Evangelische Organisationen

1. Einleitung

Der deutsche Protestantismus ist in einer zweifachen Gestalt organisiert: Die verfasste evangelische Kirche baut sich lokal und regional von den Ortsgemeinden über Kirchenkreise bzw. Dekanate bis hin zu selbständigen Landeskirchen auf, die sich ihrerseits in der EKD zusammengeschlossen haben. Daneben besteht der Verbandsprotestantismus, der im engeren Sinn den Bereich der e.n O. umfasst, mit einer Vielzahl von Vereinen, Verbänden und Institutionen. Um das Neben-, Mit- und z. T. auch Gegeneinander des kirchlichen und des verbandlichen Protestantismus zu verstehen, ist ein Blick in die geschichtliche Entwicklung notwendig. Danach soll die Vielfalt der unterschiedlichen Organisationen systematisch dargestellt werden.

2. Historische Entwicklung

2.1. Die Anfänge des kirchlichen Vereinswesens

Ausgehend von der landesherrlichen Kirchenverfassung seit der Zeit der Reformation waren die evangelischen Kirchen Teil der obrigkeitlichen Ordnung. Von wenigen, frühen presbyterial-synodalen Ordnungsformen abgesehen, entwickelten sie keine eigene Organisationsgestalt. Erst mit dem Pietismus und später der Erweckungs- wie auch der Aufklärungsbewegung entstanden seit dem 18. Jh. neuartige Organisationsformen, die wesentlich auf dem sich insb. im 19. Jh. entfaltenden Vereinswesen basierten. Diese Initiativen wurden v. a. von der zeitgenössischen lutherischen Orthodoxie vielfach abgelehnt und offen bekämpft.

Ausgehend von den von Philipp Jacob Spener mit Bezug auf den reformatorischen Grundsatz des „Priestertums aller Gläubigen“ gegründeten, informellen Collegia pietatis seit 1670 in Frankfurt kam es durch den Pietismus zu verschiedenen Formen der Selbstorganisation. August Hermann Francke gelang eine dauerhafte Organisation wichtiger pietistischer Anliegen, indem er 1695 eine Armenschule und ein Waisenhaus gründete, ebenso die dänisch-hallische Mission, die seit 1706 Missionare (Mission) aussandte, oder 1710 die bis heute bestehende Cansteinsche Bibelanstalt zur Bibelverbreitung. Erwähnenswert ist ferner die aus der böhmisch-mährischen Brüderunität unter dem Einfluss von Graf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf und Pottendorf hervorgegangene Herrnhuter Bewegung (seit 1722), die ebenfalls umfangreiche Missionstätigkeiten in den von Europäern kolonisierten Gebieten (Kolonialismus) entwickelte.

In einer ideellen Kontinuität zu diesen Ansätzen entstand seit dem Ende des 18. Jh. der Verbandsprotestantismus im engeren Sinn. Die 1780 in Basel gegründete, bis 1839 bestehende Deutsche Christentumsgesellschaft markiert den Ausgangspunkt. In kritischer Distanz zur Aufklärungstheologie verfolgte sie durch die Verbreitung volksmissionarischer Schriften das Ziel einer Verteidigung des traditionellen evangelischen Glaubens. Neben der Baseler Hauptgesellschaft bildeten sich zahlreiche regionale Vereinigungen sowie Tochtergesellschaften. Nach den napoleonischen Kriegen wurde in Deutschland eine Vielzahl protestantischer Einrichtungen der Jugendfürsorge gegründet, sowohl in pietistischer Tradition als auch motiviert durch die Aufklärungstheologie. Ein weiterer Schwerpunkt der Vereinsgründungen im Vormärz betraf Aktivitäten zur Verbreitung und Förderung des evangelischen Glaubens, etwa die 1835 gegründete Rheinische Mission, die sich auf Übersee-Gebiete konzentrierte, oder die Unterstützung von Protestanten in mehrheitlich katholischen Regionen durch das 1832 bzw. 1844 gegründete Gustav-Adolf-Werk. Diese Initiativen waren im 19. Jh. von einem starken konfessionell-protestantischen Bewusstsein geprägt.

