Christlich-Soziale Bewegung

  1. I. Geschichtlicher Überblick
  2. II. Theologische und sozialethische Grundlagen

I. Geschichtlicher Überblick

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In Deutschland war die C.-S.B. das Ergebnis der produktiven Auseinandersetzung der romantisch-universalistischen, dann bes. der naturrechtlich-theistischen Philosophie mit den verheerenden Auswirkungen der napoleonischen Kriege und der beginnenden Industrialisierung (Industrialisierung, Industrielle Revolution) auf die mittleren und unteren Schichten der Gesellschaft. Ein Jahrzehnt vor Karl Marx trat der Bergrat und Münchner Philosoph Franz von Baader für die Verbesserung der Lage der „Proletairs“ ein, die eine eigene „Repräsentation“ im Staat erhalten sollten. Adam Müller wollte die Schäden der Gesellschaft durch die Rückbesinnung auf die korporativen Kräfte des Mittelalters heilen. Die romantische Sozialkritik fand Fortsetzung in den Vorschlägen einer ständischen Sozialreform. Der seit 1864 in Österreich wirkende Publizist Karl Freiherr von Vogelsang entwickelte sie mit gleichgesinnten Konservativen (Karl Fürst von Löwenstein, Aloys Prinz von und zu Liechtenstein, Gustav von Blome, Andreas Frühwirth u. a.) in vielen Schriften, Gesprächen und Zusammenkünften (Haider Thesen 1884). K. Vogelsang gab das Zinsverbot als noch geltende Lehre der Kirche aus. Er wollte einen neuen Zusammenhalt der Gesellschaft durch praktiziertes Christentum, korporative Gliederungen der Selbstverwaltung in Landwirtschaft (Land- und Forstwirtschaft), Handwerk und Industrie und ein die ständischen Organe zusammenführendes Parlament erreichen. Seine Ideen beeinflussten das Programm der CSP in Wien (Franz Schindler), deren Aufbau und Programmatik wiederum die Sozialgesetzgebung und Sozialreform in Österreich (ab 1883) und die ersten christlichen Parteibildungen in den südosteuropäischen Ländern der Donaumonarchie (Volksparteien, „Christlicher Sozialismus“ in Ungarn, Böhmen und Mähren, Galizien, Kroatien und Slowenien).

