Corpus Christianum

Der lateinische Begriff C.C. tritt Ende des 19. Jh. in Anlehnung an Martin Luthers Schrift „An den christlichen Adel“ (1520) auf, wo die weltliche Herrschaft ein Mitglied des „Christlichen Corpers“ (WA 6, 409: 16–18) genannt wird, das trotz seinem leiblichen Werk „geystlichs stands“ (WA 6, 410: 3–6) ist und als solches in den „gantzen Corper der Christenheit“ (WA 6, 413: 27–31) hineinwirken soll. Die aktuelle Bedeutung um die Jahrhundertwende lag in der Kontroverse zum landesherrlichen Kirchenregiment: Karl Rieker sah für M. Luthers „Christlichen Corper“ eine Entsprechung im Ausdruck „Staatskirchentum“ als der rechtlichen Organisation des gesamten öffentlichen Lebens, wovon das kirchliche Leben „lediglich eine Seite ist“ (Rieker 1893: 171). M. Luthers Schrift „Von weltlicher Obrigkeit“, in welcher die zwei „Regimente“ unterschieden werden, das geistliche, das Christen macht, und das weltliche, das Gesetze hat, wird dagegen als ein Überhang des Mittelalters gedeutet.

Ein Zusammenhang mit Rudolph Sohm besteht nur insofern, als es nach ihm gemäß lutherischem Bekenntnis „keine Kirche im Sinne unserer heutigen Rechtsordnung“ gibt, sondern nur „die Christenheit“ (Sohm 1892: 541 f.). Dieser Begriff, der bei R. Sohm undeutlich bleibt, deckt sich teilweise mit dem Begriff C.C. in dessen weiterer Geschichte. Keineswegs ist für R. Sohm „die Christenheit“ in einem Staatskirchentum institutionalisiert, und M. Luthers Aufruf an den christlichen Adel wird nachdrücklich vom „Notfall“ her interpretiert.

Ernst Troeltsch verwendet den Begriff C.C. im Sinne seiner Definition der Neuzeit zur Charakterisierung der gesamten abendländischen Geschichte vor der Aufklärung. Die „lutherische Ständelehre“ ist „nichts anderes als die mittelalterliche Idee des corpus christianum, innerhalb dessen es überhaupt eine Scheidung von Kirche und Staat, von Geistlichem und Weltlichem im modernen Sinne noch nicht gibt“ (Troeltsch 1906: 523). Im Gegensatz dazu hat Karl Holl den Begriff C.C. für eine Interpretation M. Luthers entschieden abgelehnt, weil dessen „Gewissensreligion“ (Holl 1921: 35), die sich zur „Aufklärung nicht nur als eine unvollkommene Vorstufe verhält“ (Holl 1921: 341–345), das Mittelalter und mit ihm den Standpunkt der katholischen Kirche radikal durchbrochen habe.

Der Einbezug der Ekklesiologie Johannes Calvins in die Diskussion zum Begriff C.C. war insofern aufschlussreich, als zwar ein „prinzipieller Bruch“, aber doch auch „Ähnlichkeit mit einigen mittelalterlichen Systemen“ (Bohatec 1937: 611) behauptet wurde. Wenn jedoch für J. Calvin gesagt wird, dass „die Obrigkeit die Grundlage für eine harmonische Einheit zwischen dem Staat und der Ordnung des Reiches Christi legt“ (Bohatec 1937: 624), dann ist nicht leicht verständlich, warum nicht bei aller ekklesiologischen Differenz zur katholischen Kirche wie auch zu M. Luthers „gantzem Corper der Christenheit“ nicht auch für J. Calvin der Begriff C.C. gelten soll.

