Christliche Arbeitnehmerorganisationen
1. Definition
C. A. sind Organisationen, die sich unter konfessionellen Vorzeichen auf der Grundlage der Soziallehre der katholischen Kirche (Katholische Soziallehre) bzw. der evangelischen Sozialethik (Christliche Sozialethik) für die Belange von Arbeitnehmern sowie ihrer Familien einsetzen. Unterschieden werden können von der Organisationsstruktur her Mitglieder- und Dachverbände sowie dezidierte Berufsverbände, die ausschließlich eine bestimmte Berufsgruppe vertreten. In der Politik und Soziologie werden sie im weitesten Sinne als Interessenverbände (Interessengruppen) eingestuft. Eine bes. Form der Interessenverbände sind die Sozialverbände, die z. B. die Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung vertreten, wie der BVEA, die KAB Deutschlands und das Kolpingwerk Deutschland.
2. Historische Wurzeln im 19. Jahrhundert: Soziale Frage, Pauperismus, Vereinswesen und Zusammenschlüsse
Die historischen Wurzeln der C.n A. reichen bis in die erste Hälfte des 19. Jh. zurück. Im Zuge der Frühindustrialisierung (Industrialisierung, Industrielle Revolution) kommt es zu strukturellen Umbrüchen im Übergang von der agrarisch geprägten Ständegesellschaft hin zur Industriegesellschaft. Die Lockerung der Zunftordnungen trifft vor allem Handwerker und Arbeiter. Mit dem entstehenden Fabriksystem sind Dequalifizierungs-, Mobilitäts-, Verdrängungs- und Verelendungsprozesse (Pauperismus) verbunden, die weite Teile der Bauernschaft, Handwerker und Arbeiter sowie kleine Angestellte betreffen. Es stellt sich die soziale Frage danach, wie der breiten Verarmung begegnet und Integration (Standwerdung) erreicht werden kann. Als Reaktion auf die „soziale Frage“ schließen sich katholische und evangelische Gesellen und Arbeiter in Vereinen zusammen, um unter dem Vorzeichen der „kämpferischen Selbsthilfe“ (Klönne 1986) und der Religion gegenseitige solidarische Leistungen aufzubauen, sich zu bilden und politisch aktiv zu werden.
1849 gründet sich der erste katholische Arbeiterverein in Regensburg als Unterstützungskasse für seine Mitglieder. Auf Anregung von Adolph Kolping werden 1850 in Köln, Düsseldorf und Elberfeld (Rheinischer Gesellenbund) Gesellenvereine ins Leben gerufen. 1852 erwirbt A. Kolping das erste Gesellenhaus in Köln, das zum Vorbild der Gesellenhäuser in ganz Europa wird, die den wandernden Gesellen Unterkunft, allgemeine, religiöse und berufsbezogene Bildung (berufliche Bildung) sowie Geselligkeit ermöglichen. 1854 nimmt der erste evangelische Arbeiterverein in Würzburg seine Arbeit auf. Im Mittelpunkt der Vereinsarbeit in dieser ersten Phase stehen v. a. die gegenseitige Unterstützung, religiöse Unterweisungen unter konfessionellen, antisozialistischen Vorzeichen, „Volksbildung“, Kulturarbeit und Geselligkeit. Eine wirksame Unterstützung erfahren die katholischen Arbeitervereine u. a. durch den Mainzer Arbeiterbischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler, der gegenüber den die Arbeitervereine ablehnenden Kreisen der katholischen Kirche und der Unternehmerschaft das Recht der Arbeiterschaft auf Zusammenschluss naturrechtlich (Naturrecht) legitimiert. Ab 1860 nehmen in den Industriezentren zahlreiche christlich-soziale Arbeitervereine ihre Tätigkeit auf, die stark politisiert sind und soziale und politische Rechte für die Arbeiterschaft einforderten. Mit ihren ca. 22 000 Mitgliedern stellten die Christlich-Sozialen die mitgliederstärkste Arbeiterorganisation zu dieser Zeit dar. Die evangelischen Arbeitervereine, deren Entstehung und Ausbreitung ab 1882 an Fahrt aufnimmt, organisieren demgegenüber nicht nur Arbeiter, sondern auch Handwerker, Lehrer, Pfarrer, Angestellte und z. T. auch Unternehmer. Sie sind damit gegenüber den Arbeiter- und Gesellenvereinen inhomogener und setzen vorrangig auf einen Verständigungskurs von Arbeitern und Unternehmern. Hierin dürften – neben dem späten Start – die Gründe liegen, warum die evangelischen Arbeitervereine nicht die Mitgliederstärke erreichen wie die katholischen Arbeiter- und Gesellenvereine.