In Belgien hingegen entwickelte sich ein das kapitalistische System (Kapitalismus) hinnehmender liberaler Katholizismus (Charles Périn in Löwen), der zur Linderung der sozialen Nöte auf die Patronage der Fabrikbesitzer (Léon Harmel, Franz Brandts u. a.) setzte. Die Mitte zwischen diesem die Privatinitiative favorisierenden, kapitalismusfreundlichen „Liberalkatholizismus“ (Vogelsang) und der auf Systemänderung zielenden romantischen und ständisch-konservativen Sozialkritik hielt die vom Zentrum im Reichstag entwickelte sozialpolitische Linie. Hatten im Vormärz schon Franz Joseph Ritter von Buß und der Jurist Peter Reichensperger den Missstand der Kinderarbeit kritisiert, so regte das Zentrum seit 1877 (Ferdinand von Galen, Georg von Hertling, Franz Hitze) eine der Lösung konkreter Probleme zugewandte Arbeitergesetzgebung an. Die Forderung nach einer angemessenen Staatsintervention, die Zusammenarbeit mit der Regierung und mit den Parteien des Reichstags sowie die Strategie, die industrielle Entwicklung und deren kapitalistische Begleiterscheinungen in richtige Bahnen zu lenken, statt sie systemstürzend zu verwerfen oder kritiklos zu befürworten, trugen Früchte in der Verabschiedung der Krankenversicherung der Arbeiter (1883), der Unfallversicherung (1884), der Alters- und Invaliditätsversicherung (1889). Die Versicherungsleistungen wurden damit begründet, dass der Arbeiter wegen seines natürlichen Existenzrechts als geistig-leibliche Person Anspruch auf den vollen Arbeitslohn, d. h. auf Unterhalt auch im Falle von Krankheit und Alter, habe und dass die Unternehmer an diesen Leistungen aus Solidarität erheblich zu beteiligen seien. Das Zentrum sah sich bestätigt durch die Enzyklika „Rerum novarum“ Papst Leos XIII. (1891), die vorbereitet war durch die Union de Fribourg, einen in Fribourg/Schweiz 1883 zusammengetretenen Ausschuss katholischer Sozialwissenschaftler. In sie flossen geistige Anregungen aus der Sozialphilosophie des sich international ausbreitenden Neuthomismus (Luigi Taparelli d’Azeglio, Pierre Mandonnet u. a.) ein. „Rerum novarum“ wies den pragmatischen Weg der Verbesserung der Lage der Arbeiter durch gerechte Entlohnung, Staatsintervention für die Schwachen, Arbeiterschutz, Selbsthilfe der Arbeiter und internationale Regelung des Arbeitsrechts. Die Enzyklika gab in katholischen Ländern einen wichtigen Anstoß zur Sozialgesetzgebung und zur katholischen Vereins- bzw. Parteibildung. Blieb das Streben nach einer neuen gegliederten oder „korporativen“ anstelle der „atomisierten“ Gesellschaft auch unerfüllt, so schuf sich die C.-S.B. neben den liberalen, konservativen und sozialdemokratischen Bewegungen eine politische Legitimation dadurch, dass sie differenzierte soziale Forderungen in das politische Leben einführte (Wilhelm Emmanuel von Ketteler schon 1848 unter Berufung auf Thomas von Aquin) und mit den von ihr getragenen katholischen Vereinen und Parteien (Christliche Parteien) nachhaltige Präsenz in der Gesellschaft gewann. Während die katholischen (und evangelischen) Arbeitervereine an der konfessionellen Bindung festhielten, begriffen sich die 1894 gegründeten interkonfessionellen christlichen Gewerkschaften (Christliche Arbeitnehmerorganisationen) mehr als Interessenvertretungen. Sie bildeten ein zunächst von kirchlicher Seite zu wenig gewürdigtes (Gewerkschaftsstreit 1900–1912), doch notwendiges Gegengewicht gegen die zahlenmäßig weit überlegenen Freien (sozialdemokratischen) Gewerkschaften. Auch der Volksverein für das katholische Deutschland (1890–1933) widmete einen beachtlichen Teil seiner Schulungsarbeit der Auseinandersetzung mit den sozialistischen Lehren (Sozialismus).

Anders als die Freien Gewerkschaften der SPD konnten die christlichen Gewerkschaften ihre Partei, das Zentrum, nach 1918 nicht einfach zur Umsetzung ihrer sozialen Forderungen benutzen. Die Trennung zwischen gesellschaftlichem Verband und Partei musste aufrechterhalten werden, schon weil das Zentrum in seinem Bestreben, als Kraft der Mitte Einfluss zu üben, auf Koalitionen mit wechselnden Partnern angewiesen war und auf deren Ziele Rücksicht nehmen musste. Ein Erfolg der großen Koalition von der SPD über das Zentrum bis zur DNVP war die Verabschiedung des AVAVG (1927). Der Gewerkschaftsführer Adam Stegerwald war bestrebt, einerseits die „christliche Arbeiterschaft“ als maßgeblichen und selbstbewussten Faktor des Wirtschaftslebens zu erhalten, andererseits sie zum Dienst am Gemeinwohl zu erziehen und so dem Volk und Staat einzugliedern. Tatsächlich fungierte sie in der Krisenrepublik von Weimar „als Stabilitätsanker des Gemeinwesens“ (Forster 2003: 680). Der zeitweise übertriebenen Gemeinschaftsidee der C.-S.B. mag zuzuschreiben sein, dass nach 1933 trotz der Aufhebung der christlichen Gewerkschaften dort die Illusion vom möglichen Umbau des Staates im Sinne einer berufsständischen Ordnung aufkam, die während der Weimarer Republik nicht verwirklicht worden war.