Ein neues Niveau des Verbandsprotestantismus wurde mit der Gründung der Inneren Mission (IM) durch Johann Hinrich Wichern in den Jahren 1848/49 erreicht. J. H. Wicherns IM war der Versuch, angesichts der sozialen Frage diakonische Hilfe mit volksmissionarischen Anliegen zu verknüpfen. Durch den reichsweit tätigen Centralverband in Verbindung mit den regionalen und lokalen Gliederungen gelang es der IM seit den 1850er Jahren, eine verbandliche Zweitstruktur neben der verfassten Kirche zu gründen, wobei eine Vielzahl sozialdiakonischer Einrichtungen der Kinder-, Jugend- und Familienfürsorge, der Krankenhilfe, der Gesundheitsversorgung und der Behindertenfürsorge geschaffen wurden. Daneben wurden volksmissionarische Aktivitäten durch die Traktatemission und durch die Anstellung eigener Prediger organisiert. Die verfasste Kirche sah bzgl. Seelsorge und Verkündigung v. a. in den von der IM gegründeten Stadtmissionen eine Konkurrenz.

2.2. Die Gründung alters-, berufs- und geschlechtsspezifischer evangelischer Organisationen

Nach Vorläufern in der Erweckungsbewegung (Missionsjünglingsvereine, Studentenbibelkreise) bildete sich als erste große unabhängige Jugendorganisation in der Mitte des 19. Jh. der Christliche Verein Junger Männer (CVJM), der ökumenisch-protestantisch arbeitete und christlich orientierte Bildungsprogramme sowie soziale Hilfen für junge Menschen bot. 1855 wurde der Verein als weltweite Bewegung in Paris gegründet; er bildete in allen europäischen Ländern schnell Zweigvereine und wurde seit 1894 auch für die weibliche Jugend tätig. Seit dem Ende des 19. Jh. bildeten sich in Deutschland, z. T. beeinflusst durch den CVJM, Schülerbibelkreise sowie die Deutsch-christliche Studentenvereinigung, die ihre Arbeit zunächst auf höhere Schüler und Studierende konzentrierte.

Vor dem Hintergrund der forcierten Industrialisierung (Industrialisierung, Industrielle Revolution) gründeten Bergarbeiter im Jahr 1882 die Bewegung der evangelischen Arbeitervereine, deren Vertreter seit der Mitte der 1890er Jahre vielfach engagiert in den interkonfessionellen christlichen Gewerkschaftsverbänden (Christliche Arbeitnehmerorganisationen) mitarbeiteten. In enger Verbindung hierzu wurden evangelische Handwerker- und Gesellenvereine gegründet, die wichtige Impulse zur Organisation des Deutsch-nationalen Handlungsgehilfenverbandes gaben, einer Vorform der späteren Angestelltengewerkschaften. Eher akademisch orientiert war der 1890 gegründete Evangelisch-Soziale Kongress, dessen Ziele eine vorurteilslose Analyse der sozialen Situation und die Fruchtbarmachung evangelischen Geistes zur Lösung der sozialen Frage waren.

Bes. Bedeutung für das kirchliche Leben entfalteten die um die Jahrhundertwende gegründeten evangelischen Frauenorganisationen (Christliche Frauenverbände), die stärker gemeindlich arbeitende Evangelische Frauenhilfe und der kirchen- und gesellschaftspolitisch aktive Deutsch-Evangelische Frauenbund, denen es gelang, einen großen Teil der evangelischen Frauen zu organisieren und die sehr schnell zu den mitgliederstärksten e.n O. wurden. 1918 gründete sich als Zusammenschluss dieser Verbände die bis heute bestehende EFD, die als Dachverband frauenspezifische Themen in Kirche und Gesellschaft vertritt und im Deutschen Komitee der ökumenischen Arbeit des Weltgebetstages der Frauen den Protestantismus repräsentiert.

