Freiheitsentziehung

1. Historischer Hintergrund

Die Entziehung der persönlichen Freiheit ist ein bes. schwerwiegender Eingriff in die Rechte des Einzelnen. Der verfahrensrechtliche Schutz vor F. ist deshalb eine der ältesten Ausprägungen des westlichen Grundrechtsverständnisses. Der als Habeas Corpus bekannte Anspruch auf richterliche Prüfung einer F. wurde in England mit dem Habeas Corpus Act von 1679 gesetzlich geregelt, ging aber auf eine sich über mehrere Jh. entfaltende richterrechtliche Tradition zurück. In seinen Anfängen war das Habeas-Corpus-Verfahren eher Ausdruck der Souveränität des englischen Königs, die dieser durch seinen Kontrollanspruch hinsichtlich F. ausübte. Heute wird es jedoch einhellig als zentrales Instrument individueller Freiheitssicherung und einer der Ausgangspunkte für die moderne Grundrechtsentwicklung überhaupt bewertet (s. U.S. Supreme Court, Boumediene v Bush, 553 U.S. 723, 739 ff. [2008]). Der Schutz vor F. wurde in weitere bedeutende Verfassungs- und Menschenrechtsdokumente aufgenommen (z. B. Art. I, § 9, cl. 2 Verfassung der USA von 1787: Habeas-Corpus-Verfahren; Art. 7 Französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789: F. nur durch Gesetz und unter Einhaltung der gesetzlich vorgeschriebenen Formen; ähnlich Art. 7 Belgische Verfassung von 1831 und im deutschen Raum z. B. Titel IV § 8 Bayerische Verfassung von 1818). § 138 Paulskirchenverfassung von 1849 sah vor, dass die Freiheit der Person unverletzlich ist, und regelte zudem, in welchen Fällen eine richterliche Entscheidung über die F. erforderlich war. § 114 WRV enthielt dagegen weniger detaillierte verfahrensrechtliche Anforderungen für F.

2. Freiheitsentziehung und Grundgesetz

Im GG ist der Schutz vor F. an zwei Stellen verankert: Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG lautet: „Die Freiheit der Person ist unverletzlich“, schützt also die körperliche Bewegungsfreiheit vor staatlichen Eingriffen. Art. 104 GG enthält zusätzliche formelle Schranken für F. Historisch neu ist das Grundkonzept einer vorhergehenden richterlichen Entscheidung über F. aus Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG. Der präventive Richtervorbehalt für alle F. findet kein Vorbild in den Vorgängerverfassungen und geht über die Tradition des Habeas-Corpus-Verfahrens (nachträgliche richterliche Prüfung) hinaus. Ein wesentlicher Grund für diesen besonderen verfahrensrechtlichen Schutz vor F. im GG sind die Erfahrungen mit willkürlicher F. in der Zeit des Nationalsozialismus („Schutzhaft“).

2.1 Was ist Freiheitsentziehung?

Die wichtigsten Fälle von F. sind: strafrechtliche Untersuchungshaft und Freiheitsstrafe; Unterbringung psychisch Kranker; ausländerrechtliche Abschiebungshaft; polizeilicher Präventivgewahrsam; Zwangshaft im Vollstreckungsverfahren. Es gibt allerdings jenseits der eindeutigen Fälle des Einsperrens bis heute keinen Konsens über die Definition von F. nach dem GG (Streitfälle: Einkesseln von Demonstranten; Festhalten im Fahrzeug; zwangsweises Vorführen bei Behörden; Fesselung Altersdemenzkranker). F. ist von der (bloßen) Freiheitsbeschränkung abzugrenzen. Freiheitsbeschränkung liegt vor, wenn die körperliche Bewegungsfreiheit des Betroffenen in alle Richtungen aufgehoben wird. F. ist eine gesteigerte Form der Freiheitsbeschränkung. Entspr. muss für eine F. ein zusätzliches Element zur Freiheitsbeschränkung hinzutreten. Diskutiert werden: zeitliche Mindestdauer des Festhaltens; bes. Intensität; Festhalten hat in erster Linie den Zweck, die Freiheit zu beschränken und nicht eine sonstige Pflicht durchzusetzen. Am überzeugendsten ist, darauf abzustellen, ob der Betroffene außerhalb der öffentlichen Sphäre festgehalten wird. Das entspr. der historischen Schutzrichtung des Richtervorbehalts, willkürliches „Verschwindenlassen“ und „Wegsperren“ durch die Exekutive zu verhindern.