Ab Mitte des 19. Jh. setzt das Bemühen ein, der Vereinsarbeit und den regionalen Zusammenschlüssen eine zeitgemäße organisatorische Struktur zu geben. Eine Vorreiterfunktion für den sozialen Katholizismus übernimmt das Gesellenvereinswesen mit dem Generalstatut von 1864. Die lokalen Vereine (ab 1871 verstärkt Kolpingfamilien genannt) schließen sich zu Diözesan-, Landes- und Zentralverbänden zusammen, die mit dem Internationalen Kolpingwerk fortan die Verbandsspitze bilden. Später wird mit den Bezirks- bzw. Kreisverbänden eine Zwischenebene geschaffen. Dieses Organisationsmodell, ausgerichtet an den kirchlichen und politischen Strukturen, wird nachfolgend auch vom evangelischen und katholischen Arbeitervereinswesen favorisiert, allerdings mit abgewandelten Varianten und zeitlicher Verzögerung.
Nach den tiefen Einschnitten durch den Kulturkampf (1871–1878) und das Sozialistengesetz (1878–1890), die das gesamte katholische Vereinswesen betreffen, schließen sich die Arbeitervereine verstärkt nach diesem Organisationsmodell überregional zusammen: 1891 im süddeutschen Raum zum Verband Süddeutscher Katholischer Arbeitervereine (Sitz München), 1897 die mittel- und ostdeutschen Verbände aus Berlin, Brandenburg, Pommern und Schlesien zum Verband katholischer Arbeitervereine Nord- und Ostdeutschlands (Sitz Berlin), 1903 im westdeutschen Bereich zum Westdeutschen Verband der katholischen Arbeiter-, Arbeiterinnen- und Knappenvereine (Sitz Köln), der sich nach bürgerlichem Recht als GmbH konstituierte. 1911 gründeten die Regionalverbände den Kartellverband der Katholischen Arbeitervereine (Sitz Berlin), um den politischen Einfluss der katholischen Arbeiterschaft gegenüber Preußen und dem Deutschen Reich zu verstärken. 1907 schließen sich die Dienstmädchenvereine zum Verband der Katholischen Dienstmädchenvereine in Deutschland (ab 1953: Berufsverband der katholischen Hausgehilfinnen in Deutschland) zusammen.
Durch die Sozialenzyklika „Rerum novarum“ (Sozialenzykliken) von 1891 erfahren die kath. Arbeitervereine eine päpstliche Legitimierung. Papst Leo XIII. betont ausdrücklich die Koalitionsfreiheit der Arbeiter und mahnt notwendige Staatsinterventionen zur Lösung der „sozialen Frage“ an, was den Aufbruch des sozialen und politischen Katholizismus bestätigt und gegenüber den Kreisen legitimiert, die weiterhin die Eigenständigkeit und ein politisches Agieren der Arbeitervereine ablehnen bzw. bekämpfen oder die Vereine allenfalls als „Bollwerk gegen den gottlosen Sozialismus“ in Stellung bringen wollen.
