Politische Soziologie

1. Abgrenzung

Die Frage nach der Bestimmung „des Politischen“ bzw. „der Politik“ prägt die Geschichte nicht nur des europäischen Denkens seit dessen Anfängen. Ebenso gehört die Analyse staatlicher und nicht-staatlicher Formen der herrschaftlichen Strukturierung sowie der machtförmigen Verfasstheit (Macht) sozialer Handlungsspielräume und der spezifisch gesellschaftlichen Voraussetzungen als politisch verstandenen Handelns von Anfang an zu den klassischen Forschungsschwerpunkten der Soziologie. Für den Zugang einer soziologischen Forschungsperspektive sind dabei zwei Rahmenbedingungen bedeutsam: Einerseits kann sie sich eine leitende Definition des Politischen weder vom Alltagsverständnis noch von anderen wissenschaftlichen Disziplinen vorgeben lassen, sondern sie steht vor der Aufgabe, ein eigenes Verständnis und eine dem analytischen Potential ihrer theoretischen wie empirischen Forschungskompetenz entsprechendes Verständnis „des Politischen“ und „der Politik“ zu entwickeln. Andererseits folgt aus der multiparadigmatischen Konstellation in der Soziologie, dass jedes Profil P.r S. von den Konturen des sie anleitenden Verständnisses von allgemeiner Soziologie abhängt.

In der jüngeren Vergangenheit ist nicht nur das Verständnis der Begriffe „Politik“ und „politisch“ zwischen Soziologie und Politikwissenschaft umstritten, sondern ebenso die Frage nach dem Forschungsansatz P.r S., die in beiden Disziplinen jeweils eigenständige Forschungsgebiete bilden. Im Rahmen des politikwissenschaftlichen Teilgebietes dominiert in Wahl-, Parteien-, Verbände-, Eliten- und Kulturforschung ein eher empiristisch-institutionelles Verständnis des Politischen. Demgegenüber zielen soziologische Ansätze vorrangig auf die theoretische wie empirische Analyse sozio-historischer Prozesse der Etikettierung von Handlungen und Handlungsbereichen als „politisch“, auf die Untersuchung der sozialen Voraussetzungen, Strukturen und (Neben-)Folgen von als „politisch“ etikettierten Interaktionen sowie auf die Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlichen und „politischen“ Prozessen. Politisches Handeln, politische Prozesse, Institutionen und Strukturen werden damit als historisch veränderliche, sozio-kulturell gerahmte und immer wieder umstrittene Phänomene deutlich. Entspr. konzentriert sich das soziologische Interesse einerseits auf die Erweiterung einer vorrangig auf etablierte „politische“ Institutionen ausgerichteten Analyse, andererseits auf eine Absage an eine kulturalistische Auflösung „des Politischen“, die „Politisches“ mit „Sozialem“ schlicht gleichsetzen würde. Kern politisch-soziologischer Analysen bilden somit Bedingungen und Strukturen, Ereignisse und Dynamiken sowie Wirkungen und (Neben-)Folgen als „politisch“ bezeichneter Prozesse sowie diese selbst.

2. Ansätze

Wie für die abgrenzende Bestimmung des Begriffs gilt auch für die Ansätze der P.n S., dass deren Zuschnitt stets auf die leitende Konzeption von Soziologie verweist. Zugleich reflektiert die Veränderung von Schwerpunkten politisch-soziologischer Analysen die Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse und Relevanzen. Insofern sich die Soziologie um den Wechsel vom 19. zum 20. Jh. als akademische Disziplin etabliert, ist ihr Reflexionshorizont zunächst deutlich vom nationalstaatlichen Blick geprägt. Das gilt sowohl für die frühen Arbeiten zur Elitentheorie (Eliten) und Parteiensoziologie (Parteien) als auch für die von Max Weber generell betonte „herrschaftliche Struktur“ (Weber 1980: 541) gesellschaftlicher Wirklichkeit, die er auf die Frage der Legitimationsgeltung von Herrschaft zuspitzt. Für deren Untersuchung in historisch vergleichender Perspektive unterschied er die drei Ideatypen „legitimer Herrschaft“: traditionale, charismatische und rational-legale Herrschaft. Diese Typen sind nicht i. S. eines strengen geschichtlichen Entwicklungsverlaufs zu lesen, sondern akzentuieren ein fortschreitendes Dominantwerden des rational-legalen Typus in sich modernisierenden Gesellschaften, ohne dass die beiden anderen Typen als gesellschaftliche Phänomene verschwinden.

