Parlamentsrecht

Das P. ist der Inbegriff derjenigen Rechtsnormen, die die Stellung des Parlaments (Parlament, Parlamentarismus) in der Verfassung, seine innere Organisation und sein Verfahren zum Gegenstand haben. Es ist damit neben dem Wahlrecht, mit dem es sehr eng zusammenhängt, der wichtigste Teil des institutionellen Verfassungsrechts, auch wenn sich seine Regelungen zum größten Teil nicht in der Verfassungsurkunde, sondern in der Geschäftsordnung, in Verfahrens- und Organisationsgesetzen und Regeln des Gewohnheitsrechts finden. Typische Regelungsgegenstände des P.s sind das Gesetzgebungsverfahren (Gesetzgebung) im Parlament, Aufgaben und Wahl der parlamentarischen Leitungsorgane, die Binnenorganisation des Parlaments in Ausschüsse und Fraktionen, die Rechtsstellung der Mitglieder (Abgeordneter), die parlamentarische Kontrolle der Regierung (Politische Kontrolle) einschließlich der mündlichen Befragung der Regierung im Parlament und die Aufstellung der parlamentarischen Agenda. Es ist damit das Bindeglied zwischen dem Prinzip parlamentarischer Repräsentation und den Entscheidungen der Repräsentativkörperschaft Parlament. Darin liegt seine fundamentale demokratische Bedeutung. Die juristische Struktur und Reichweite des P.s werden wesentlich durch die Art des Regierungssystems und die politischen Befugnisse des Parlaments bestimmt. Dass das P. unter dieser Bezeichnung (französisch: droit parlementaire; italienisch: diritto parlamentare) als distinkter Korpus von Rechtsvorschriften zusammengefasst wird, ist eine Besonderheit kontinentaler Parlamente. Im Common Law spricht man dagegen meist, was auf bedeutende Unterschiede in der Sache verweist, von parliamentary procedure oder parliamentary practice.

1. Ursprünge und Entwicklungslinien

Die Bezeichnung P. geht zurück auf ein 1689 unter dem Titel „Lex Parliamentaria: Or a Treatise of the Law and Custom of the Parliaments of England“ (Petyt 1689) erschienenes Kompendium. Der Sache nach ist aber bereits das um 1300 entstandene „Modus tenendi Parliamentum“ ein Dokument des P.s, das zunächst v. a. das Recht des gerichtlichen Verfahrens des „High Court of Parliament“ regelt, wie bis heute der förmliche Titel des Westminster-Parlaments lautet. Das neuzeitliche P. entstand jedoch erst mit dem Übergang zur parlamentarischen Repräsentation auf der Basis des freien Mandats. Erst die politische Herrschaft durch eine Versammlung, deren Mitglieder frei und einander rechtlich gleich sind, unterscheidet deren Recht kategorial von sonstigen Körperschaften und macht darum ein eigenes P. nötig. Dieser Übergang vollzog sich in England evolutionär mit dem Übergang zur parlamentarisch verantwortlichen Regierung Mitte des 18. Jh., in Frankreich und in den USA mit den gesetzgebenden Versammlungen nach den Revolutionen, in den deutschen Staaten dagegen nur allmählich im Laufe des 19. Jh. Diesen unterschiedlichen Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen des P.s entsprechen unterschiedliche verfassungsrechtliche Begründungen seiner rechtlichen Eigenarten. So steht im britischen P. die völlige Freiheit innerparlamentarischer Vorgänge von jeglicher äußerer Kontrolle (parliamentary privilege) im Mittelpunkt; eine Vorstellung, die namentlich dem deutschen P. ganz fremd ist. Dagegen wird die Autonomie beider Häuser des amerikanischen Kongresses, ihre rules of proceedings zu bestimmen (Art. I Sec. 5 cl. 3 der US-Verfassung), in erster Linie als Sicherung der Gewaltenteilung und des Bikameralismus verstanden. Wiederum anders war das französische P. seit seinen revolutionären Anfängen stärker vom Gesetzesbegriff her gedacht. Das deutsche P. entwickelte sich dagegen in der defensiven Position der Parlamente im Konstitutionalismus, deren politische Stellung im und gegenüber dem monarchischen Staat bis 1918 verfassungsrechtlich prekär blieb, weshalb sich zur Bezeichnung der Regelungsaufgaben des P.s die sehr enge Formel „Geschäftsgang und Disziplin“ einbürgerte (BVerfG 11.1.1995 – 2 BvE 5/94, Rdnr. 27).