2.3. Kirchenpolitische Organisationen und Krise des Verbandsprotestantismus in der NS-Zeit

Neben den missionarischen, sozialdiakonischen, an Lebensphasen sowie Berufen orientierten Verbänden differenzierte sich der Protestantismus seit der zweiten Hälfte des 19. Jh. kirchenpolitisch aus: 1863 wurde der Allgemeine Deutsche Protestantenverein als Bewegung des bildungsbürgerlichen Protestantismus gegründet, dem wenig später die Gründung der orthodox-konservativen Positiven Union sowie einer Evangelischen Vereinigung, eine sogenannte Mittelpartei, folgte. Pietistische Gruppen gründeten 1897 den bis heute bestehenden Dachverband der Werke und Verbände der Gemeinschaftsbewegung, den Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverband. In der Weimarer Republik entstanden die Bewegung der religiösen Sozialisten und die völkisch orientierten Deutschen Christen. Diese Gruppen konkurrierten bei Presbyteriums- und Synodenwahlen und waren bis 1933 in z. T. heftige theologische, kirchen- und allg.-politische Auseinandersetzungen verstrickt. Insgesamt kann die Zeit zwischen 1871 und dem Jahr 1933 als Höhepunkt des Verbandsprotestantismus bezeichnet werden, wobei auch die verfasste Kirche allmählich den Gewinn der im kirchlichen Vorfeld agierenden protestantischen Organisationen erkannte und sich in manchen Feldern eine Arbeitsteilung zwischen Verbandsprotestantismus und evangelischer Kirche entwickelte. Die Mitgliederzahlen der Vereine, insb. der Frauenverbände, waren hoch. In der Zeit des Nationalsozialismus geriet der Verbandsprotestantismus in eine tiefe Krise: 1933 ließen sich viele Vereine gleichschalten oder lösten sich auf, seit der 1936 forcierten Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens wurden die noch bestehenden Vereine auf das Wirken im engen religiösen Bereich zurückgedrängt. Während das NS-Regime den Verbandsprotestantismus zurückdrängen, aber nicht grundsätzlich auflösen konnte, gelang dies weitgehend der Religionspolitik der SED, die nur unmittelbar kirchliche Aktivitäten in einem streng reglementierten Rahmen duldete.

3. Evangelische Organisationen in der Bundesrepublik

3.1. Die „Verkirchlichung“ nach 1945

Während durch die NS-Zeit und in der DDR der Prozess der Verkirchlichung von außen aufgezwungen war, lässt sich in der BRD nach 1945 eine bewusste Verkirchlichung des Protestantismus erkennen. Äußere Mission und Diakonie wurden bereits in der Grundordnung der EKD von 1948 als „Wesens- und Lebensäußerung“ der Kirche definiert; seither hat sich eine engere Verzahnung von Amtskirchen sowie Missionsgesellschaften und Diakonie entwickelt. Zudem gründeten die evangelischen Landeskirchen ihrerseits 1945 das Evangelische Hilfswerk, das ebenfalls diakonische Aufgaben übernahm. Während die Frauenvereine (Christliche Frauenverbände) recht schnell als eigenständige Vereine nach 1945 ihre Aktivität wieder aufnehmen konnten und ein starkes Vereinsleben bis in die Gegenwart entwickelten, gab es im Bereich der Männer-, Berufs-, Sozial- und Jugendarbeit eine starke Konkurrenz durch gemeindliche und durch neu geschaffene gesamtkirchliche Angebote. Vor diesem Hintergrund spielen etwa die Arbeiter- und Handwerksbewegung heute nur noch eine marginale Rolle, ein großer Teil ihrer Aktivitäten ist in die kirchliche Männerarbeit (Christliche Männerverbände) oder in den Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt integriert worden. Auch die Jugend- und die Schüler/innen- sowie die Studierendenarbeit ist in hohem Maße verkirchlicht: CVJM, evangelische Pfadfindergruppen und kleinere, durch bestimmte Frömmigkeitskulturen geprägte Gruppen bestehen fort, der Großteil der Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist allerdings kirchlich organisiert. Die aej bildet den Dachverband aller evangelischen Jugendverbände und kirchlichen Aktivitäten. Eine Eigenständigkeit sicherte sich demgegenüber das durch einen längeren Fusionsprozess von IM und Evangelischem Hilfswerk 1975 gegründete Diakonische Werk (DW).

3.2. Neugründungen und aktuelle Entwicklungen

Wichtigste Neugründung nach 1945 ist der Deutsche Evangelische Kirchentag, der als eigenständige Laienorganisation das Ziel verfolgt, Christen zu einem besseren Verständnis ihres Auftrages in der Welt zu verhelfen. Der Kirchentag versteht sich als Begegnungs- und Dialogfeld zwischen Kirche und Öffentlichkeit, er ist von der verfassten Kirche formal unabhängig, allerdings auf deren finanzielle und personelle Unterstützung angewiesen und versucht seinerseits, kirchenreformerische Impulse zu setzen. Ebenfalls als Begegnungsinstitution zwischen Kirche und Öffentlichkeit wurden nach 1945 evangelische Akademien gegründet, die von den jeweiligen Landeskirchen getragen werden, häufig jedoch durch einen vereinsrechtlich organisierten Freundeskreis ein gewisses Eigenleben entfalten. V. a. durch die Kirchentage und Akademien wird gegenwärtig die Bildungsarbeit der sozial- und berufsethischen Verbände aus der Zeit vor 1945 in veränderter Gestalt fortgeführt.

