Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen

Religion, Glaube und Kirche sind öffentliche Phänomene. Da Religion und Glaube den ganzen Menschen, sein Handeln und Wirken ansprechen und berühren, lassen sie sich nicht auf die Sphären der Innerlichkeit, Privatheit („Religion ist Privatsache“) oder Abgegrenztheit („Kirche in die Sakristei!“) reduzieren. Speziell der christliche Glaube will in aller Öffentlichkeit (s. nur Mt 10,27) und universal verkündet sein (Mt 28,18–20).

1. Begriffsprägung

Vor dem Hintergrund des sogenannten Kirchenkampfes in den 1930er Jahren prägte der reformierte Theologe Alfred de Quervain die Formel vom „Öffentlichkeitsanspruch des Evangeliums“ (1939). Damit hatte der von der Barmer Bekenntnissynode 1934 formulierte „Auftrag der Kirche, in welchem ihre Freiheit gründet“, nämlich: „an Christi Statt und also im Dienst seines eigenen Wortes und Werkes durch Predigt und Sakrament die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk“ (so die 6. These), eine prägnante Umschreibung erfahren. In der frühen Nachkriegszeit unternahmen protestantische Theologen (Helmut Thielicke) wie Juristen (Rudolf Smend) eine nähere Verhältnisbestimmung von „Kirche“ und „Öffentlichkeit“. Der ab den 1950er Jahren üblich gewordene Begriff „Ö.“ umfaßte sowohl den (theologisch begründeten) kirchlichen Anspruch auf umfassende Verkündigung als auch die (rechtlich gefasste) Absicherung kirchlichen Wirkens in Staat und Gesellschaft. Damit verbunden war eine gewisse Akzentverschiebung von einer tendenziell staatskritischen theologischen Selbstvergewisserung („Wir sind versucht, das Licht des Evangeliums abzublenden aus Furcht davor, Aergernis zu erregen. […] Ihr schweigt, wo ihr reden solltet, verstummt, sobald man euch schweigen heißt; so geht keine Kraft mehr aus von der Verkündigung der Kirche“, so A. de Quervain (1939: 5) zu einem staatszugewandten, die gemeinsame Verantwortung für das Gemeinwohl betonenden Zugriff.

2. Kirche und Öffentlichkeit

Der kirchliche Verkündigungsauftrag besteht nicht allein in der Darlegung und Verbreitung des Evangeliums, sondern auch darin, Ereignisse und Zustände in der Welt am Maßstab des Evangeliums zu bewerten und, wo nötig, dessen Beachtung anzumahnen. Unter Verweis auf prophetische Schriften des AT (Jes 62,6; Jer 6,17; Ez 33,1–9) und gestützt auf Aussagen der Reformatoren schrieben protestantische Autoren der Kirche ein (prophetisches) „Wächteramt“ (Klostermann 2000: 183) in dem Sinne zu, dass sie die Obrigkeit stets an ihre Verantwortung vor Gott zu erinnern habe. In ähnlicher Weise vertrat die katholische Kirche in der Neuzeit die Lehre von der potestas indirecta (heiliger Robert Bellarmin) bzw. potestas directiva (Papst Leo XIII.) in temporalibus. Demnach hat das kirchliche Lehramt der weltlichen Rechts- und Sozialordnung (nur, aber immerhin) die grundlegenden sittlichen Maßstäbe aufzuzeigen, die sich aus dem Evangelium sowie dem Naturrecht ergeben.

2.1 Evangelische Sicht

Grund, Modalitäten und Grenzen des Ö.s sind unverändert Gegenstand interner Selbstvergewisserung des deutschen Protestantismus. Kirchenamtlich stehen dafür die Denkschriften „Aufgaben und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen“ (Rat der EKD 1970) sowie „Das rechte Wort zur rechten Zeit“ (Rat der EKD 2008), welche die Kriterien zu erfassen suchen, warum die Kirche aus welchem Anlass, unter welcher Perspektive, gegenüber welchem Adressatenkreis eine Stellungnahme in einer Frage öffentlichen Interesses abgibt. In Anbetracht des gewachsenen gesellschaftlichen Pluralismus wie der zunehmenden innerprotestantischen Pluralität lässt sich wohl keine trennscharfe Typologie entwickeln. So realisiert sich heute der Ö. in den unterschiedlichsten „Formaten“: „in der Form der Predigt, in Kanzelabkündigungen und synodalen Kundgebungen, in Worten, Stellungnahmen, Erklärungen und Denkschriften, in Interviews und Pressemitteilungen, auf Kirchentagen und Akademien, in Talkshows und in Gesprächskreisen“ (Rat der EKD 2008: Nr. 28).

