeption zugrunde. Gerichtlicher Rechtsschutz wird hiernach nur gewährt, wenn der Kläger durch die angegriffene Verwaltungsmaßnahme in eigenen subjektiven Rechten verletzt wird. Fehlt es daran, wird die Klage als unbegründet abgewiesen; kommt dies nach dem einseitigen Klagevortrag nicht einmal als möglich in Betracht, ist die Klage schon unzulässig. Diese Rechtsschutzkonzeption zielt nicht auf eine umfassende, von subjektiven Bürgerrechten losgelöste und in diesem Sinne objektive gerichtliche Verwaltungskontrolle. Eine solche fällt lediglich – aber immerhin – als Effekt des Verwaltungsprozesses ab; im Übrigen bestehen andere Kontrollmechanismen (verwaltungsinterne Aufsicht; parlamentarische Kontrolle; Presse und Öffentlichkeit).

Bei einer objektiven Rechtsschutzkonzeption übernimmt der Kläger die Funktion des Anstoßgebers. Selten gilt das voraussetzungslos (sogenannte Popularklage); zumeist – wie in Frankreich – muss auch ein solcher Kläger irgendein Interesse an der Sache dartun (Interessentenklage). Das Unionsrecht sieht im Gefolge der Aarhus-Konvention vor, dass anerkannte Umweltverbände die gerichtliche Kontrolle umweltrelevanter Verwaltungsmaßnahmen am gesamten Umweltrecht beantragen können (sogenannte altruistische Verbandsklage). Dies wird in Deutschland außerhalb der VwGO im UmwRG umgesetzt.

2.2 Prozessbeteiligte

Der Verwaltungsprozess ist kontradiktorisch: Es stehen sich ein Kläger (oder Antragsteller) und ein Beklagter (oder Antragsgegner) gegenüber. Regelmäßig ist Kläger ein Bürger, Beklagter eine Behörde oder deren Trägerkörperschaft (Bund, Land, Gemeinde und dgl.). Umgekehrte Parteirollen oder ein Prozess zwischen zwei öffentlichen Rechtsträgern sind ebenso möglich. Häufig wird ein Dritter zum Rechtsstreit beigeladen, wenn dieser von dem umstrittenen Hoheitsakt ebenfalls betroffen oder sonst am Rechtsstreit rechtlich interessiert ist. Der Beigeladene kann sich am Rechtsstreit – auch mit Rechtsmitteln – beteiligen, muss es aber nicht; in jedem Falle wirkt das Urteil auch für und gegen ihn.

Außer der im Prozess beteiligten Behörde kann sich als amicus curiae auch der Vertreter des öffentlichen Interesses (bzw. des Bundesinteresses) beteiligen. Dies erlaubt, mittelbar die Auffassung des federführenden Ministeriums zur Auslegung des einschlägigen Gesetzes einzubringen.

2.3 Verfahrens- und Entscheidungsarten, Verfahrens- und Entscheidungswirkungen

Es sind Hauptsacheverfahren von Nebenverfahren zu unterscheiden. Hauptsacheverfahren werden i. d. R. durch Klage eingeleitet, unterliegen der Erörterung in mündlicher Verhandlung und werden durch Urteil entschieden. Nebenverfahren (insb. Eilverfahren) finden auf Antrag hin statt, sind allein schriftlich und münden in einen Beschluss. Die Erhebung der Klage macht die Sache rechtshängig, so dass diese nicht nochmals woanders anhängig gemacht werden darf. Kann das Urteil mit Rechtsmitteln nicht (mehr) angefochten werden, so wird es formell rechtskräftig; die Entscheidung bindet die Beteiligten auch in nachfolgenden Sachen (materielle Rechtskraft), solange sich die Sach- oder Rechtslage nicht ändert.

2.4 Verfahrensgrundsätze

In sämtlichen deutschen Prozessordnungen gilt die Dispositionsmaxime: „Wo kein Kläger, da kein Richter.“ Auch im Verwaltungsprozess ist dem Gericht untersagt, ein Verfahren von Amts wegen einzuleiten oder trotz Klagerücknahme fortzuführen; lediglich bestimmte Eilbeschlüsse kann das Gericht von Amts wegen ändern.

Die Vortragspflicht der Beteiligten hat im Verwaltungsprozess geringere Bedeutung als im Zivilprozess. Zu Tatfragen dürfen und sollen die Beteiligten vortragen, doch ist das Gericht daran nicht gebunden. Im Unterschied zum Beibringungsgrundsatz des Zivilprozesses gilt im Verwaltungsprozess der Untersuchungsgrundsatz (sogenannte Inquisitionsmaxime), demzufolge das Gericht den maßgeblichen Sachverhalt von Amts wegen ermittelt. Das dient der Herstellung der „Waffengleichheit“ des Klägers mit der i. d. R. überlegenen Behörde und zugleich dem öffentlichen Interesse an objektiv richtigen, über den Einzelfall hinaus tragfähigen Entscheidungen. Zu Rechtsfragen braucht im deutschen Prozessrecht grundsätzlich nicht vorgetragen zu werden („Iura novit curia“). Ausnahmen bestehen bei der Rechtsmittelzulassung und bei der Beschwerde in Eilsachen.

In Klageverfahren gilt der Grundsatz der Mündlichkeit, jedoch mit etlichen Durchbrechungen.

