Kultursoziologie

K. ist zum einen eine Sammelbezeichnung für unterschiedliche spezielle Soziologien, die sich relevanten Bereichen menschlicher Kulturproduktion widmen, so der Musik, der Kunst, der Literatur, der Architektur u. a.n mehr. Zum anderen steht K. aber auch für eine eigenständige Richtung innerhalb der soziologischen Theoriebildung, die, anders als z. B. materialistische Theorien in der marxistischen Traditionslinie (Materialismus, Marxismus) oder soziologistische Theorien in der Nachfolge Emile Durkheims, die bis heute daran glauben, dass Soziales nur aus Sozialem bzw. aus Materiellem erklärt werden könne, grundsätzlich davon ausgehen, dass Kultur, also das weite Feld der Ideen und ihrer sozialen, politischen, ökonomischen und ästhetischen Ausdrucks- und Handlungsformen, einen notwendigen Bestandteil des menschlichen Lebens darstellt und deshalb für eine zutreffende Analyse gesellschaftlicher Entwicklungen mindestens ebenso relevant ist wie sozialstrukturelle Bedingungen und Verhältnisse. K. geht zurück auf die beiden Klassiker der deutschen Soziologie, auf Georg Simmel, der die Aufgabe der Soziologie darin sah, „dem historischen Materialismus ein Stockwerk unterzubauen, derart, daß der Einbeziehung des wirtschaftlichen Lebens in die Ursachen der geistigen Kultur ihr Erklärungswert gewahrt wird, aber eben jene wirtschaftlichen Formen selbst als das Ergebnis tieferer Wertungen und Strömungen, psychologischer, ja metaphysischer Voraussetzungen erkannt werden“ (Simmel 1922: VIII), und auf Max Weber, dessen klassische Formulierung aus der Einleitung zur „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“: „Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die ‚Weltbilder‘, welche durch ‚Ideen‘ geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte“ (Weber 1978: 252) geradezu als Leitsatz kultursoziologischer Theoriebildung gelten kann.

Heute präsentiert sich K. als soziologische Theorierichtung in vielfältigem Gewande. Neben einer handlungstheoretisch (Handlungstheorie) orientierten, weitgehend an die Forschungsprogrammatik M. Webers anschließende K., lassen sich noch mehrere andere kultursoziologische „Theorierichtungen“ identifizieren: so eine eher „phänomenologisch“ orientierte Kultur- und Wissenssoziologie in der Tradition Thomas Luckmanns, Peter Ludwig Bergers und Hans-Georg Soeffners, eine v. a. durch Pierre Bourdieu und Michel Foucault geprägte, „konstruktivistische“ K., (Konstruktivismus) sowie eine an Norbert Elias angelehnte, „zivilisationstheoretische“ K. Auch die angelsächsischen Cultural Studies und bestimmte Weiterführungen der Kritischen Theorie lassen sich der K. zuordnen. Trotz aller Unterschiede im Detail gibt es aber durchaus so etwas wie eine gemeinsame Basis. Diese lässt sich in den programmatischen Prämissen der neueren deutschen K., wie sie in den 70er Jahren des 20. Jh. von Friedrich Heinrich Tenbruck, Wolfgang Lipp u. a. aufgestellt wurden, wie folgt wiedergeben:

a) Aus der philosophischen Anthropologie übernimmt K. die Vorstellung des Menschen als einem Kulturwesen, das weder durch seine Naturanlagen hinreichend gesteuert noch durch seine Verstandesfähigkeiten bloß auf eine optimale Adaption an äußere Gegebenheiten festgelegt wird. Als kulturfähiges, kulturwilliges und kulturbedürftiges Wesen ist der Mensch vielmehr gefordert, sich seine eigene Wirklichkeit aus Ideen und Werten selbst zu schaffen. Erst durch die Bedeutungen, die er seinem Handeln gibt, konstituieren sich für ihn Welt, Selbst und Gesellschaft.

b) Kultur verwirklicht sich in Gesellschaft. Weil der Mensch ein Kulturwesen ist, müssen soziale Beziehungen auch immer Kultur werden, also für das individuelle und soziale Handeln (Handeln, Handlung) Bedeutungen entwickeln, die es tragen. Kultur steht dann für die charakteristischen Bedeutungsmuster der Gesamtgesellschaft, für die Summe der „geglaubten Wirklichkeiten“, für ihre Gesamtkultur in der Selbstverständlichkeit sozialer Überlieferung. Damit ist aber nicht nur der jeweilige Ideengehalt gemeint, sondern auch die sozialen Formen ihrer kultischen (Kult) Bewahrung und ihrer institutionellen Verankerung sowie der ganze Bereich ihrer ästhetischen Materialisierung.