Von einem allgemeinen „politischen Mandat“ hebt sich der Ö. dadurch ab, dass er im umfassenden Verkündungs- und Sendungsauftrag Christi verwurzelt ist sowie dem Kriterium der „Schrift- und Sachgemäßheit“ genügt (Rat der EKD 1970: Nr. 32; Rat der EKD 2008: Nr. 27). Äußert sich die Kirche zu politischen und gesellschaftlichen Fragen, hat sie „das christliche Verständnis vom Menschen und von der Welt aus evangelischer Perspektive“ zu entfalten (Rat der EKD 2008: Nr. 13). Mit dieser Zielsetzung sieht sich die EKD in „Mitverantwortung für das Gemeinwesen“ (Rat der EKD 2008: Nr. 22), für dessen Humanität Staat und Kirche „auf je eigene Weise sowie mit je eigenen Zuständigkeiten und Mitteln“ Verantwortung wahrzunehmen hätten (Rat der EKD 2008: Nr. 16).

Die Kategorie des „Wächteramtes“ betrifft, nach heute wohl überwiegender Ansicht, allein einen außerordentlichen Fall des Ö.s, nämlich den Bekenntnisnotstand (status confessionis), in welchem die kirchliche Gemeinschaft selbst auf dem Spiel steht.

2.2 Katholische Position

Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil besteht die der Kirche (Katholische Kirche) von Christus anvertraute Sendung primär darin, den Menschen die Botschaft und Gnade Christi nahezubringen. Aus dieser religiösen Sendung fließen indes auch „Auftrag, Licht und Kraft, um der menschlichen Gemeinschaft zu Aufbau und Festigung nach göttlichem Gesetz behilflich zu sein“ (GS 42), um „die zeitliche Ordnung mit dem Geist des Evangeliums zu durchdringen und zu vervollkommnen“ (AA 5). Dementsprechend sieht sich die Kirche als berechtigt, „die sittlichen Grundsätze auch über die soziale Ordnung zu verkündigen wie auch über menschliche Dinge jedweder Art zu urteilen, insoweit die Grundrechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen dies erfordern“ (can. 747 § 2 CIC, in Anlehnung an GS 76).

Unter den Bedingungen der pluralistischen Gesellschaft ist allerdings deutlich zu unterscheiden zwischen der (vom christlichen Gewissen [ Gewissen, Gewissensfreiheit ] geleiteten) Meinungsäußerung einzelner Gläubiger und den im Namen der Kirche vorgetragenen Positionen (GS 76; GS 43 und can. 227 CIC ermahnen die Laien, ihre eigene Ansicht in Fragen, die der freien Meinungsbildung unterliegen, nicht als Ansicht der Kirche auszugeben).

Herausragende Beispiele, wie die zeitliche Ordnung im Geist des Evangeliums orientiert werden soll, sind auf universaler Ebene die päpstlichen Lehrschreiben etwa zur katholischen Soziallehre (von „Rerum novarum“ 1891 bis „Centesimus annus“ 1991) oder zum Schutz des menschlichen Lebens („Evangelium vitae“ 1995). In Deutschland hatten in der Vergangenheit v. a. die Wahlhirtenbriefe der Bischöfe Beachtung gefunden und Diskussionen angeregt (markant zur Bundestagswahl 1980). Eher beschränkt blieb hingegen die Wirkung der in den letzten 20 Jahren veröffentlichten „Gemeinsamen Worte“ von DBK und EKD (1997 zur wirtschaftlichen und sozialen Lage; 2006 zur Zukunft des demokratischen Gemeinwesens).

3. Kirche in der Öffentlichkeit

Einige Länderverfassungen der frühen Nachkriegszeit stellten explizit die Rolle und Bedeutung der Kirchen für die „Bewahrung und Festigung der religiösen und sittlichen Grundlagen des menschlichen Lebens“ heraus (erstmals 1946 Württemberg-Baden [Art. 29]). Der Begriff Ö. findet sich seit dem „Loccumer Vertrag“ mit Niedersachsen (1955) in diversen evangelischen Kirchenverträgen (zuletzt 2007 in Baden-Württemberg). Obgleich er bis in die 1960er Jahre auch in der höchstrichterlichen Rechtsprechung rezipiert wurde, ist bisher keine rechtlich greifbare Definition seines Gehalts gelungen. Die mit ihm gemeinhin verbundenen Konsequenzen und Wirkungen ergeben sich ohnedies aus expliziten Normen des Verfassungsrechts (Grundrechte und kirchliches Selbstbestimmungsrecht [ Kirche und Staat ]). Zu Recht wurde somit resümiert, Ö. fasse (lediglich) heuristisch die „diesbezüglichen grundrechtlichen und staatskirchenrechtlichen Vorschriften“ zusammen (Klostermann 2000: 70).