Ein breiter angelegtes Verständnis „des Politischen“ liegt v. a. in der Tradition der Machtanalysen vor, während demgegenüber ein engeres Verständnis von Politik als „politisches System“ verbunden mit einer Bestimmung des Politikbegriffs als „kollektiv verbindliches Entscheiden“ identifiziert werden kann. Ein engeres, weitgehend von ökonomischen Prozessen her angelegtes Verständnis von Politik und Staat begegnet in Arbeiten, die in der Tradition des Denkens von Karl Marx argumentieren. Der Untersuchung von Deutungsmustern politischer Akteure und Verständnisse „des Politischen“ widmet sich im Zuge seines Spätwerkes insb. Karl Mannheim. Demgegenüber erweitert Jürgen Habermas diesen analytischen Zugriff mit Blick auf die Strukturen der Öffentlichkeit und die Bedeutung des Rechts in modernen Gesellschaften. Konzeptionell verlängert werden M. Webers Analysen schließlich v. a. in Arbeiten, die die Bedeutung von Transnationalisierungs- und Globalisierungsprozessen (Globalisierung) für die Konturen P.r S. im Zuge des ausgehenden 20. Jh. in den Vordergrund rücken. Daneben treten verstärkt seit Ende des 20. Jh. einerseits philosophisch inspirierte poststrukturalistische Ansätze, die über eine Dekonstruktion der klassischen Grundbegriffe soziologischer Analysen ein breites Verständnis „des Politischen“ postulieren, andererseits feministische Analysen (Feminismus), die u. a. auf die Bedeutung der Kategorie „Geschlecht“ für ein Verständnis gesellschaftlicher Machtverhältnisse aufmerksam machen. In verschiedenen Hinsichten überschneiden sich die Reflexionslinien nicht nur mit denen der Politischen Philosophie und Politischen Theorie, sondern insb. mit der Politischen Anthropologie.

3. Forschungsfelder

Die Forschungsfelder der P.n S. lassen sich entlang der Unterscheidung der jeweils eingenommenen Forschungsperspektive (makro-, meso-, mikro-soziologisch) differenzieren. So untersucht die politisch-soziologische Analyse ihren Gegenstand schwerpunktmäßig ausgehend entweder von sozialen oder gesellschaftichen Strukturen und Kulturen, von Institutionen, Parteien und Bewegungen oder aber von Handlungs- und Interaktionsprozessen.

Zu den intensiv verhandelten Fragen gehören diejenigen nach der (anhaltenden) Relevanz des nationalstaatlichen Bezugsrahmens von Politik angesichts von Europäisierungs- und Globalisierungsprozessen und diejenige nach dem Zusammenhang von kultureller Pluralisierung und Heterogenisierung (Diversität) mit einer fortgeschrittenen Politisierung sozialer Prozesse. Seit der „Wiederentdeckung der P.n S.“ im Gefolge der Transformation der Ost-Mitteleuropäischen Staaten nach 1989 hat sich das politisch-soziologische Forschungfeld ausgesprochen dynamisch entwickelt. Dabei wurden überdies – nicht zuletzt im Kontext der Diskussion um die civil society (Zivilgesellschaft) – ein klassisches Verständnis von P.r S. im Sinne von Demokratiewissenschaft erneuert.

Im Rahmen der politisch-soziologischen Gewaltforschung haben in der jüngeren Vergangenheit sowohl Analysen der veränderten Formen und des aktuellen Bedrohungsszenarios durch terroristische Aktivitäten als auch Untersuchungen zu Überwachungs- und Sicherheitsszenarien und der Sozialform des Lagers sowie zu Analysen sexualisierter Gewalt an Bedeutung gewonnen. Darüber hinaus findet die Analyse von Radikalisierungsprozessen sowie des Aufstiegs populistischer Bewegungen und der Typik des Populismus ebenso verstärkte Aufmerksamkeit. Diese Verschiebungen des Interessenfeldes der P.n S. unter Bezug auf aktuelle Problem- und Forschungsfelder und die Analyse „des Politischen“ bzw. von „Politik“ im Verhältnis zu anderen gesellschaftlichen Funktionsbereichen moderner Gesellschaften, dokumentieren gut ihre Sensibilität für veränderte Konstellationen „des Politischen“ in sich verändernden Gesellschaften.