Die unterschiedenen nationalen parlamentsrechtlichen Traditionen unterlagen stets intensiver gegenseitiger Rezeption und Beeinflussung. So entstand das französische P. nach einer frühen Übersetzung von Jeremy Benthams „Essay on Political Tactics“ (1791) in enger Auseinandersetzung mit dem englischen, dessen erste systematische Gesamtdarstellung Anfang des 20. Jh. der österreichische Jurist und Politiker Josef Redlich schrieb und das durch die intensive Rezeption von Präzedenzfällen auch die Praxis des amerikanischen Kongresses v. a. in der Frühphase prägte. Umgekehrt wurde Thomas Jeffersons während seiner Zeit als amerikanischer Vizepräsident und damit Präsident des Senats entstandene „A Manual on Parliamentary Practice“ (1801) auch in Frankreich rezipiert. Unterdessen veränderte sich gerade das britische P., an dem man i. d. R. seine bes. Anciennität hervorhebt, während des 19. Jh. dramatisch, als die Kontrolle der parlamentarischen Agenda ein fast exklusives Recht der Regierung wurde. Auf das deutsche P. hat zunächst in den Volksvertretungen im Vormärz, in der Nationalversammlung der Paulskirche und schließlich v. a. im Reichstag ab 1867 bes. das Geschäftsordnungsrecht der französischen Assemblée Nationale Einfluss ausgeübt. Die von Julius Hatschek u. a. unternommenen Versuche, das deutsche P. stärker an das englische Vorbild anzulehnen, scheiterten, da die verfassungs-, wahl- und organisationsrechtlichen Rahmenbedingungen des P.s in Deutschland stets ganz andere waren. Insb. hatte sich in Deutschland bis in die Bundesrepublik trotz entsprechender Ansätze in der WRV kein parlamentarisches Regierungssystem im strengen Sinne etabliert. Das ist für das P. insofern bedeutsam, als dieser Verfassungstyp auf einer engen politischen und institutionellen Verbindung von Regierung und parlamentarischer Mehrheit beruht, weshalb das P. gerade auch die Interaktion von Regierung und parlamentarischem Verfahren zu regeln hat. Das kommt im deutschen P., dessen Regelungsstruktur auf die Parlamente des Kaiserreichs zurückgeht, bis heute nur unzureichend zum Ausdruck. Dagegen kann sich das P. gewaltenteilender Verfassungen typischerweise auf die interne Willensbildung der Legislative einschließlich der parlamentarischen Disziplin beschränken.

Seit den Anfängen der europäischen Integration hat sich – aus einem Amalgam der mitgliedstaatlichen, v. a. französischer Bestände des P.s – in der GOEP und anderen Rechtsvorschriften auch ein europäisches P. entwickelt, dessen Bedeutung seit dem Ausbau der Kompetenzen des Europäischen Parlaments im Gesetzgebungsverfahren und seit der Parlamentarisierung der Europäischen Kommission durch die Verträge von Maastricht (1992) und Lissabon (2008) stark zugenommen hat.

2. Bestand und Regelungsformen

Zu den verfassungsrechtlichen Teilen des deutschen P.s gehören insb. die in Art. 38–48 GG getroffenen Regelungen über den Status der MdB, über die Dauer der Wahlperiode, die innere Ordnung, die Geschäftsordnungsautonomie und das Verfahren des Bundestages, insb. über das Verhältnis von Parlament und Regierung (Art. 43 GG), ferner die Vorschriften über die parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung (Art. 65 S. 1 und 2 GG) und das Gesetzgebungsverfahren (Art. 77 GG). Dabei ist man sich einig, dass das Regierungssystem im GG nur fragmentarisch geregelt ist. Entspr. groß ist die Bedeutung der GOBT, der wichtigsten Quelle des P.s. Sie folgt in Aufbau und Struktur mit etlichen Modifikationen noch immer der Geschäftsordnung des Reichstages, die seither immer wieder reformiert, aber nicht grundsätzlich geändert wurde. Daran zeigt sich das fundamentale Problem des deutschen P.s: Während das Regierungssystem parlamentarisch ist und deswegen eigentlich eine Rechtsform des P.s erfordert, die gerade auch die Regelung des Verhältnisses zur Regierung und insb. die Ausgestaltung ihrer parlamentarischen Verantwortlichkeit erlaubt, tradiert der Bestand des Geschäftsordnungsrechts das Recht eines Parlaments, das in vordemokratischen Zeiten nur das innere Gesetzgebungsverfahren und die parlamentarische Disziplin, nicht aber den parlamentarischen Zugriff auf die Regierung regeln konnte. Die immer noch verbreitete Lehrmeinung, das Geschäftsordnungsrecht habe keine „Außenwirkung“ und könne nur die Mitglieder des Parlaments, insb. aber nicht die Bundesregierung binden, ist deswegen schwerwiegenden Einwänden ausgesetzt. Eine verfassungsrechtliche Begründung besitzt sie außer dem kargen Hinweis auf die reflexive Formulierung des Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG nicht. Weil aber namentlich das BVerfG in seiner Rechtsprechung und die überwiegende Meinung in der Literatur immer noch auf dem Standpunkt dieser sogenannten Satzungstheorie stehen, musste die rechtliche Verknüpfung von Parlament und Regierung im P. der Bundesrepublik anders bewerkstelligt werden. So erklärt sich namentlich die Abwanderung weiter Teile des P.s in formelle Gesetze. Das AbgG etwa regelt seit 1977 den Rechtsstatus und die Alimentation der MdB sowie einen Teilbereich des Rechts der Fraktionen. § 44b AbgG ist zudem die Grundlage der sogenannten Verhaltensregeln des Bundestages (GOBT Anlage 1). In einer wegen der Freiheit des Mandats (Art. 38 Abs. 1 GG) nicht unproblematischen Weise sehen sie umfassende Verpflichtungen zur Offenlegung („Transparenz“) von Einkünften neben der Abgeordnetenentschädigung vor. Das PUAG gestaltet Kompetenzen und Verfahren parlamentarischer Untersuchungsausschüsse (Art. 44 GG) näher aus. Das Parlamentsbeteiligungsgesetz regelt die Modalitäten der Zustimmung des Bundestages zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Nur teilweise in der Geschäftsordnung (§§ 93–93d GOBT), überwiegend durch formelle Gesetze wie das IntVG und das EUZBBG geregelt ist auch die Einbindung des Bundestages in die Europapolitik. Mit dieser als Folge des deutschen Begriffs der Geschäftsordnung unvermeidlichen Durchsetzung der Gesetzesform haben sich die älteren verfassungsrechtlichen Zweifel, ob der Bundestag sein P. überhaupt durch Gesetz regeln dürfe, erledigt. Das BVerfG steht zwar nach wie vor formelhaft auf dem 1986 entwickelten Standpunkt, eine gesetzliche Regelung des P.s sei nur zulässig, wenn der Bundesregierung keine Einwirkungsmöglichkeiten auf die Willensbildung des Bundestages eröffnet werden, das Gesetz nicht der Zustimmung des Bundesrates bedarf, der Kernbereich der Geschäftsordnungsautonomie nicht berührt ist und gewichtige Gründe für die Wahl der Gesetzesform sprechen (BVerfGE 70,324 [361 f.]). Die umfassende Regelung vieler Materien durch Gesetze seither hat das Gericht gleichwohl stets gebilligt.

