Topik

  1. I. Philosophische Grundlegung
  2. II. Politikwissenschaftliche Perspektive

I. Philosophische Grundlegung

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Die „Topik“ ist ein frühes Werk des Aristoteles, das er selbst in späteren Schriften mit diesem Titel (selten als „Dialektik“) zitiert. Es geht darum, ein Verfahren zu finden, das es erlaubt, jede Aussage anhand einleuchtender Annahmen zu prüfen und zu jedem Problem aus einleuchtenden Annahmen Schlüsse zu ziehen. Ein Schluss ist ein Argument, in dem aus bestimmten Voraussetzungen etwas von diesen Verschiedenes mit Notwendigkeit folgt. Ein wissenschaftlicher Beweis ist ein Schluss aus wahren und unmittelbaren Prämissen; „ein dialektischer Schluss dagegen ist der, welcher aus anerkannten Meinungen (endoxa) gefolgert wird. Es sind aber wahre und unmittelbare (Prämissen) solche, die nicht durch andere, sondern durch sich selbst geglaubt werden […], anerkannte Meinungen aber, was alle oder die meisten oder die Weisen und von diesen entweder alle oder die meisten oder die am meisten bekannten und berühmten meinen“ (Aristot. top. 100 a29–b23). Die Bedeutung der Methode liegt darin, dass die Wissenschaft ihre eigenen Prinzipien nicht reflektieren kann, denn sie kennt keine höheren; eine Kritik ist nur mit Hilfe der endoxa möglich.

„T.“ kommt von topos: der Ort. Der Terminus sei zunächst anhand eines Beispiels erläutert. Buch III fragt: Was verdient den Vorzug, wenn man zwischen zwei oder mehr Möglichkeiten wählen muss? Es geht nicht um Werte, zwischen denen ein großer Unterschied besteht, sondern um solche, bei denen eine Überlegenheit des einen über den anderen nicht sichtbar ist, sodass wir im Zweifel sind, wie wir uns entscheiden sollen. Aristoteles bringt 52 Topoi, welche die Überlegenheit eines dieser Werte zeigen sollen. Einer von ihnen gibt folgende Anweisung: Wir sollen schauen, was jeder dieser Möglichkeiten nachfolgt. Es ist die Möglichkeit zu wählen, der das größere bzw. größte Gut folgt; sind die Folgen schlecht, dann ist die zu wählen, der das kleinere bzw. kleinste Übel folgt. Diese Anweisung ist die Maior eines Syllogismus; die Minor ergibt sich aus der Bewertung der Folgen. Topoi sind „gemeinsame“ Prämissen, die in Syllogismen über verschiedene Gegenstandsbereiche (Moral, Politik, Natur) verwendet werden, „wie etwa der Topos des Mehr und Weniger“ (rhet. I.2,1358 a12–14). Sie werden von den spezifischen Prämissen unterschieden. „Spezifisch nenne ich die jeder Gattung eigentümlichen, Topoi aber die allen in gleicher Weise gemeinsamen Prämissen“ (rhet. I.2,1358 a31 f.). Der „Ort“, so lässt die Verwendung des Terminus sich erklären, von dem aus etwas gesehen wird, legt die Perspektive des Betrachters fest; er ist der Gesichtspunkt, unter dem eine Sache betrachtet wird, oder die Stelle, „von der aus der Angriff zu führen ist“ (Aristot. top. 155 b5).

Am Beginn der Untersuchung stehen „Aussagen“ (protasis) und „Probleme“ (problêma). Jede Aussage und jedes Problem bezeichnen entweder eine Begriffsbestimmung (horos) oder eine Eigentümlichkeit (idion) oder eine Gattung (genos) oder ein nebenbei Zutreffendes (symbebêkos). Aussage und Problem unterscheiden sich nur durch die Wortstellung. „‚Lebewesen, zu Lande lebend, zweifüßig‘ ist die Begriffsbestimmung von ‚Mensch‘“ ist eine Aussage. „Ist ‚Lebewesen, zu Lande lebend, zweifüßig‘ die Begriffsbestimmung von ‚Mensch‘ oder nicht?“ ist ein Problem (Aristot. top. I.4). Die T. entwickelt u. a. für diese vier sogenannten Prädikabilien jeweils eine Liste von Topoi; sie dienen dazu, die entsprechenden Aussagen zu verteidigen oder zu widerlegen bzw. die Probleme zu lösen.