Seit den 1970er Jahren ist ein Bedeutungsverlust der traditionellen evangelischen Vereine – mit Ausnahme des Diakonischen Werkes – zu verzeichnen. Insb. die evangelischen Frauenvereine und die eigenständigen Verbände der Jugendarbeit (Christliche Jugendverbände), müssen Mitgliederverluste hinnehmen. Sie werden nach wie vor ehrenamtlich getragen, durch kirchliche Mittel unterstützt und bilden auf diese Art und Weise einen Rahmen, der alters- oder geschlechtsspezifische Angebote des Protestantismus vielfach auch für Nichtmitglieder bietet und auf diese Art und Weise eine kirchliche Angebotsstruktur in Ergänzung zu den Ortsgemeinden ausbildet. Ferner sind im Umfeld der neuen sozialen Bewegungen seit den 1970er Jahren verschiedene evangelische Initiativgruppen für gesellschaftspolitische Anliegen entstanden, wobei die Friedens-, die Umwelt- und die neue Frauenbewegung – oft in enger Verzahnung mit entsprechenden säkularen Gruppen – eine bes. Dynamik im Protestantismus entfalteten. Daneben haben sich neue Formen der Selbstorganisation im Umfeld des diakonischen Handelns gebildet, Selbsthilfegruppen oder die Hospizbewegung, die neue Impulse für die Ausbildung diakonischer Aktivitäten gesetzt und zu deren Selbstmodernisierung erheblich beigetragen haben. Die vornehmlich im Umfeld der neuen sozialen Bewegungen entstandenen Gruppen haben nicht allein im Protestantismus Innovationen gefördert, sondern gleichzeitig zur Neuformatierung der bundesdeutschen Zivilgesellschaft beigetragen.

Während diese Initiativen vorrangig dem sogenannten Linksprotestantismus zuzuordnen sind, hat sich zeitlich parallel und in Abgrenzung hierzu in der Tradition des Pietismus mit politisch mehrheitlich konservativer Ausrichtung die evangelikale Bewegung neu organisiert. In vielen Bereichen, etwa in modernen Formen der Volksmission (Pro Christ), in der Hilfe für Christen in Ländern des Südens, in der kirchlichen Publizistik, hat diese Bewegung, welche landeskirchliche Gemeinschaften des Gnadauer Verbandes ebenso wie freikirchliche Organisationen umfasst, Parallelstrukturen zur verfassten Kirche entwickelt; sie umfassen ein breites Spektrum von radikaler Kritik, kritisch-distanzierter Mitarbeit und aktiver Kooperation gegenüber den Amtskirchen.

Generell lässt sich zu Beginn des 21. Jh. feststellen, dass die traditionellen protestantischen Vereine, die auf hoher Verbindlichkeit und freiwilliger Selbstorganisation beruhten, in die Krise geraten und oft durch Initiativgruppen und netzwerkartige Organisationsformen ersetzt worden sind. Insb. das DW mit seiner hochgradigen Professionalisierung und Integration in den bundesdeutschen Sozialstaat basiert jedoch nach wie vor auf dem Vereinsprinzip und ist gegenwärtig im Sinn einer Zweitstruktur weithin parallel zu den Organisationsformen der verfassten Kirche strukturiert. Demgegenüber ist ein Großteil der alters-, geschlechts- und berufsspezifischen Arbeitsformen des Verbandsprotestantismus aus der Zeit vor 1945 weitgehend in amtskirchliche Handlungsfelder integriert oder von diesen stark geprägt und finanziell wie personell unterstützt, oft durch sogenannte Funktionspfarrstellen. Auf diese Art und Weise hat sich ein Netzwerk funktional-differenzierter Angebote für Kirchenmitglieder neben den Ortsgemeinden entwickelt. Dieses fluide Arbeitsfeld versteht sich teils als Bindeglied, teils als Interessenvertretung gesellschaftlicher oder frömmigkeitsspezifischer Anliegen im Bereich der evangelischen Kirche und eröffnet ein hohes Maß eigenständiger Partizipation, allerdings oft in Distanz zu der presbyterial-synodalen Organisation der verfassten Kirche.