Historische Rechtsschule

Drei zentrale Punkte und einige Konsequenzen erklären das Phänomen H. R.: Friedrich Carl von Savigny als ihr unumstrittener Repräsentant, das wissenschaftstheoretische Fundament und die gesellschaftspolitische Position.

1. Das wissenschaftstheoretische Fundament

Das wissenschaftstheoretische Fundament wird 1814/15 verkündet: in der berühmten Streitschrift „Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“ und in dem Gründungsprogramm „Über den Zweck dieser Zeitschrift“ zu der neuen „Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft“. Deren drei Titelworte waren alle neu, spezifisch und theoriegeladen:

Rechtswissenschaft war aufgekommen seit den 1790ern. System statt Aggregat hieß nun die Losung. Ziel war ein „nach Prinzipien geordnetes Ganze[s]“ (Kant 1786: IV) – aber dies nicht durch bloß „formales“ Sammeln und Ordnen, wie es nach Immanuel Kant einer (auch) empirischen Wissenschaft zukam. Die H. R. zielte auf ein materiales oder inneres System gemäß dem objektiven Sinn im Sein. Da alles Sein als geschichtlich erschien, hatte die neue Wissenschaft geschichtlich zu sein.

Mit dem bewusst deutschen geschichtlich statt des geläufigeren „historisch“ betonte Savigny ebenso wie mit Zeitschrift statt „Journal“ die Sinntradition des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und des rezipierten europäischen Ius commune.

Geschichtlich scheint uns klar. Savigny sprach aber von „eigentlich–geschichtlich“ (Rückert 1984: 331). Das sollte hinausführen über das etablierte gelehrte und kritisch-historische Arbeiten, wie es eine ebenfalls bedeutende Strömung vertrat, z. B. Gustav Hugo, Gottlieb Hufeland, Paul Johann Anselm Feuerbach, Barthold Georg Niebuhr. Die Geschichte (Geschichte, Geschichtsphilosophie) wurde Ideal, nicht bloße Geschichten. Ganz schief wird der H.n R. oft ein „modernes“ historistisch-kritisches Geschichtsverständnis zu- oder abgesprochen, das bei aller Beherrschung der Quellenkritik gerade nicht das ihre war. Zur Geschichte gehörte hier untrennbar das „Enthüllen“ oder „Herausfühlen“ (Savigny 1814: 22) „innerer Notwendigkeit“, „organischen Princips“ oder „Zusammenhangs“ (Savigny 1814: 8, 11, 22, 37; 11, 105 f., 112), kurz: von wahrem Sinn im Sein. In dieser Doppelorientierung sah Savigny sogar explizit den „wissenschaftlichen Charakter“ (Savigny 1814: 22). Daraus entwickelte die H. R. ihre Prinzipienjurisprudenz. Mit diesem philosophischen Element trat die H. R. in die bekannte Konkurrenz zur von ihr sogenannten „ungeschichtlichen“ Schule (Savigny 1815: 2), also zu Nikolaus Thaddäus Gönner, Anton Friedrich Justus Thibaut und anderen. Das war nicht naiv polemisch oder sinngläubig gedacht, sondern ganz zeitgemäß philosophisch-metaphysisch. Savigny kombinierte nun kantische Systemanstrengung, materiale Geschichte und empirische Energie zu einem vielbewunderten, höchst ergiebigen Zugriff.

Alle grundlegenden Positionen der H.n R. basieren auf diesem Fundament. Das gilt auch für die Geschichtswissenschaft seit Franz Leopold Ranke (ab 1824) und die Nationalökonomie seit Wilhelm Roscher (ab 1843). In der Tat kann mit Savignys Worten der Gegensatz „nicht gründlich verstanden werden, solange man den Blick auf diese unsre Wissenschaft beschränkt, da er vielmehr ganz allgemeiner Natur ist, und mehr oder weniger in allen menschlichen Dingen, am meisten aber in allem, was zur Verfassung und Regierung der Staaten gehört, sichtbar wird“ (Savigny 1815: 2). Diese Positionen wurden gerade erst um 1800 philosophisch und juristisch ausgearbeitet. Die Jurisprudenz spielte dabei die Rolle einer Leitwissenschaft. Die „geschichtliche Schule“ wurde für ein bis zwei Generationen ihr Stimmführer.

2. Rechtswissenschaftliche Konsequenzen

Rechtswissenschaft muss dann doppelt „geschichtlich“ begriffen werden: „Ein zweyfacher Sinn ist dem Juristen unentbehrlich: der historische, um das eigenthümliche jedes Zeitalters und jeder Rechtsform scharf aufzufassen, und der systematische, um jeden Begriff und jeden Satz in lebendiger Verbindung und Wechselwirkung mit dem Ganzen anzusehen, das heißt in dem Verhältnis, welches das allein wahre und natürliche ist“ (Savigny 1814: 48). Nur so konnte „Wissenschaft“ werden, über das juristische Handwerk, die aktuelle Dogmatik und die Gelehrsamkeit hinaus. Das nannte Savigny schon 1802/03 eine „Neue Ansicht für die Wissenschaft: historische Behandlung im eigentlichen Sinn, d. h. Betrachtung der Gesetzgebung als sich fortbildend in einer gegebenen Zeit“ (Savigny 2004: 93) – offenbar beeindruckt von Friedrich Wilhelm Joseph Schellings gleichzeitigen Methodenvorlesungen. Gegenüber den neuen Kodifikationen in PrALR 1794, Code Civil 1804 und Allgemeinem Bürgerlichen Gesetzbuch 1811, die die Wissenschaft zu begrenzen suchten, hat Savigny sie konsequent, energisch und erfolgreich verteidigt.