1912 existieren in Deutschland ca. 3 300 katholische Arbeitervereine mit ca. 450 000 Mitgliedern. 1911 organisieren die Zusammenschlüsse der evangelischen Arbeitervereine ca. 115 000 Mitglieder. Die Gesellenvereine verzeichnen ca. 70 000 Mitglieder, wobei zu berücksichtigen ist, dass nur männliche Gesellen im Alter zwischen 17 und 26 Jahren beitreten können und die Heirat des Gesellen zum Ausscheiden aus dem Verein führt.
3. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts: Politisierung, Modernisierung und Zerschlagung
Als Reaktion auf die freien, in der Tendenz sozialistisch ausgerichteten Gewerkschaften, schließen sich 1901 v. a. katholische Einzelgewerkschaften zum GCG zusammen, der sich dezidiert auf der Grundlage der katholische Soziallehre antisozialistisch und interkonfessionell ausrichtet. Über die Interkonfessionalität bricht der erbittert geführte Gewerkschaftsstreit aus. Katholische Bischöfe (Bischof) beharren auf streng nur für Katholiken zugänglichen Gewerkschaften, die führenden Persönlichkeiten des GCG halten demgegenüber an der Interkonfessionalität fest. Nicht zuletzt geht es um den Vormachtanspruch der katholischen Bischöfe gegenüber der katholischen Arbeiterschaft und ihren Organisationen. Im Richtungsstreit der evangelischen Arbeitervereine stehen u. a. die Fragen im Vordergrund, ob die Vereine Bildung und Religion ausschließlich in den Mittelpunkt stellen sollen oder auch das Recht auf eine eigenständige politische und gewerkschaftliche Betätigung besteht. 1905 versucht der Gesamtverband der evangelischen Arbeitervereine eine Beilegung des Streits: die Mitgliedschaft in klassenkämpferischen Gewerkschaften wird abgelehnt, aber den Verbänden und Vereinen wird freigestellt, ihre Mitglieder den christlichen oder von der Sozialdemokratie nicht abhängigen Gewerkschaften zuzuführen. Auf katholischer Seite versucht die päpstliche Enzyklika „Singulari quadam“ 1912 die Wogen zu glätten. Papst Pius X. empfiehlt den deutschen Bischöfen eine Duldung der christlichen Gewerkschaften. Erst Pius XI. berichtigt 1931 die Haltung der Kirche. Durch den Gewerkschaftsstreit wird der soziale Katholizismus in Deutschland geschwächt und der „für die Beziehungen zwischen Kirche und Arbeiterschaft angerichtete Schaden war nicht mehr gutzumachen“ (Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland 2001: 330). Für das Jahr 1912 weisen die christlichen Gewerkschaften ca. 344 000 Mitglieder aus gegenüber ca. 2,5 Mio. Mitgliedern in den freien Gewerkschaften.
Der Erste Weltkrieg bedeutet einen erheblichen Einschnitt für die evangelischen und katholischen Arbeiter- und Gesellenvereine. Die Verbandsarbeit kommt zwischen 1914 und 1918 in weiten Teilen zum Erliegen. Mehr als zwei Drittel der Mitglieder werden zum Kriegsdienst eingezogen. Ein Drittel der Mitglieder findet den Tod.