c) Dieser gesamtgesellschaftliche Kulturbegriff wird allerdings sofort wieder aufgelöst. Er ist nur eine – gleichwohl theoretisch notwendige – Fiktion. Denn Kultur verteilt sich in fast jeder Gesellschaft innerhalb unterschiedlicher sozialer Gruppen in je spezifischen Formen. Der Gegensatz von „repräsentativer Kultur“ und „Volkskultur“ oder „Popkultur“ (Populärkultur), von „Hochkultur“ und „Alltagskultur“ ist nur ein Ausdruck dieses Sachverhalts. Die Verteilung von Kultur in einer gegebenen Gesellschaft zu erfassen und zu beschreiben, ist immer eine empirische Aufgabe.

d) Kultur ist dynamisch. Kultur ist kein Objekt, sondern eine Relation und deshalb dauernd in Bewegung. Vielleicht wäre es sogar der Sachlage angemessener, den Gegenstand der K. nicht mehr länger in der „Kultur“, sondern im „kulturellen Wandel“ zu sehen. Die K. muss sich jedenfalls des dauernden Gestaltwandels ihres Gegenstandes bewußt sein.

Ausgehend von diesen theoretischen Grundannahmen ergibt sich dann ein spezifisch kultursoziologisches Forschungsprogramm. Aufgabe der K. ist demnach:

a) Die Erfassung und Beschreibung der Bedeutungsmuster oder der „geglaubten Wirklichkeiten“, welche dem individuellen wie dem sozialen Handeln der Menschen, explizit oder implizit, quer durch alle Handlungsbereiche und Institutionen als Voraussetzungen und Intentionen Halt und Sinn geben.

b) Die Suche nach den Ursachen, Modalitäten und Orten der Entstehung solcher Bedeutungsmuster oder „geglaubten Wirklichkeiten“. Warum, wie und wo haben sich Ideen, Bedeutungen und Werte gebildet? In welchen symbolischen Formen und Praktiken treten sie auf? Wie verfestigen sie sich zu Institutionen, Weltbildern, zu Dogmen oder kanonisierten Lehrsätzen?

c) Die Identifikation der Akteure, ihrer Strategien und Interessen. Welche stummen oder ausdrücklich formulierten Traditionen bestimmen gängige Bedeutungsmuster? Wer sind diejenigen, die sie thematisieren, verwalten und begründen, wie gehen sie dabei vor und von welchen Interessen werden sie dabei geleitet? Welche neuen Bedeutungsmuster, „geglaubte“ oder auch „hergestellte Wirklichkeiten“ entstehen? Wer bringt sie ins Spiel, aus welchen Motiven und mit welchen Strategien und Absichten?

d) Die Suche nach den Sozialformen und typisierten Handlungen, in denen „geglaubte“ oder „hergestellte Wirklichkeiten“ soziale Gestalt annehmen. Welche Verhaltensstandardisierungen, Rollen (Soziale Rolle) und Normen und welche sozialen Gruppen (Gemeinschaften, Assoziationen, Szenen) bilden sich um welche Bedeutungsmuster? Wie sind diese Gruppen strukturiert und organisiert, wie ist das Verhältnis zwischen Elite, Mitläufern und bloßen Sympathisanten?

e) Die Beschreibung und Analyse jener alltäglichen Gebrauchsgegenstände (von der Kleidung über die Wohnungseinrichtung bis hin zur Architektur u. a. künstlerischen Produkten), in denen sich „geglaubte“ oder „hergestellte Wirklichkeiten“ materialisieren. Was ist gerade „in“ und was ist gerade „out“? Wie sehen die alltagsästhetischen Präferenzen (Moden) der Menschen aus? Wie wandeln sie sich, und wer lenkt diesen Wandel? Welche Rolle spielen dabei Medien und Kulturindustrie?

f) Die Analyse der Kulturbedeutung solcher „geglaubter“ oder „hergestellter Wirklichkeiten“. Welche Logik und Dynamik liegt ihnen zugrunde? Welche Macht üben sie über das Handeln der Menschen, der Institutionen und über gesellschaftliche Entwicklungen aus? Welche Wertpräferenzen und Wertentscheidungen lassen sie zu und welche schließen sie aus?

Eine K., die sich solche Fragen stellt, überschreitet zum einen die engen Grenzen soziologischer Binnendifferenzierung. Sie versteht sich nicht als spezielle Soziologie neben anderen, sondern als einen spezifischen theoretischen Zugang zur sozialen Wirklichkeit. Und eine K., die solche Fragen stellt, ist zum anderen notwendig auf Zusammenarbeit mit anderen Kulturwissenschaften angewiesen, insb. auf die Geschichtswissenschaft, weil kultursoziologische Fragestellungen ohne eine vertiefte Kenntnis geschichtlicher Zusammenhänge nicht möglich sind, aber auch auf Kooperationen mit der Ethnologie und Volkskunde, der Religionswissenschaft und der Philosophie, den Theologien und den Literatur-, Musik-, Kunst- und Theaterwissenschaften und vielen anderen mehr. K. versteht sich dann als eine interdisziplinär angelegte, eigenständige Theorie- und Forschungsdisziplin innerhalb der Soziologie.