3. Politische Prinzipien und gegenwärtige Herausforderungen

Die politischen Prinzipien des P.s werden wesentlich durch die ihm zugrunde liegende Idee parlamentarischer Repräsentation bestimmt, wie sie in der Bundesrepublik durch das System der modifizierten Verhältniswahl geformt ist. Ihr entspricht innerhalb des Parlaments die starke Stellung der Fraktionen, bei denen alle wesentlichen politischen Befugnisse monopolisiert sind (Gesetzgebungsinitiative u. a. wichtige Antragsrechte, Verlangen namentlicher Abstimmung, Große Anfragen) und die durch die Vertretung ihrer Parlamentarischen Geschäftsführer im Ältestenrat die Kontrolle über die parlamentarische Tagesordnung ausüben. Dem P. liegt dabei analog zum Wahlrecht das Prinzip parteiproportionaler Verteilung der politischen Schlüsselpositionen zugrunde: Dies gilt nach § 12 GOBT, einer der zentralen Vorschriften des P.s überhaupt, namentlich für die Verteilung der Ausschusssitze und der Ausschussvorsitze, aber auch der Redezeiten der Fraktionen in der Plenardebatte. Dagegen sind die P.e von Staaten mit Mehrheitswahlrecht (Großbritannien, USA) sehr viel stärker dem Gedanken der Kontrolle der Mehrheit über das parlamentarische Verfahren verpflichtet.

Das P. der Gegenwart sieht sich in mehrfacher Hinsicht den größten Herausforderungen seit der Zwischenkriegszeit ausgesetzt. Das gilt zum einen für den Strukturwandel exekutiver Macht, der neue Formen der parlamentarischen Kontrolle erforderlich macht, aber auch für die zunehmende Integration von europäischer und mitgliedstaatlicher Gesetzgebung, die durch die Verknüpfung der Willensbildung auf beiden Ebenen in einem „Mehrebenen-P.“ aufgefangen werden soll. V. a. aber ist die Gegenwart gekennzeichnet durch die Wiederkehr des Phänomens parlamentarischer Obstruktion, das über Jahrzehnte aus den Parlamenten westlicher Staaten verschwunden war. Seit der Ideologisierung des US-Kongresses v. a. in der Zeit von Newt Gingrich als Speaker of the United States House of Representatives, der Polarisierung des britischen Unterhauses v. a. während des EU-Austrittsprozesses, seit der zunehmenden Präsenz von rechtsradikalen Mitgliedern im Europäischen Parlament und dem Einzug der AfD in den Bundestag 2017 stellt sich immer grundsätzlicher die Frage, wie das P. auf obstruktive Taktiken und die Nutzung des parlamentarischen Plenums für die Inszenierung von Tabubrüchen reagieren kann. Dies gilt insb. für den Bundestag, der im P. seit langem eine ausgesprochene Konsenskultur pflegt. Ob er in dieser Pfadabhängigkeit bleibt, ist in erster Linie eine politische, verfassungsrechtlich kaum determinierte Frage.