Während der Anfangsphase der Weimarer Republik setzt eine allmähliche Erholung der Mitgliederzahlen, dann ein rascher Aufschwung ein, was insb. für die Gesellenvereine und die katholischen Arbeitervereine zutrifft, die durch die erweiterten demokratischen Gestaltungsmöglichkeiten Zulauf erhalten. Es kommt zu einer durchgreifenden Modernisierungsphase des evangelischen und katholischen Verbandswesens. Die politische Arbeit wird in „Fachabteilungen“ gebündelt. Zahlreiche Reformen und soziale Gesetzgebungen werden durch führende Repräsentanten des sozialen und politischen Katholizismus (Sozialer Katholizismus) in politische Entscheidungsprozesse eingebracht und durchgesetzt. Die wirtschaftlichen und politischen Hauptforderungen sieht die katholische Arbeiterbewegung in den 1920er Jahren in der Treue zum Vaterland, einer demokratischen Gestaltung der Wirtschaft (Wirtschaftsdemokratie) als Gegenmodell zu einer liberal-kapitalistischen Wirtschaftsweise (Kapitalismus), der Beseitigung der sozialen Schieflage (Vermögensverteilung), im Ausbau der Sozialgesetzgebung, in einem gerechtem Lohn, im sittlichen und geistigen Aufstieg der Arbeiterschaft, in der Versöhnung durch internationale Zusammenarbeit und im Schutz der Familie. Unterstützungskassen werden zusammengelegt, Verbandszentralen gebaut, die Angebote für die Mitglieder modernisiert, Aufgabenfelder gebündelt und vereinheitlicht, die Bildungs- und Pressearbeit ausgebaut und die politische Zusammenarbeit im Kontext des Zentrums verstärkt. Die innerverbandlichen Entscheidungsstrukturen erfahren eine Demokratisierung, was jedoch nicht konfliktfrei vonstattengeht; insb. die neue Stellung der Präsides als gleichwertige Mitglieder in den Leitungsstrukturen birgt eine Menge Zündstoff in sich. Das Generalstatut für die Gesellenvereine legt 1925 Grundstruktur und Arbeitsteilung des Kolpingwerkes fest. Fortan wird unterschieden zwischen den selbständigen Zentralverbänden, die sich auf die konkrete Förderung und Gestaltung der Verbandsaktivitäten konzentrieren, und dem Gesamtverband (heute Internationales Kolpingwerk), der die Behandlung von Grundsatzfragen als Hauptaufgabe sieht. Zudem werden die Verbandsstrukturen mit den neuen politischen Strukturen kompatibel gemacht. So gründen die Regionalverbände der katholischen Arbeitervereine 1927 den Reichsverband der katholischen Arbeiter- und Arbeiterinnenvereine Deutschlands; 1928 wird auch der Reichsverband der evangelischen Arbeitnehmerverbände als Dachverband gegründet. Die internationale Arbeit wird ausgebaut. Waren die Gesellenvereine und ihre Zusammenschlüsse seit ihren Anfängen bereits stärker auf die europäische und internationale Zusammenarbeit ausgerichtet, schließt sich 1928 die Katholische Arbeiterinternationale in Köln zusammen, die mit ca. 900 000 Mitgliedern aus Deutschland, Österreich, Schweiz, Luxemburg, Niederlanden, Belgien, Frankreich, Spanien, Polen und der Tschechoslowakei eine der stärksten Arbeitnehmerorganisationen in Europa zu dieser Zeit ist.
Die interkonfessionelle Zusammenarbeit wird verstärkt, was sich u. a. aus dem Konzentrationsprozess und der Verschmelzung der (Sozial)Versicherungen und durch den Ausbau der Selbstverwaltung ergibt. „Christliche Listen“ werden gebildet, um die christlichen Kräfte interkonfessionell zu bündeln. Hier liegen die historischen Wurzeln der ACA in der späteren Bundesrepublik Deutschland (so benannt ab 1954).
Die Phase der Modernisierung des evangelischen und katholischen Verbandswesens erlebt mit der Weltwirtschaftskrise ab 1929 jedoch einen deutlichen Einschnitt. Der Anstieg der Arbeitslosenzahl in der Mitgliedschaft führt zu einem erheblichen Rückgang der finanziellen Mittel aus dem Verkauf von Mitgliederzeitschriften und von Vereins- und (soweit erhoben) Mitgliedsbeiträgen.