Wegen des staatlichen Gewaltmonopols ist F. durch Private grundsätzlich verboten und als Freiheitsberaubung nach § 239 StGB strafbar. Durch Gesetz ist allerdings privatrechtliche F. in bestimmten Fällen vorgesehen. Z. B. hat der Betreuer das Aufenthaltsbestimmungsrecht über einen Betreuten und kann ihn gegen seinen Willen unterbringen lassen, wenn die Voraussetzungen des § 1906 BGB vorliegen. Das BVerfG hat bereits früh entschieden, dass auch bei F. durch Private der Richtervorbehalt aus Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG gilt und dies u. a. mit einer aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG hergeleiteten staatlichen Schutzpflicht begründet (BVerfGE 10, 302, 324; so auch die Habeas-Corpus-Tradition).

2.2 Verfassungsrechtliche Schranken für Freiheitsentziehungen

F.en sind Eingriffe in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG. Wichtigste materielle Schranke ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Demnach muss v. a. der mit der F. verfolgte Zweck so gewichtig sein, dass er diesen gravierenden Freiheitseingriff rechtfertigen kann. Durch den besonderen Gesetzesvorbehalt in Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG ist sichergestellt, dass der Gesetzgeber selbst die Abwägungsentscheidung (Abwägung) trifft. Daneben enthält Art. 104 GG weitere formelle Schranken, die zu Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG dazuzulesen sind; die Detailregelungen in Art. 104 GG wurden nur aus redaktionellen Gründen in den Abschnitt über die Rechtsprechung verschoben. Zentrale verfahrensrechtliche Schranke für F. ist der Richtervorbehalt. F. ohne vorhergehende richterliche Entscheidung ist nach Art. 104 Abs. 2 S. 2 GG nur bei Gefahr im Verzug zulässig (BVerfGE 22, 311, 317); der Richter ist unverzüglich nachträglich einzuschalten. Wird der Betroffene vor der richterlichen Entscheidung freigelassen, so hat er einen Anspruch auf Überprüfung der Rechtmäßigkeit der F. (BVerfGE 104, 220, 235). Die wichtigsten Verfahrensvorschriften für F. (außerhalb der StPO) sind §§ 415–432 FamFG (allgemeine bundesrechtliche F.-Sachen) und §§ 312–339 FamFG (Unterbringung). In seiner rechtlichen Wirkung bislang unterschätzt ist Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG, nach dem die Freiheit nur unter Beachtung der gesetzlich vorgeschriebenen Formen beschränkt werden darf. Die Pflicht, bei F. die gesetzlichen formellen Vorschriften einzuhalten, wird dadurch zum Verfassungsgebot erhoben (BVerfGE 58, 208, 220). Das hat folgende Konsequenzen:

a) Praktisch alle formellen Fehler bei F. können mit der Verfassungsbeschwerde zum BVerfG gerügt werden.

b) Unbeachtlichkeit und rückwirkende Heilung formeller Fehler sind grundsätzlich unzulässig.

c) Art. 104 Abs. 1 S. 1 i. V. m. Abs. 2 S. 1 GG ist Grundlage für verfassungsrechtliche Mindeststandards des F.-Verfahrens.

3. Europa- und völkerrechtliche Vorgaben

Bei F. ist neben dem GG Art. 5 EMRK zu beachten. Während nach dem GG jedes verfassungslegitime Ziel – bei Verhältnismäßigkeit – eine F. rechtfertigen kann, enthält Art. 5 Abs. 1 S. 2 EMRK einen feststehenden Katalog von Rechtfertigungsgründen. Bestimmte Formen von F., die nach deutscher Sicht mit dem GG vereinbar sind, wurden deshalb konventionsrechtlich in Frage gestellt (nachträgliche Sicherungsverwahrung: EGMR NJW 2010, 2495 – M. v Deutschland; polizeilicher Präventivgewahrsam: EGMR NVwZ 2014, 43 – Ostendorf v Deutschland). Zunehmend an Bedeutung gewinnt Art. 6 EuGRC, weil F. im unionalen Sekundärrecht geregelt wird (z. B. Art. 28 Abs. 3 Dublin-III-VO). Nach Art. 52 Abs. 3 EuGRC ist Art. 6 EuGRC so zu verstehen wie Art. 5 EMRK, einschließlich der dort enthaltenen verfahrensrechtlichen Anforderungen. Vor F. schützen auch Art. 9–12 IPbpR. Wichtige Themen des internationalen Menschenrechtsschutzes sind willkürliche F. (UN Working Group on Arbitrary Detention) und gewaltsames Verschwindenlassen von Personen (International Convention for the Protection of all Persons from Enforced Disappearance). Bei F. gilt unmittelbar die völkerrechtliche Pflicht, einen betroffenen Ausländer über sein Recht auf Mitteilung der F. an die zuständige konsularische Vertretung zu informieren (Art. 36 WÜK).