Der Begriff C.C., in dessen Diskussion sich die Bemühungen der protestantischen Theologie (Protestantismus) um das Verständnis von „Kirche“ niederschlugen, wurde seit den 20er Jahren in der historiographischen Literatur vielfach ohne eine genauere Bestimmung gebraucht. Es ist das Verdienst von Johannes Heckel, das in diesem ganz peripher entstandenen und undeutlich gebliebenen Begriff enthaltene Problem angesichts der Situation nach dem Zweiten Weitkrieg wieder aufgegriffen und in einer historischen Analyse über die Kontroverse zwischen R. Sohm, E. Troeltsch und K. Holl hinausgeführt zu haben. Der aktuelle Horizont war jetzt einerseits die neue Frage nach dem Wesen der Kirche, die in der popularisierten Nachwirkung von R. Sohms These immer mehr in allen Konfessionen als „Amtskirche“ diskreditiert wurde, und andererseits die nach dem Ende des nationalsozialistischen Regimes neu gestellte Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Politik. Die „Zwei-Reiche-Lehre“, insb. gestützt auf M. Luthers Schrift „Von weltlicher Obrigkeit“, wurde kritisiert, weil sie zur Lähmung des Widerstandes gegen den NS beigetragen habe, ohne dass freilich diese Kritik der theologischen Konzeption des Reformators gerecht werden konnte.

J. Heckel betont, dass M. Luther die Vorstellung von einer „christlichen Gesellschaftsordnung“ fern gelegen und er sich „an die überkommenen mittelalterlichen Kategorien der ecclesia universalis und der politia“ gehalten habe. Jedoch habe er dieser Terminologie einen „neuen Sinn“ gegeben, „den universalen Kerngedanken des corpus christianum nicht abgewiesen“ (Heckel 1957:1871 f.), ihn jedoch „verinnerlicht und von da aus zur Welt zurückgewendet“. Dieser Kerngedanke ist die „Ecclesia universalis“, an der M. Luther bei all seiner Unterscheidung der „rechten Christen“, welche die „Ecclesia spiritualis“ bilden, und bei aller Ablehnung hierarchischer Verfassung festgehalten habe. Nur in der Verbindung der „beiden Gestalten der Kirche“ wird M. Luthers Kirchenbegriff nach J. Heckel richtig interpretiert.

In der neueren historischen Forschung wird der Begriff des C.C. weiterhin verwendet, um die Bedeutung der Religion als eines einheitsstiftenden Bandes für die vormodernen politischen Systeme und Gesellschaften Europas hervorzuheben. Von dieser Überzeugung sind – bei allen Unterschieden im Detail – auch die Reformatoren nicht abgewichen, wie das religionsrechtlich relevante Prinzip „cuius regio, eius religio“ im Augsburger Religionsfrieden zeigt.

Die Frage nach einer fortbestehenden theologischen Relevanz des C.C.-Begriffs für das Selbstverständnis der Kirche in einer „nachchristlichen“ Gesellschaft ist häufig mit der Debatte um die Institution der Kindertaufe verknüpft worden. Karl Barth betrachtet die Kindertaufe als eine Grundlage der konstantinischen und der mittelalterlichen Kirche, der sich auch die reformatorische Kirche in der Verurteilung der Täuferbewegung „gebeugt“ habe. Er nennt das C.C. die „festgefügte Einheit von Volk, Gesellschaft, Staat, Reich und Kirche […], in die eben in der Kindertaufe Jeder, kaum geboren, ohne nach seiner Zustimmung gefragt zu werden, eingegliedert war und wurde“ (KD 1957: 185). Die Tatsache, dass diese „festgefügte Einheit“ des C.C., wie immer sie bewertet wird, nicht mehr gegeben ist, fordert einerseits eine Neubesinnung auf das Wesen der Kirche heraus (so eine streng ekklesiologische Begründung der Kindertaufe, die nicht mehr als allg.-gesellschaftlicher Initiationsritus verstanden werden kann) und andererseits eine differenzierte Bestimmung des Verhältnisses von Kirche und Welt (Kirche und Welt), welche nicht zuletzt Voraussetzung ist für christliche Positionen in politischen Fragen.

Mit Blick auf die heutige Weltsituation wird gelegentlich von einem „Corpus Islamicum“ gesprochen, für das insofern eine „historische Ungleichzeitigkeit“ konstatiert wird, als es „nicht dem gegenwärtigen modernen Christentum vergleichbar [sei], sondern dem corpus christianum des Mittelalters“ (Honecker 1993: 106).