Die Modernisierungsphase findet ihr jähes Ende mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus. Bereits nach den Wahlen im März 1933 werden führende Persönlichkeiten der KAB verfolgt, das gesamte Vermögen des Verbandes der DAF zugeschlagen und das Pressewesen der KAB verboten. Das im Juni 1933 abgeschlossene Reichskonkordat (Konkordat) bietet keinen ausreichenden Schutz. Mit dem Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit vom 20.1.1934 und dem Verbot der Doppelmitgliedschaft in Arbeiterorganisationen wird die DAF als alleinige Vertretung der Arbeiterschaft installiert. Ab 1934 wird die Vereinsarbeit durch Auflagen erschwert, bis hin zur systematischen Zerschlagung von Arbeiter- und Gesellenvereinen, Verfolgung und Inhaftierung von Arbeitersekretären, Verbandsleitungen, Präsides und einzelnen Mitgliedern. Eine entpolitisierte Vereins- und Verbandarbeit wird z. T. unter äußersten Mühen im Raum der katholischen Kirche und nur in wenigen Regionen weitergeführt. Die evangelischen Arbeitervereine und deren überregionale Zusammenschlüsse lösen sich auf.
Der Widerstand der katholischen Arbeiterbewegung, der christlichen Gewerkschaften und der Zentrumspartei bündelt sich im Kölner Kreis, der u. a. in Verbindung zum Kreisauer Kreis steht. Führende Mitglieder werden 1945 hingerichtet.
4. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts: Wiederaufbau, Korporatismus, Einschnitte und Reformen
Nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgt ein rascher Wiederaufbau der katholischen und evangelischen Vereine. Die evangelischen Arbeitervereine leben zwar wieder auf, können aber nachfolgend keine große kirchliche und politische Wirksamkeit mehr entfalten. Bevor die katholischen Bischöfe (Bischof) die Zukunft des katholischen Vereins- und Verbandswesens zum Thema (Verbände oder „Katholische Aktion“) machen, beginnt der Aufbau „von unten“. Viele Vereine nehmen bereits Mitte 1945 ihre Arbeit wieder auf; nachfolgend sind zahlreiche Neugründungen zu verzeichnen. Etwa jeder zweite heute noch existierende katholische Arbeiter- und Gesellenverein ist eine Neugründung in der Nachkriegsphase. Als Programm stehen in dieser frühen Phase insb. die wertorientierte Bildungs- und Versöhnungsarbeit sowie Eingliederung in die neuen Strukturen der BRD im Vordergrund. Als Organisationsstruktur dient dabei weitgehend das Vorbild aus der Weimarer Republik mit ihrer Kompatibilität zu kirchlichen und politischen Ebenen. 1947 finden die ersten Nachkriegsverbandstage für den süddeutschen und westdeutschen Verband der KAB statt. 1947 gründet sich die CAJ, die nach den Grundsätzen des belgischen Priesters und späteren Kardinals Joseph Cardijn arbeitet. Einen einschneidenden Reformprozess vollziehen die Gesellenvereine. Die Wanderschaft der Gesellen kommt zum Erliegen, und unterschiedliche Berufsgruppen und Schichten finden einen Weg zu den Kolpingfamilien. Mit dem neuen Generalstatut von 1957 wird die verbandliche Jugendarbeit gestärkt (Jungkolping; später Kolpingjugend); ab 1966 ist Frauen und Mädchen die Mitgliedschaft möglich. Auch dies ist Ausdruck des Übergangs vom Gesellenverein zum Kolpingwerk heutiger Prägung, das ab den 1970er Jahren seine Mitgliederzahlen (wieder) ausbauen kann. Die Entwicklungen markieren den Übergang zu verstärkten Zielgruppenkonzepten im gesamten katholischen Verbandswesen.
Mit dem politischen Aufstieg der interkonfessionellen CDU in der Adenauer-Ära prägen der rheinische Katholizismus und die katholische Soziallehre weite Teile der politischen Landschaft. Im Kontext des bundesrepublikanischen Korporatismus erlangt der Verbandskatholizismus, v. a. die Christlichen Arbeitnehmer-Organisationen, bis in die 1970er Jahre hinein durch die Verzahnung zwischen CDU bzw. dem einflussreichen Parteiflügel der CDA und Verbänden eine einzigartige politische Einflussnahme in der Gesetzgebung, u. a. im Siedlungs-, Bau-, Sozialversicherungs- und Bildungswesen, in der Familienpolitik, Altersvorsorge und Regelungen der betrieblichen und überbetrieblichen Mitbestimmung. Im Zuge des Ausbaus des Sozialstaates werden zahlreiche Familienferien- und Bildungsstätten gebaut, die Angebote der Arbeits- und Sozialrechtsberatung ausgebaut und Vereins- und Verbandsstrukturen reformiert.