„Die Rhetorik ist ein Gegenstück zur Dialektik; beide haben nämlich mit dem zu tun, was zu kennen gewissermaßen allen gemeinsam und nicht Sache einer begrenzten Wissenschaft ist; deswegen haben auch alle gewissermaßen an ihnen teil; denn in gewissem Ausmaß versuchen alle, ein Argument zu prüfen und zu halten, sich zu verteidigen und anzuklagen“ (rhet. I.1,1354 a1–6). Rhetorik ist die Kunst, durch Argumente zu überzeugen, und diese gebrauchen wie die Argumente der Dialektik die Topoi. „Ich behaupte nämlich, dass die dialektischen und rhetorischen Schlüsse von dem handeln, worüber es in den Topoi geht“ (rhet. I.1,1358 a10–12). Es gibt verschiedene Gattungen der Rede; ihnen allen sind zwei Topoi gemeinsam. Erstens müssen alle den Topos „über das Mögliche und Unmögliche in den Reden gebrauchen, und zwar müssen die einen versuchen zu zeigen, dass etwas sein wird, die anderen, dass etwas gewesen ist“ (rhet. I.1,1391 b27–29); über das Zukünftige urteilt das Mitglied der Volksversammlung, über das Geschehene der Richter. Zweitens ist der Topos „über die Größe allen Reden gemeinsam; denn alle gebrauchen das Verkleinern und Vergrößern, ob sie beraten, loben oder tadeln, anklagen oder verteidigen“ (rhet. I.1,1391 b30–1392 a1).

Adressat von Ciceros „Topik“ ist ein Jurist. Die Methode, eine Rede auszuarbeiten, umfasst zwei Teile, „zum einen den des Auffindens (inveniendi), zum andern den des Urteilens (iudicandi)“ (Cic. top. II.6). In beiden war Aristoteles führend; die Stoiker haben in ihrer Dialektik lediglich den zweiten Teil ausgearbeitet; „die Kunst der Auffindung, die ‚Topik‘ heißt, haben sie ganz aufgegeben, obwohl sie für die Praxis wichtiger und der Ordnung der Natur nach zweifellos früher war“ (Cic. top. II.6). Wer etwas sucht, findet es leicht, wenn ihm der Ort (locus) gezeigt wird, wo es sich befindet; ebenso müssen wir, wenn wir ein Argument finden wollen, die entsprechenden Orte kennen, „denn so wurden von Aristoteles diese, wenn man so will, ‚Wohnsitze‘ genannt, aus denen die Argumente geholt werden. Man kann also definieren: Ort ist der Sitz eines Arguments. Ein Argument ist aber eine Begründung, die einem bezweifelten Sachverhalt Glauben verschaffen soll“ (Cic. top. II.7 f.). Es ist zu unterscheiden zwischen

a) den Orten, die bereits mit dem, worum es geht, gegeben sind, und denen,

b) die von außen herangezogen werden.

Für a) bringen Cicero u. a. folgendes Beispiel: Einer Frau ist das gesamte Silber vermacht worden; der Streit geht darum, ob dazu auch das Geld gehört, das „gezählt im Haus geblieben ist“. Der Streit wird entschieden mit dem Topos „von der Gattung […]. Da das gesamte Silber dieser Frau vermacht worden ist, so kann das Geld, das gezählt im Haus geblieben ist, nicht nicht vermacht sein. Die Art ist nämlich von der Gattung, so lange sie ihren Namen behält, nicht zu trennen; abgezähltes Geld behält aber den Namen Silber“ (Cic. top. II.13). Cicero schließt seine Ausführungen zu a): „Damit ist die gesamte Lehre von der Auffindung der Argumente fertig“; er zählt die gefundenen Topoi auf und schließt: „außerdem ist kein Sitz eines Arguments zu suchen“ (Cic. top. II.71).

Welche Topoi passen zu welchen Fragen? Alle passen zu den meisten; „dennoch sind […] einige für einige besonders geeignet“ (Cic. top. II.87), z. B. die Topoi der Gleichheit (aequitas) für die Fragen nach Recht und Unrecht; sie sind zu unterscheiden nach Natur und Setzung. Welche Topoi zu gebrauchen sind, hängt ab vom Ziel der Rede: Ob es um das Recht, den Nutzen oder darum geht, einen Menschen zu ehren (Ehre). Es gibt spezielle Topoi für die Teile der Rede. So kommt es in der Einleitung darauf an, das Interesse, die Aufmerksamkeit und das Wohlwollen der Hörer zu gewinnen; der Schluss muss das Gewicht der Sache vergrößern.

II. Politikwissenschaftliche Perspektive

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Die T. erfährt im 20. Jh. eine Wiederentdeckung als wissenschaftliche Methode. So veröffentlichte bspw. Theodor Viehweg 1953 seine Schrift „Topik und Jurisprudenz“. In der Politikwissenschaft ist die Renaissance der T. vor allem mit Wilhelm Hennis verbunden, für den sie eine wesentliche Methode bei der „Rekonstruktion der politischen Wissenschaft“ (Hennis 1963) darstellt.