Nach 1950 wurden die christlich-sozialen Gruppierungen im sozialdemokratisch ausgerichteten DGB zurückgedrängt. Die ehemaligen christlichen Gewerkschafter, die jetzt den Sozialausschüssen der CDU angehörten und der 1959 ins Leben gerufene CGB, konnten für die Unionsparteien den Verlust der gesellschaftlichen Vorhut nicht wettmachen. Publizistisch vernehmbare und wissenschaftlich wohlerwogene christlich-soziale Stellungnahmen zu den neuen gesellschaftlichen Problemen unterstrichen die Bedeutung der Familie sowie die „Ordnungsfunktionen“ des von der Person verantwortlich genutzten Privateigentums und der Autorität des Staates, der als „Träger des Gemeinwohls“ die „Interessentengruppen“ einzudämmen berufen sei (Rauscher 1988: 22).

II. Theologische und sozialethische Grundlagen

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Zum Profil der C.-S.B. zählt, dass sich Christen in gesellschaftliche, politische und ökonomische Bereiche einmischen – und dies als Glaubenspraxis verstehen. Dies ist keineswegs selbstverständlich. Innerhalb des Christentums gab es immer wieder Bewegungen, die ein „geistiges“ Christentum anstrebten und sich von der Welt abschotteten. Von außen nehmen v. a. seit Beginn der Neuzeit die Bestrebungen zu, strikt zwischen Glaube und Politik zu trennen und den Glauben in den privaten Bereich zu „verbannen“. Totalitäre Regime wollen sich dadurch vor „gefährlichen“ Einflüssen schützen. In liberalen Staaten wird mit Bezug auf die weltanschauliche Neutralität eine religiös motivierte Einmischung abgelehnt. Diese Beschränkung kann sowohl aus theologischer als auch aus sozialethischer Sicht entkräftet werden.

1. Biblisch-theologische Grundlagen

Wenn sich Christen in gesellschaftliche, politische und ökonomische Bereiche einmischen, ist dies für den christlichen Glauben nicht nachrangig. Die biblischen Texte weisen immer wieder darauf hin, dass die Verheißung von Heil und Befreiung eine soziale Dimension hat und den Einsatz für mehr Gerechtigkeit einschließt. Diese Praxis wird als Nachvollzug des Handelns Gottes verstanden. Die inkarnatorische Grundstruktur des christlichen Glaubens legt nahe, Glaube und Welt, Heils- und Weltdienst, Mystik und Politik weder auseinanderzureißen noch miteinander zu vermischen. Nicht vermischt werden dürfen diese Bereiche, um nicht die Hoffnung stiftende Spannung zwischen dem „Schon“ und dem „Noch nicht“ von Gottes Reich ruhigzustellen. Nicht getrennt werden dürfen sie, weil Gott in Jesus Christus die Welt und die Menschheit leibhaftig angenommen hat. Deswegen ruft das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) Christen dazu auf, „mit der Menschheit und ihrer Geschichte wirklich engstens verbunden“ zu sein; „nichts wahrhaft Menschliches“ soll ihnen fremd sein; „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, vor allem der Bedrängten“ sind zu teilen (GS 1); die „Zeichen der Zeit“ (GS 4) gilt es zu analysieren, „im Lichte des Evangeliums“ zu deuten und als Herausforderung für die Gesellschaftsgestaltung zu verstehen. Das Konzil stärkt auch die Eigenverantwortung der einzelnen Christen. Bewegungen, Gemeinschaften und Verbände werden nicht mehr – wie noch bei der Katholischen Aktion – als „verlängerter Arm“ des kirchlichen Amtes angesehen. Gewissen und Freiheit des einzelnen Christen erhalten das ihnen gebührende Gewicht (GS 16 f.).