3. Hauptsacheverfahren

3.1 Der Prozess um den Verwaltungsakt (VA)

Im Zentrum der VwGO stehen die Anfechtungs- und die Verpflichtungsklage gegen einen VA, der in Rechte des Klägers eingreift oder ihm eine begehrte Vergünstigung versagt. Vor Erhebung dieser Klagen muss der Kläger grundsätzlich durch Widerspruch eine verwaltungsinterne Überprüfung veranlassen. Das dient seinem verbesserten Rechtsschutz, der Selbstkontrolle der Verwaltung und der Entlastung der Gerichte. Dem trägt freilich die verbreitete Neigung der Länder keine Rechnung, auf dieses Vorverfahren zu verzichten. Widerspruch wie Klage sind fristgebunden; wird eine Frist versäumt, wird der VA unanfechtbar. Erledigt sich der VA vor oder während des Prozesses, so kann das Verfahren bei gegebenem Interesse dennoch eingeleitet oder fortgesetzt werden, um gerichtlich feststellen zu lassen, ob der VA rechtmäßig war.

3.2 Andere Klagearten

Leistungsklagen (auch als Unterlassungsklagen) zu „schlicht-hoheitlichem“ Verwaltungshandeln oder aus einem öffentlich-rechtlichen Vertrag bedenkt die VwGO nur am Rande. Sie sind aber ebenso wie Feststellungsklagen statthaft, setzen freilich ebenfalls ein subjektives Klägerrecht voraus.

3.3 Normenkontrollen

Beim OVG können auch administrative Rechtsnormen (Satzungen, Rechtsverordnungen, u. U. auch Innenrechtsnormen) zur Überprüfung gestellt werden, sofern Landesrecht dies vorsieht, Bebauungspläne generell. Das Verfahren wird durch Antrag eingeleitet. Der Antragsteller muss auch hier ein subjektives Recht anführen; allerdings löst er damit ein objektives Prüfungsverfahren aus. Erweist sich die Norm als unvereinbar mit höherrangigem Recht, wird sie mit Wirkung inter omnes für unwirksam erklärt. Die Abweisung des Normenkontrollantrags als unbegründet wirkt hingegen nur gegen den Antragsteller.

3.4 Rechtsmittel

Die Gerichte in Deutschland sind nur an das Gesetz gebunden, aber nicht an obergerichtliche Rechtsprechung. Vereinheitlichung und Fortentwicklung finden im Diskurswege – auf Rechtsmittel hin – statt. Gegen Urteile des VG steht i. d. R. die Berufung zum OVG offen, gegen Urteile des OVG die Revision zum BVerwG. In bestimmten Fällen ist gegen das Urteil des VG sogleich die Revision statthaft. Die Berufung erstreckt sich auf Tat- und Rechtsfragen, die Revision beschränkt sich auf Rechtsfragen, zudem auf solche des Bundes- und Europarechts. Verfahren wie Verfahrensgrundsätze sind wie in der ersten Instanz. Allerdings sind sowohl die Berufung als auch die Revision von einer vorherigen Zulassung abhängig, die das Instanzgericht oder auf Antrag bzw. Beschwerde hin das Rechtsmittelgericht ausspricht, sofern bestimmte Zulassungsgründe vorliegen. Zweck dieser Filtersysteme ist, die Rechtsmittelgerichte zu entlasten und auf ihre spezifische Aufgabe zu konzentrieren, einerseits die Instanzgerichte zu kontrollieren, andererseits die Rechtsprechung zu vereinheitlichen und fortzuentwickeln. Divergenzen zwischen Senaten des obersten Gerichts klärt ein Großer Senat dieses Gerichts, Divergenzen zwischen den obersten Bundesgerichten ein Gemeinsamer Senat aller Bundesgerichte.

4. Neben- und Zwischenverfahren

4.1 Einstweiliger Rechtsschutz

Rechtsschutz ist nur effektiv, wenn er in angemessener Zeit gewährt wird. Klageverfahren werden in Deutschland durchaus zügig betrieben und abgeschlossen. Gleichwohl besteht oft einstweiliger Regelungsbedarf schon während der Prozessdauer. Die VwGO sieht deshalb zwei Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vor. Für belastende VAe ordnet sie als Regelfall an, dass Widerspruch und Klage aufschiebende Wirkung entfalten; es bestehen Gegenausnahmen der sofortigen Vollziehbarkeit; das VG kann auf Antrag jeweils das Gegenteil anordnen. In anderen Fällen kann das VG auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur vorläufigen Regelung der Sachlage erlassen. In beiden Konstellationen kann der Beschluss des VG mit der Beschwerde zum OVG angefochten werden. Eine weitere Beschwerde zum BVerwG ist ausgeschlossen.

4.2 Andere Neben- sowie Zwischenverfahren

Die VwGO sieht weitere Nebenverfahren vor, die entweder die Verfahrenskosten (z. B. Prozesskostenhilfe) oder die Urteilsvollstreckung betreffen. Zwischenverfahren betreffen etwa die Zeugnispflicht Dritter oder die Pflicht der Behörde zur Offenlegung als geheim eingestufter Akten. Von besonderer Bedeutung sind Zwischenverfahren, um die Gültigkeit einschlägiger Gesetze durch das BVerfG (Art. 100 Abs. 1 GG) oder die Gültigkeit oder die Auslegung von Unionsrecht durch den EuGH (Art. 267 AEUV) klären zu lassen.