Anthroposophie

A. (griechisch ánthrôpos – Mensch, sophía – Weisheit) bezeichnet eine von Rudolf Steiner gegründete esoterische Weltanschauung und Gemeinschaft. Den Begriff A. übernahm er wohl von dem Herbartianer Robert Zimmermann sowie Immanuel Hermann Fichte, Sohn des Philosophen Johann Gottlieb Fichte. Letzterer war Gegenstand von R. Steiners Dissertation 1891. Der vormalige Goethe-Editor und Nietzsche-Archivar R. Steiner formulierte ab 1902 eine esoterische Weltanschauung mit epistemologischem Vorbau und wissenschaftlichem Selbstverständnis, wie es für die moderne Esoterik typisch ist. Die „Geisteswissenschaft“ A. erstrebt Einsicht in komplexe „höhere Welten“: Werden diese erkannt, lassen ihre Gesetze sich zum Wohl von Mensch und Erde anwenden, die so zugleich ihren geistigen Ursprung wiederfinden. Im Hintergrund steht hier die Annahme einer kosmischen, von Geistern und Engeln gelenkten Evolution, in welcher der Planet Erde sieben Stadien durchläuft. Die gegenwärtige Erde ist als vierte Stufe vom geistigen Anfang und Ziel der Evolution am weitesten entfernt. In diesem Stadium obliegt es der vom „Sonnengeist“ Christus angeführten Menschheit, den Wiederaufstieg zu spirituelleren Daseinszuständen einzuleiten und dämonischen Mächten (Ahriman, Luzifer, Asuras) zu widerstehen. Diese Menschheit entwickelt sich auf wechselnden Kontinenten (z. B. Atlantis) und durch die sukzessive Entfaltung diverser „Rassen“ und „Kulturepochen“, die sich linear und eurozentrisch abspielt. Die menschlichen Individuen partizipieren an der Gesamtentwicklung durch Reinkarnation und Karma. Mit diesen Theoremen variierte R. Steiner um 1900 gängige esoterische Vorstellungen aus dem Umfeld der Theosophie Helena Blavatskys. Die deutsche Sektion der Theosophischen Gesellschaft Adyar hatte er nach 1900 mit aufgebaut, 1913 spaltete er die Anthroposophische Gesellschaft ab. Gegenüber der fernöstlich ausgerichteten Theosophischen Gesellschaft sollte die A. eine spezifisch christliche und deutsche Esoterik darstellen. Die kulturelle Selbstverortung entwickelte sich während des Ersten Weltkriegs zu einer deutschnationalen Stoßrichtung, die in Spannung zu universalistischen Absichten steht. Aus dieser doppelpoligen politischen Ausrichtung ergab sich in der Geschichte der A. eine wechselnde Affinität zu rechten und linken Bewegungen. Zentral ist dabei die Ablehnung von Materialismus und Technizismus, die dem Dämonen Ahriman und einer angenommenen okkulten Weltverschwörung (Verschwörungstheorien) hinter dem „Angloamerikanertum“ zur Last gelegt werden. Nach dem Krieg formulierte R. Steiner seine Entwürfe zur Gesellschafts- und Lebensreform, zunächst die gegen Woodrow Wilsons „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ gerichtete „Dreigliederung des Sozialen Organismus“. Deren romantisch-organischem Gesellschaftsverständnis (Politische Romantik) zufolge besteht das Soziale aus den Teilbereichen „Rechtsleben“, „Wirtschaftsleben“ und „Geistesleben“, denen die Ideale „Gleichheit“ (Recht), „Brüderlichkeit“ (Wirtschaft) und „Freiheit“ (Geist) zugehören. Impliziert sind die Dominanz des „Geisteslebens“ und eine Beschränkung der Demokratie auf das „Rechtsleben“. Nach gescheiterter Agitation für die Dreigliederung gründete R. Steiner ab 1919 meist auf Anregung von außen sukzessive die sogenannten anthroposophischen Praxisfelder: Waldorf- und Heilpädagogik, anthroposophisch erweiterte Medizin, Christengemeinschaft, biologisch-dynamische Landwirtschaft. Auch in den Künsten von der Architektur zum Tanz („Eurythmie“) wurde die A. den Vorgaben R. Steiners gemäß rezipiert. Nach seinem Tod 1925 kam es im Vorstand der 1923 neu gegründeten Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft (Sitz: Dornach, Schweiz) zu schwerwiegenden Konflikten. Die Dissidenten wurden 1935 ausgeschlossen, fanden aber über die Jahre wieder in die Dachorganisation zurück. Ebenfalls 1935 wurde die Anthroposophische Gesellschaft im nationalsozialistischen Deutschland verboten. Das Verhältnis der Anthroposophen zum NS-Staat war gespalten: R. Steiners Nationalismus und Antisemitismus konnten (von einer Majorität) als Parallele zum Nationalsozialismus, sein Spiritualismus aber auch als Gegenmodell zu biologistischer Rassenlehre verstanden werden. Teile der Nazi-Elite bekämpften jede Form von Esoterik, andere, v. a. um Rudolf Hess, förderten jedoch anthroposophische Praxisfelder auch nach 1935: Einige Waldorfschulen sollten als „Versuchsschulen“ weitergeführt werden, die biologisch-dynamische Landwirtschaft fand eine breite nationalsozialistische Förderung. Zum Verbot kam es 1941 nach R. Hess’ Englandflug im Rahmen der Gestapo-„Aktion gegen Geheimlehren“. Viele Anthroposophen emigrierten und leisteten damit der Internationalisierung der A. Vorschub. Personellen Zufluss und intellektuelle Anerkennung erhielt die A. durch die Achtundsechziger-Bewegung. Joseph Beuys steht mit seiner Verbindung von Aktionskunst und Politik für das gesellschaftliche Engagement der jüngeren A. Einflüsse auf die frühen GRÜNEN (Bündnis 90/Die Grünen) gehören dazu ebenso wie der ungebrochene Einsatz für Plebiszite und ein „bedingungsloses Grundeinkommen“. Die Verbreitung anthroposophischer Institutionen ist eine globale Erfolgsgeschichte: Mehr als 1 000 Waldorfschulen, Marken wie „demeter“ (biologisch-dynamische Landwirtschaft) und „Weleda“ (anthroposophische Medizin, Kosmetik) profitieren vom alternativen Zeitgeist. Es gibt anthroposophische Verlage, Krankenhäuser, Stiftungen, Banken und in Deutschland vier akkreditierte Hochschuleinrichtungen. Zugleich überaltert die Anthroposophische Gesellschaft, die Mitgliederzahlen sind seit 1989 rückläufig. Um das Deutungsmonopol zu R. Steiners Vorgaben streitet das stagnierende, aber organisatorisch dominante orthodox-anthroposophische Milieu mit einer heterogenen liberalen Strömung. Bei letzterer wird R. Steiners esoterische Kosmologie zugunsten einer Übergewichtung seiner philosophischen Frühschriften verdrängt.