3. Gesetzgebung. Muster

Gesetzgebung wird damit zu einer historisch-wissenschaftlichen Aufgabe statt zu einer Planung der Vernunft. Sie soll den materialen Sinn der Rechtsentwicklung erfassen. Intervention nach erdachten Werten erscheint als Hybris und Störung. Eine Art von „Gewohnheitsrecht“ in einem tieferen Sinn (Savigny 1814: 14) soll zu Tage gefördert werden. Konsequent wird das spontane Privatrecht zum Muster, z. B. das kaufmännische Wechselrecht, aber v. a. das römische Privatrecht dank seiner Entwicklung „in einem richtigen Ebenmaaß der beharrlichen und der bewegenden Kräfte“ (Savigny 1814: 32). Als vornehmste Staatsbildung kommt überraschend ein freiwilliges geselliges Zusammenleben wie in „Freundschaft“ in den Blick (Rückert 2016: 317). Von hier aus werden verfassungsrelevante Grundbegriffe gebildet.

4. Juristische Grundbegriffe. Dogmatik

Konsequent entwickelte v. a. Savigny bis heute zentrale Grundbegriffe wie die allgemeine Rechtsfähigkeit („Jeder einzelne Mensch, und nur der einzelne Mensch, ist rechtsfähig“ [Savigny, System, Bd. 2, 1840: 2]), den allgemeinen Vertragsbegriff (Vertrag) („Vertrag ist die Vereinigung mehrerer zu einer übereinstimmenden Willenserklärung, wodurch ihre Rechtsverhältnisse bestimmt werden“ (Savigny, System, Bd. 3, 1840: 309]), eine allgemeine Lehre von den Leistungsstörungen („überall, wo von einer Verletzung die Rede ist, lässt sich diese auf eine Unmöglichkeit zurückführen […]“ [Savigny 1993: 219]), einen allgemeinen Kondiktionsbegriff („Bereicherung […], wenn ein Vermögen zum Vortheil eines anderen ohne Rechtsgrund vermindert ist“ [Savigny, System, Bd. 5, 1841: 110]), die grundsätzliche Trennung von Staatsrecht und Privatrecht (Savigny, System, Bd. 1, 1840: 22 f.) als unter- bzw. gleichordnend, usw. Bes. charakteristisch wurden seine neue Lehre vom „Sitz des Rechtsverhältnisses“ (Savigny, System, Bd. 8, 1849: 28, 108) als Grundformel des „im Werden begriffenen“ (Savigny, System, Bd. 8, 1849: 30) internationalen Privatrechts und seine allgemeine Geldlehre (Savigny 1851: 403 ff.).

5. Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie

Rechtsgeschichte war das zweite Hauptarbeitsgebiet der H.n R. Dafür stehen die beiden Pionierwerke von Karl Friedrich Eichhorn („Deutsche Staats- und Rechtsgeschichte“ seit 1808) und Savigny („Geschichte des Römischen Rechts im Mittelalter“ seit 1815).

Rechtsphilosophie steckte wie erwähnt als „philosophisches“ Element in der Methode und in den Grundbegriffen. Seinen objektiv-idealistischen Ausgangspunkt hatte sich Savigny bereits um 1800 gebildet.

6. Gesellschaftspolitische Position

Hier dominierte ein vermittelnder Standpunkt sowohl nach rechts zu den streng Konservativen (Konservatismus) wie nach links zu den strikt Liberalen (Liberalismus). Gleiche Freiheit im Privatrecht – und die emanzipierende „Hülfe“ kommt vom „öffentlichen Recht“ (Savigny, System Bd. 1, 1840: 371), wenn die Freiheitsvoraussetzungen fehlten. Der Standpunkt Savignys und der meisten Anhänger der H.n R. lässt sich als reformkonservativ kennzeichnen.

7. Leistungen

Sie betrafen v. a. die Dogmatik und Geschichte, vieles bleibend bis heute. Dogmatisch bot die H. R. möglichst präzise Lehrsätze, zeitgemäß modern destilliert aus gut 1 800 Jahren Rechtserfahrung. Der doppelte, historisch-systematische, wahrhaft-geschichtliche Zugriff prägte viele Monographien aus dem Kreise der H.n R. Damit bildete die H. R. in ihrem romanistischen und germanistischen Zweig die Kompetenzen aus, die dann nicht nur das BGB (1874–96) ermöglichten und den damaligen Weltruhm der deutschen Rechtswissenschaft begründeten.

Der äußere Höhepunkt der H.n R. liegt in den späten 1840ern. Nach Savigny und K. F. Eichhorn folgen engere und weitere „Schüler“. Die Methode wurde natürlich nicht überall durchgehalten. Vom Zivilrecht der gleichen Freiheit wandten sich erst die NS-Juristen entschieden ab (u. a. Justus Wilhelm Hedemann, Heinrich Lange, Karl Larenz, Wolfgang Siebert, auch Franz Wieacker). Rechtsgeschichtlich erbrachte die H. R. eine Fülle noch unverzichtbarer Werke, zumal Quelleneditionen wie die zum 1817 sensationell entdeckten Gaius, zum Sachsenspiegel (seit 1827), zu den Leges in den Monumenta Germaniae Historica (seit 1817) usw. Zwar schrieb Friedrich Julius Stahl 1830 „Die Philosophie des Rechts nach geschichtlicher Ansicht“ (Stahl 1830), aber das war ebenso wenig ein Hauptwerk der H.n R. wie die „Philosophie des positiven Rechts“ (Hugo 1819) von G. Hugo.

Programm und Praxis der Schule waren kühn und enthielten mehrere Fronten. Entspr. heftig fielen Lob und Kritik aus. Heute lässt sich resümieren, dass Savigny und die H. R. die Sattelzeitwende zur juristischen Moderne anleiteten – nicht mehr und nicht weniger.