2. Engagement für gerechte Strukturen

Die heutige Gestalt des sozialen und politischen Engagements von Christen hat seine Ursprünge in den Umbrüchen seit dem Ende des 18. Jh. Bis in diese Zeit wurde die christliche Weltverantwortung vor allem als Ausgestaltung des gesellschaftlichen Lebens innerhalb der bestehenden sozialen Ordnung verstanden. Eine Konsequenz der Transformationsprozesse war, dass die sozialen Normen, Institutionen und Ordnungen als zu gestaltende „Konstrukte“ in den Blick rückten. So hat die C.-S.B. im 19. Jh. nach einem langen Diskussionsprozess erkannt, dass die sozialen Folgen des Wirtschaftsliberalismus nicht allein mit „christlichen Liebesdiensten“ zu beheben sind, sondern grundlegende Anfragen an die Institutionen und Strukturen darstellen. Vor allem die Überwindung der Rechtlosigkeit der Arbeiter und ihrer totalen Abhängigkeit vom Fabrikherrn wurde als Herausforderung angesehen. Lehramtlich wurde dieser Anspruch zum ersten Mal in der 1891 veröffentlichten Sozialenzyklika Rerum novarum (Sozialenzykliken) formuliert.

3. Dialogfähigkeit und Übersetzungsarbeit

Das Zweite Vatikanische Konzil spricht von einem „Dialog mit allen Menschen“, der „zum Aufbau einer wahrhaft friedlichen Welt“ (GS 92) beitragen soll. In plural strukturierten Gesellschaften erfordert dies die Bereitschaft und Kompetenz, aus der christlichen Binnenmoral stammende Überzeugungen in eine „Sprache“ zu „übersetzen“, die für alle, also auch für Nicht-Christen, verständlich und vernünftig ist. In der katholischen Soziallehre haben die Sozialprinzipien diese Funktion.

In einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft ist es zudem wichtig, die „Zeichen der Zeit“ mit wissenschaftlich anerkannten Mitteln zu erkunden. Das Zweite Vatikanische Konzil spricht hier von der „Autonomie der irdischen Wirklichkeiten“ (GS 36). Demnach ist es auch nicht sinnvoll, von einem Gebäude feststehender, immer gültiger Doktrinen auszugehen und die Welt zu „belehren“. Vielmehr gilt es bei der konkreten Situation anzusetzen und im Dialog mit anderen gesellschaftlichen Gruppen um angemessene, von allen vertretbare Lösungen zu ringen – mit dem Ziel, das Wohl des konkreten Menschen zu fördern.

Die C.-S.B. ist daher schon deswegen kein monolithischer Block, sondern ein plurales Gebilde, weil es in vielen politischen Fragestellungen nicht die christliche Position geben kann. Das Zweite Vatikanische Konzil hat diesen inner-christlichen Pluralismus ausdrücklich anerkannt (GS 43).

4. Bereicherung des liberalen Staates

Dass sich Christen aus ihrem Glauben heraus gesellschaftlich und politisch engagieren, ist auch aus der Perspektive eines weltanschauungsneutralen Staates sinnvoll und notwendig. Zu denken ist hier an das so genannte „Böckenförde-Theorem“, nach dem der liberale Staat von Quellen lebt, die er selbst nicht garantieren kann. Wenn Christen sich in Gesellschaft und Politik einbringen, tragen sie zu jenem Grundkonsens bei, der für den sozialen Zusammenhalt von zentraler Bedeutung ist. Zudem darf die weltanschauliche Neutralität des Staates nicht als Verallgemeinerung einer säkularistischen Weltsicht verstanden werden. Weder darf religiös motivierten Positionen ein Geltungsanspruch abgesprochen noch darf gläubigen Mitbürgern das Recht bestritten werden, „in religiöser Sprache Beiträge zu öffentlichen Diskussionen zu machen. Eine liberale politische Kultur kann sogar von den säkularisierten Bürgern erwarten, dass sie sich an Anstrengungen beteiligen, relevante Beiträge aus der religiösen in eine öffentlich zugängliche Sprache zu übersetzen“ (Habermas 2005: 115). Der zunehmende religiöse Pluralismus ist daher nicht zwangsläufig ein Argument für eine Privatisierung der Religionen. Vielmehr sollte er Anlass dazu sein, im öffentlichen Raum eine interreligiöse Dialogfähigkeit zu fördern, die zwischen unterschiedlichen, konfessions- und religionsgebundenen Standpunkten zu vermitteln versteht. Nicht die negative Religionsfreiheit des vermeintlich neutralen, religionslosen Standpunktes ist dann das Ziel, sondern die positive Religionsfreiheit, die auf die interreligiöse Mitgestaltung des öffentlichen Raumes vertraut.