Rechtsmissbrauch

1. Grundlegung

Dass (subjektive) Rechte missbraucht werden können, leuchtet nicht unmittelbar ein. Die Rechtsordnung gewährt dem Individuum eine Rechtsposition, sei es, indem sie diese Rechtsposition durch staatliche Setzung konkret zuweist, sei es, dass sie dem Privatrechtssubjekt die Schaffung einer solchen Rechtsposition durch Privatautonomie gestattet. Eigentlich steckt in dieser staatlichen Entscheidung auch die Zuweisung eines im Vorfeld bestimmten Freiheitsraumes, indem es dem Rechtsinhaber erlaubt ist, selbst festzulegen, wie er diesen Raum nutzt. Wenn es dennoch eine unzulässige Rechtsausübung gibt, dann kann dies damit gerechtfertigt werden, dass ganz unabhängig vom Rechtsinhalt bestimmte Arten der Rechtsausübung nicht gestattet werden (Schikane, Arglist etc. – sogenannte Außentheorie). Oder man öffnet die Rechtszuweisung für eine ex-post-Inhaltskontrolle, die ein zunächst gewährtes Recht im Fall verwerflicher Ausübung aberkennt („Relativität des Rechtsinhalts“ [Siebert 1934: 89; Herv. i. O.] – sogenannte Innentheorie). Damit werden sehr grundsätzliche Fragen der Privatrechts- und Verfassungskonzeption angesprochen. Einerseits geht es um die Konzeption subjektiver Rechte – Schlagwort „Einheit von Recht und Pflicht“ –, andererseits geht es um Zuständigkeitsfragen, insb. darum, inwieweit der Rechtsprechung die Gestaltung staatlich gewährter Rechtspositionen explizit zugewiesen wird.

2. Problemgeschichte und heutige Lösungen

R. wurde zum juristischen Thema mit der Herausbildung des Konzepts des subjektiven Rechts im neuzeitlich-westlichen Rechtsdenken. Einen Schub bekam diese Vorstellung mit der um 1780 aufkommenden Trennung zwischen Staat und Gesellschaft (Staat und Gesellschaft). Mit der Idee des Privatrechts war die Vorstellung verknüpft, dass die Ausübung gewährter Rechte dem innergesellschaftlichen Konfliktaustrag überantwortet wurde. Dahinter konnte die liberale Position stehen, dass rücksichtsloser Gebrauch der Rechtsposition zu innergesellschaftlichen Sanktionen führe und so eine Versittlichung der Gesellschaft bewirke. Aber auch im konservativ-christlichen Milieu konnte man die „Freiheit […] zum Bösen“ (Schelling 1860: 354) als nur in freier Entscheidung gangbaren Weg zurück zu Gott betonen. Im Deliktsrecht fand sich bes. in Frankreich der Satz, es sei gestattet, einen anderen durch eine Rechtsausübung zu schädigen. In Deutschland fand dieser überlieferte Grundsatz (qui iure suo utitur, neminem laedit – wer sein Recht nutzt, schädigt niemanden [Gaius D. 50, 17, 55]) für den Eigentumsgebrauch eine Grenze im seit dem 18. Jh. ausgebildeten Schikaneverbot. Demnach war eine Rechtsausübung unzulässig, wenn sie nur den Zweck haben konnte, einem anderen zu schaden. Andere existierende Rechtsausübungsschranken wurden nicht als solche problematisiert, etwa die Möglichkeit des Gemeinen Rechts, „Arglist“ bei bonae fidei iudicia durch Richterspruch, sonst über die Gewährung einer Einrede (exceptio doli) zu unterbinden.

Mit der europaweiten Krise des Liberalismus geriet das Konzept des subjektiven Rechts in die Kritik. Die Diskussion um R. nahm nun Fahrt auf. In Frankreich und Deutschland begann um 1900 eine Debatte um die Kriterien eines abus du droit. Ein solcher liege vor, wenn ein Recht jenseits seines sozialen oder wirtschaftlichen Zweckes (Raymond Saleilles), subjektiv verwerflich (Étienne-Louis Josserand) oder entgegen sozialer Rücksichtnahmepflichten (Otto von Gierke) ausgeübt werde. Die Kodifikationen der Jahrhundertwende verdeutlichen die Dynamik. Während der Debatten um das BGB wurde das Schikaneverbot vom Eigentum abgekoppelt und dann als allgemeine Rechtsausübungsschranke in § 226 BGB für alle subjektiven Rechte kodifiziert. Das Schweizerische Zivilgesetzbuch von 1912 ging bereits viel weiter und unterwarf jede Rechtsausübung „Treu und Glauben“ (Art. 2).

Nach den intensiven Debatten um 1900 rückte die rechtspolitische Dimension der Grenzen des subjektiven Rechts zunächst in den Hintergrund. Während in der Schweiz die Rechtsprechung die ihr zugewiesenen Möglichkeiten zurückhaltend nutzte, verzichtete die deutsche Rechtsprechung auf eine ausformulierte R.s-Konzeption. Sie griff weiterhin auf die gemeinrechtliche Arglisteinrede zurück und begann pragmatisch und am Einzelfall Fallgruppen des Missbrauchs zu entwickeln. Dass diese Rechtsprechung nicht fortgesetzt wurde, lag an der erneuten Politisierung der Frage im Nationalsozialismus. Wolfgang Siebert schloss sich der gegen das Privatrecht als Freiheitsraum und gegen den Staat gerichteten „völkischen Rechtserneuerung“ sowie den konzeptionellen Ideen von Carl Schmitt an. Er nutzte § 242 BGB („Treu und Glauben“) um alle Rechtspositionen des Individuums einem von der Rechtsprechung im Einzelfall zu bestimmenden völkischen Gemeinschaftsvorrang zu unterwerfen. W. Siebert setzte die vorher kaum noch debattierte Innentheorie als Konzeption der R.s-Lehre durch und sprach von einer „Relativität des Rechtsinhalts“ (Siebert 1934: 89; Herv. i. O.), derzufolge erst in der Ausübung festzustellen sei, ob überhaupt ein subjektives Recht besteht. Aus dem richterlichen Eingriff in eine Rechtsposition wurde so richterliche Rechtsfeststellung, was schon den äußeren Anschein einer Enteignung beseitigen sollte. Nach 1945 wurde diese R.s-Lehre von ihrer Bindung an nationalsozialistische Prinzipien stillschweigend befreit und undiskutiert fortgeführt. Während in Frankreich und Italien die Doktrin weiterhin versucht, bestimmte Missbrauchsfälle zu typisieren und damit dogmatisch einzufangen, stellt sich in Deutschland die zivilrechtliche R.s-Lehre als völlig freies Richterrecht dar. Die deutsche Lösung über „Treu und Glauben“ hat inzwischen in vielen Ländern Europas Nachahmer gefunden. Der Richter kann unter Berufung auf „Treu und Glauben“ in diesen Ländern scheinbar beliebig in Rechtspositionen eingreifen. Die Privatrechtsdoktrin hat damit eine eigene Bestimmung des subjektiven Rechts als Abwehrrecht gegen den Staat aufgegeben und die Festlegung der Grenzen dem Verfassungsrecht überantwortet.