Dass diese Phase nicht ohne Konflikte und tiefe Brüche einhergeht, belegen u. a. die Auseinandersetzung um den Kurs der Einheitsgewerkschaft (DGB) und die Wiedergründung der „Christlichen Gewerkschaften“ (ab 1955 Christlicher Gewerkschaftsbund Deutschlands) auf Betreiben führender Repräsentanten der KAB.
Individualisierung und Pluralisierung, geänderte politische Machtverhältnisse in den 1970er Jahren, das Abschmelzen des katholischen Milieus (Katholizismus)und der klassischen Arbeitnehmerschaft durch Deregulierung und Flexibilisierung sowie die Reformen gemeindlicher Strukturen bedeuten für die Christlichen Arbeitnehmer-Organisationen verstärkt ab Mitte der 1980er Jahre große Herausforderungen, da die vormaligen sozialstrukturellen und milieuspezifischen „Selbstverständlichkeiten“ der verbandlichen Arbeit verloren gehen bzw. Einschnitte zu verzeichnen haben. Ebenso stellt die europäische und internationale Entwicklung nach 1990 neue Anforderungen. Die Organisationen reagieren darauf, indem sie u. a. zeitgemäße Themen (z. B. ökologische Fragen, Arbeitslosigkeit, Europa, internationale Gerechtigkeit) erschließen, ihr internationales Profil schärfen, eine parteipolitische Öffnung vollziehen, Verbandsstrukturen straffen, ihre Presse- und Öffentlichkeitsarbeit modernisieren und die Angebote und Dienstleistungen erweitern.
Mit ca. 245 000 Mitgliedern sind das Kolpingwerk und mit ca. 125 000 Mitgliedern die KAB – neben und in Zusammenarbeit mit anderen christlichen Organisationen – heute weiterhin wichtige politische Sozialverbände und Interessenvertretungen, die zu Beginn des 21. Jh. daran mitarbeiten, „die Wirtschaft in den Dienst der Völker zu stellen“ und eine „gerechte Verteilung der Früchte der Erde und der menschlichen Arbeit“ (Papst Franziskus 2015: 3.1) Wirklichkeit werden zu lassen.
Literatur
Papst Franziskus: Ansprache beim Welttreffen der Volksbewegungen in Santa Cruz de la Sierra, (Bolivien) am 9.7.2015, 2015 • Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, Beschluss „Kirche und Arbeiterschaft“, Offizielle Gesamtausgabe, Bd. 1, Ziffer 1.4.2., 2001 • M. Hanke: Mitten in der Bewegung der Zeit. Geschichte des Kolpingswerkes, 3 Bde., 2000–2007 • M. Schäfers: Prophetische Kraft der kirchlichen Soziallehre, 1998 • C. Haffert: Die katholischen Arbeitervereine Westdeutschlands in der Weimarer Republik, 1994 • W. Schröder: Katholizismus und Einheitsgewerkschaft, 1992 • H. Ludwig/W. Schröder (Hg.): Sozial- und Linkskatholizismus, 1990 • A. Klönne: Kämpferische Selbsthilfe, 1986 • J. Aretz: Katholische Arbeiterbewegung und Nationalsozialismus, 1982 • K. Gabriel/F.-X. Kaufmann (Hg.): Zur Soziologie des Katholizismus, 1980.
Empfohlene Zitierweise
M. Schäfers: Christliche Arbeitnehmerorganisationen, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Christliche_Arbeitnehmerorganisationen (abgerufen: 07.10.2024)