1. Topik als Methode praktischer Wissenschaft

Eine Rekonstruktion hat die Politikwissenschaft deshalb nötig, weil sie in ihrem Verständnis als moderne Sozialwissenschaft die normative Dimension der Politik nicht ausreichend in den Blick zu nehmen vermag. Damit gibt sie jedoch implizit ihre Öffentlichkeitswirkung preis, weil sie zu den drängenden Problemen der Gesellschaft aus dieser spezifischen Perspektive wenig bzw. nichts beizutragen hat. Politikwissenschaft soll daher in erneuertem aristotelischen Verständnis eine Praxis sein, die Werturteile formuliert, die als Maß an das Politische angelegt werden können. In der Konsequenz ist sie als praktische Wissenschaft zu verstehen; denn nur auf diese Weise kann es gelingen, die eigentliche Beschaffenheit des Politischen adäquat abzubilden. Der T. kommt die Aufgabe zu, hierfür eine angemessene Methodik zu liefern. „Hat nun […] die Topik als die spezifische Methode im Bereich des Dialektischen nicht eine besondere Bedeutung für die Disziplinen der praktischen Philosophie? Das scheint in der Tat so zu sein. Wir müssen dazu an die […] Eigentümlichkeiten der praktischen Wissenschaften erinnern: sie bewegen sich im Bereich des Kontingenten, sie erlauben ein geringeres Maß an Akribie, sie sind in geringerem Maße ‚wissenschaftlich‘ als die theoretischen Wissenschaften. Die Schlüsse, die man in diesem Bereich ziehen kann, folgen nicht aus notwendigen, sondern in aller Regel nur aus plausiblen, wahrscheinlichen, annehmbaren Prämissen“ (Hennis 1963: 94). Weniger wissenschaftlich heißt aber nicht unwissenschaftlich. Jedoch kann nur auf diese Weise der Kontingenz und der Komplexität allen politischen Handelns angemessen Rechnung getragen werden. Politik als Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung lässt sich aufgrund dieser Eigenschaften – selbst bei der Annahme von Pfadabhängigkeiten – nicht exakt vorausberechnen. Mit den „Topoi der praktischen Wissenschaft […] ‚Lage‘, ‚Problem‘, ‚Umstände‘“ (Schlak 2008: 99) lassen sich wissenschaftliche Analysen durchführen, die sich an politischen Realitäten orientieren. Insb. gilt das für „Umstände“ wie „Raum“, „Klima“ oder „Emotionen“ (Schlak 2008: 100).

So bildet denn auch „die praktische Klugheit (phronesis)“ die „spezifisch politische Tugend der Erkenntnis“ (Weber-Schäfer 1999: 15). Politikwissenschaft zu betreiben bedeutet zudem auch, sich als Wissenschaftler in der Gesellschaft Gehör zu verschaffen, v. a. dann, wenn es um grundlegende Fragen wie z. B. die Ausgestaltung des Gemeinwohls geht.

2. Kritik und mögliches Aktualisierungspotential

Doch wie lässt sich eine auf die phronesis (Klugheit) berufende Beschäftigung mit der Politik in den wissenschaftlichen Diskurs einspeisen? Dies dürfte umso schwerer fallen, wie die Ausrichtung der Politikwissenschaft am sozialwissenschaftlich-szientistischen Ideal voranschreitet. So besteht die Gefahr, dass eine derartige Wissenschaft sich ins Essayistische zurückzieht – eine Form, die auch der Journalist oder der interessierte Bürger ohne (politik-)wissenschaftlichen Hintergrund zu leisten vermag. Peter Graf Kielmansegg weist darauf hin, dass W. Hennis es verabsäumt hat, eine systematische topische Methodenlehre für die politische Wissenschaft vorzulegen. So „blieb die ‚Topik‘ ein reizvolles, anregendes Stichwort“ (Graf Kielmansegg 2020: 296). Dadurch geriet allerdings auch eine Methode ins Abseits, die einer politisch aufgeschlossenen Öffentlichkeit verständliche und nachvollziehbare, aber nicht verkürzende und vereinfachende Erörterungen der politischen Gegebenheiten anbieten kann.

Denn die T. verweist auf zwei grundlegende Aspekte: Zum einen darauf, dass eine nur auf empirische Sozialforschung abzielende Politikwissenschaft das Eigentliche des Politischen verfehlt, zum anderen auf den Auftrag all jener, die sich wissenschaftlich mit Politik beschäftigen, sich auch öffentlich zu betätigen. Gerade in einem Zeitalter der Polarisierung könnte die Rückbesinnung auf die dialogischen Qualitäten der T. einen nicht geringen Geländegewinn für den rationalen Diskurs markieren.